[653] Germanisches Nationalmuseum, ein deutsches Nationalinstitut, das den Zweck hat, die Kenntnis der deutschen Vorzeit zu erhalten und zu mehren und den Entwickelungsgang der deutschen Kultur in allen ihren Richtungen zu veranschaulichen. Es wurde 16. Aug. 1852 auf einer in Dresden unter dem Vorsitz des spätern Königs Johann tagenden Versammlung deutscher Geschichts- und Altertumsforscher auf Antrag des Freiherrn Hans v. Aufseß gegründet. Nach mancherlei Verhandlungen wurde Nürnberg zum Sitz des Museums bestimmt, das am 15. Juni 1853 eröffnet wurde, nachdem die bayrische Regierung es mit den Rechten einer juristischen Person begabt hatte. Aufseß stellte seine große Bibliothek und seine umfangreichen Sammlungen dem Museum für 10, später für 20 Jahre unentgeltlich zur Verfügung und übernahm die Leitung der Anstalt, die er bis 1862 führte.[653] 1864 wurden seine Sammlungen für das Museum angekauft. An seine Stelle trat 1. März 1866 der Architekt A. Essenwein (s.d.), der sich um den Ausbau und die Erweiterung des Germanischen Nationalmuseums große Verdienste erworben hat. Die bayrische Regierung überwacht als oberste Kuratelbehörde die Stiftung, zu deren Weiterentwickelung bisher die ganze deutsche Nation, voran die Fürsten und Regierungen, ihnen folgend Tausende aus allen Ständen ohne Unterschied des Stammes, der politischen Parteistellung und des religiösen Bekenntnisses, durch ein- und mehrmalige und durch Jahresbeiträge geholfen hat. Zu den jetzt jährlich 105,000 Mk. betragenden Verwaltungskosten trägt das Deutsche Reich 70,000 Mk., Bayern 25,876 Mk. und die Stadt Nürnberg 9133 Mk. bet. In zahlreichen Städten bestehende Pflegschaften (1904: 438) sorgen für Stiftungen und Spenden. Nach einer 1872 erschienenen, von Essenwein verfaßten Denkschrift über »die Aufgaben und die Mittel des Germanischen Museums« soll dessen Aufgabe erreicht werden: 1) durch Ausstellung möglichst reichhaltiger kunst- und kulturgeschichtlicher Sammlungen; 2) durch eine damit verbundene historische und archäologische Bibliothek sowie ein Archiv; 3) durch Katalogisierung und Nutzbarmachung der vorhandenen Schätze sowie durch Repertorien in Schrift und Bild, in denen auch wichtiges anderwärts vorhandenes Material ausgezeichnet ist; 4) durch Veröffentlichung gelehrter und populärer Schriften. Eine zweite Denkschrift (1884) berichtet über den seitherigen Fortgang und die Abrundung der Sammlungen, die noch einige Millionen Mark beansprucht.
Die kunst- und kulturgeschichtlichen Sammlungen sind in 10 Gruppen mit 43 Unterabteilungen zerlegt, die dem großen Publikum zugänglich sind. Dazu kommen die Kupferstichsammlung des Museums nebst Bilder repertorium, die Kupferstichsammlung der Stadt Nürnberg, die Paul Wolfgang Merkelsche Familienstiftung, die Münzen-, Medaillen- und Siegelsammlung, die Gewebesammlung (3600 Nummern), die Bibliothek (etwa 200,000 Bände) und das Archiv (mit etwa 10,149 Pergament- und etwa 1700 Papierurkunden, 1100 Aktenfaszikeln und etwa 14,000 Autographen), die vorzugsweise zur Benutzung für studierende Gelehrte und Künstler bestimmt sind. Die erste Gruppe umfaßt die Denkmäler von der Urzeit bis zu Ende des ersten Jahrtausends mit der wichtigen Rosenbergschen Sammlung von Steingeräten und Steinaltertümern. Die zweite Gruppe umfaßt Werke der Architektur, Bauteile und Baumaterialien, die dritte, vierte und fünfte Plastik, Malerei und graphische Künste. Die Sammlung von Fußboden- und Wandbelegplatten, von Ofen, Ofenkacheln und Schlosserarbeiten verdient besondere Beachtung. Sehr groß ist die Sammlung von Abgüssen der mittelalterlichen Monumentalplastik und der Grabdenkmäler (etwa 1500). Auch reiche Serien von Originalskulpturen, darunter viele aus der Kleinplastik, sind aufgestellt. Ein Hauptstück ist die sogen. Nürnberger Madonna (s. Tafel »Bildhauerkunst VIII«, Fig. 2). Die Siegelsammlung, die über 25,000 Exemplare zählt, erhielt 1902 durch die von Kaiser Wilhelm II. angekaufte und dem Museum geschenkte Possesche Sammlung deutscher Kaisersiegel einen wertvollen Zuwachs. Die Sammlung der Münzen und Medaillen (etwa 21,500) gehört zu den glänzendsten Partien des Museums. Malerei und graphische Künste umfassen in 15 Unterabteilungen monumentale Malerei (Mosaik-, Wand- und Glasmalerei, Tafelgemälde), Miniaturmalerei, Handzeichnungen, Kupferstiche (30,000), Holzschnitte (7000), Lithographien, Druckproben, Spielkarten, Landkarten u. a. Die Gemäldegalerie besitzt einen reichen Schatz von Bildern der altdeutschen Schulen (Dürer, Wolgemut, H. v. Kulmbach, Pencz, Altdorfer, Schäuflein, H. B. Grien u. a.) Die Denkmäler der Poesie und Musik sind der Bibliothek zugeteilt, doch bilden die musikalischen Instrumente mit den astronomischen, geographischen, mathematischen und chirurgischen Instrumenten eine eigne Abteilung, die sechste Gruppe, zu der auch die sogen. altdeutsche Apotheke, ein alchimistisches Laboratorium und das historisch-pharmazeutische Zentralmuseum, eine Gründung des deutschen Apothekervereins, gehören. Die siebente Gruppe (öffentliches Leben) umfaßt die Denkmäler des Staats- und Rechtslebens, das Kriegswesen und die Waffen. Die Waffensammlung, ca. 2300 Nummern, ist in bezug auf mittelalterliche Stücke außerordentlich reich, überhaupt durch die Erwerbung der Sulkowskischen Sammlung die lehrreichste, die existiert. Als Denkmäler des Staats- u. Rechtslebens gelten die Insignien, die uns jene Gebiete vor Augen führen. Das Museum besitzt unter anderm die Einrichtung des ehemaligen Sitzungssaales des Frankfurter Bundestags sowie die auf das 48er deutsche Parlament bezüglichen Gegenstände: die Bibliothek und eine Reihe von Dekorationsstücken und Mobilien aus der Paulskirche. Die achte Gruppe umfaßt die Denkmäler des kirchlichen Lebens, die neunte die Denkmäler des Handels, Erwerbs- und Verkehrswesens, ferner Post- und Botenanstalten, die im deutschen Handelsmuseum, einer selbständigen Stiftung des deutschen Kaufmannsstandes, vereinigt sind, sowie des Zunftwesens und die Münzen, und die zehnte Gruppe ist dem häuslichen und geselligen Leben gewidmet (Hausgeräte und Möbel, Spielgeräte, Tracht und Schmuck, bäuerliche Altertümer). Für mehrere Abteilungen sind Spezialkataloge (s. unten), für das ganze Museum ein »Wegweiser« vorhanden. 1875 übergab die Stadt Nürnberg ihre ganze, ca. 19,000 Nummern umfassende Kunstsammlung, die besonders an Kupferstichen und plastischen Arbeiten des 15. und 16. Jahrh. reich ist, ferner die Merkelsche Familienstiftung ihren gesamten Besitz an Büchern, Manuskripten, Kupferstichen etc. dem Museum zur Aufbewahrung. Das Lokal des Germanischen Nationalmuseums ist das ehemalige gotische Kartäuserkloster, das nach und nach durch Essenwein in würdigster Weise hergestellt und erweitert wurde, so daß das Museum ein kleines malerisches Stadtviertel für sich bildet. In jüngster Zeit wurde noch das ehemalige, in Rumen liegende Augustinerkloster als Anbau wieder ausgeführt, und 18971902 wurde durch Errichtung eines dreigeschossigen Südwestbaues, der im Erdgeschoß die Waffenhalle und in den beiden Obergeschossen die Sammlung bäuerlicher Hauseinrichtungen u. Trachten enthält, nach Plänen von G. v. Bezold, der gesamte Gebäudekomplex zum Abschluß gebracht. Jetziger Leiter des Museums ist Gustav v. Bezold als erster Direktor, sein Stellvertreter der zweite Direktor Hans Boesch. Organ des Museums ist der vierteljährlich erscheinende »Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums« nebst den »Mitteilungen aus dem Germanischen Nationalmuseum«. Daneben erschienen »Jahresberichte«, verschiedene »Führer« durch das Museum, Kataloge der kirchlichen Geräte, der Bauteile und Baumaterialien, der textilen Sammlung, der Glasgemälde, der Gemälde, der Spielkarten, der Kupferstiche des 15. Jahrh., der vorgeschichtlichen Denkmäler, der Bucheinbände, der Originalskulpturen, der Kunstdrechslerarbeiten, der Bronzeepitaphien, der alten[654] Originalholzstöcke, einige vom Direktorium ausgearbeitete »Denkschriften« u. a. Eine Sammlung der »Kunst- und kulturgeschichtlichen Denkmäler des Germanischen Nationalmuseums« gab Essenwein heraus (Nürnb. 1878), eine andre unter gleichem Titel erschien 1896 (90 photographische Tafeln). Vgl. auch Leitschuh, Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg (Bamb. 1890); Hampe, Das Germanische Nationalmuseum von 18521902. Festschrift zur Feier seines fünfzigjährigen Bestehens (Leipz. 1902).
Buchempfehlung
Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«
270 Seiten, 9.60 Euro