Keimung

[814] Keimung (Germinatio), das erste Auswachsen der Pflanzenkeime zu selbständigen Individuen. Bei den Kryptogamen wächst die Innenhaut der Spore unter Durchbrechung der Außenhaut zu einer mehr oder weniger langen, schlauchförmigen Zelle (Keimschlauch) aus, in die der Zellinhalt der Spore eintritt, und diese entwickelt sich dann meist unmittelbar zum Thallus bei den Pilzen und Algen, zum Vorkeim, bez. dem Prothallium (s. Farne, S. 335) bei den Moosen und Gefäßkryptogamen. Bei den Phanerogamen besteht die K. in der Weiterentwickelung des im Samen schon vorhandenen Keimlings (Embryo); sie beginnt mit dem Aufquellen des Samens infolge der Aufnahme von Wasser, und gewöhnlich berstet dann die Samenschale, bez. das Fruchtgehäuse.

Keimungsformen. Der innerhalb der Samenhaut geborgene Keim (Embryo) ist bei der Mehrzahl der Gewächse mit einem Würzelchen (radicula), und mit einem Keimsproß versehen, der oberhalb seines als Hypokotyl (hypokotyles Glied) bezeichneten ersten Internodiums ein oder mehrere Keimblätter[814] (Kotyledonen) trägt und oben mit der zum Auswachsen bestimmten Stammknospe (plumula) abschließt. Da der Keim sich vor der Entwickelung der ersten Laubblätter nicht selbständig zu ernähren vermag, so ist derselbe anfangs auf die Zufuhr organischer Nährstoffe (Stärke, Fett u. a.) angewiesen. Dieselben sind in den Keimblättern oder in einem besondern Speichergewebe (dem Endosperm, resp. Perisperm) des Samens (Fig. 1, a, b, c) enthalten, und werden nicht selten mittels eigentümlicher Saugzellen (Absorptionsgewebe, Fig. 1, d) von dem sich entwickelnden Keim aufgenommen. Der geringste Teil der Reservenährstoffe befindet sich in löslichem Zustand in den Samen, die meisten und wichtigsten in unlöslicher Form, und diese erleiden bei der K. wichtige Veränderungen. Das Stärkemehl wird durch diastatische, d. h. der Diastase (s. d.) bei der keimenden Gerste ähnliche Fermente in lösliche Kohlehydrate (Dextrin, Zucker) übergeführt. In Samen, die keine Stärke, dagegen viel fettes Öl enthalten, vermindert sich dasselbe rasch, während Stärke und Zucker erscheinen: unter Aufnahme von Sauerstoff bilden sich aus den Fetten Kohlehydrate. Die unlöslichen, geformten Eiweißverbindungen (Aleuronkörner) verschwinden gleichfalls aus den Zellen; sie werden unter Auftreten von Asparagin gespalten oder in lösliche Albuminate umgewandelt. Bei vielen Monokotylen bleibt das Keimblatt mit dem einen, zur Aufsaugung des Speichergewebes bestimmten Ende (Fig. 1, e, f, g, h, i, k, l) im Samen stecken. Bei den Gräsern, deren K. sonst dem Typus der übrigen Monokotylen folgt, sind der zur Aufsaugung bestimmte, dem Endosperm anliegende schildförmige Teil des Keimblattes (das sogen. Schildchen, scutellum, Fig. 1, c) und der die Stammknospe umschließende, die Erde als kleines Spitzchen durchbrechende Teil desselben (Keimscheide, Kotyledonarscheide, Coleoptile) scharf gesondert; auch wird die Hauptwurzel vor ihrem Durchbruch von einer besondern Wurzelscheide (coleorrhiza) umschlossen. Die wasser- und sumpfbewohnenden Monokotylen (Alisma, Typha, Potamogeton u. a.) entwickeln bei der K. ihre Hauptwurzel wenig oder gar nicht, sondern befestigen sich entsprechend ihren Standortsbedingungen möglichst schnell durch einen Kranz von Wurzelhaaren. Eine stark reduzierte Form des Embryos und der K. besitzen endlich die Orchideen, deren ungegliederter Embryo zu einem knollenartigen Stämmchen heranwächst, an dessen oberm Ende sich ein rudimentärer Kotyledon mit seitlicher Stammknospe entwickelt.

Die Dikotylen (Fig. 2, a, b, c, S. 816) bilden oberirdische, später ergrünende oder im Samen stecken bleibende, unterirdische Kotyledonen (Fig. 3, c, d); im erstern Fall, bei sogen. oberirdischer K. (germinatio epigaea), spielt naturgemäß das Hypokotyl, im zweiten, d. h. bei unterirdischer K. (g. hypogaea, Erdkeimer, Geoblasten), das oberhalb derselben die Stammknospe tragende Glied (Epikotyl) die Hauptrolle.

Fig. 1. Keimung von Monokotylen. a Längsschnitt durch ein weizenkorn, 4fach vergrößert (a Speichergewebe, ist dunkel schrafsiert), b dasselbe nach der Keimung, 4fach vergr. - c Der Keimling mit dem Schildchen im Weizenkorn, 80fach vergr. - d Saugzellen an der Oberfläche des Schildchens im Weizenkorn, 210fach vergr. - e Keimender Same der Tradescantia Virginica, f späteres Entwickelungsstadium. - g Querschnitt durch das knopfförmige, im Speichergewebe eingebettete Ende des Keimblattes, 10 fach vergr. - h Keimender Same der Sommerzwiebel (Allium Cepa), natürl. Größe. - i Derselbe im Durchschnitt, etwas vergr. - k Keimling im spätern Entwickelungsstadium, natürl. Größe, l derselbe im Querschnitt, etwas vergr.
Fig. 1. Keimung von Monokotylen. a Längsschnitt durch ein weizenkorn, 4fach vergrößert (a Speichergewebe, ist dunkel schrafsiert), b dasselbe nach der Keimung, 4fach vergr. - c Der Keimling mit dem Schildchen im Weizenkorn, 80fach vergr. - d Saugzellen an der Oberfläche des Schildchens im Weizenkorn, 210fach vergr. - e Keimender Same der Tradescantia Virginica, f späteres Entwickelungsstadium. - g Querschnitt durch das knopfförmige, im Speichergewebe eingebettete Ende des Keimblattes, 10 fach vergr. - h Keimender Same der Sommerzwiebel (Allium Cepa), natürl. Größe. - i Derselbe im Durchschnitt, etwas vergr. - k Keimling im spätern Entwickelungsstadium, natürl. Größe, l derselbe im Querschnitt, etwas vergr.

Bei oberirdischer K. (Fig. 2, a) wächst bei der Mehrzahl der Dikotylen zunächst die sich stark entwickelnde Hauptwurzel in senkrechter Richtung aus dem Samen hervor, um die Keimpflanze im Boden zu befestigen; dann beginnt der obere Teil des Hypokotyls nach aufwärts zu wachsen, wobei er gegen die noch im Samen befindlichen Kotyledonen eine bogen- oder schleifenförmige Krümmung (Fig. 2, b) annimmt. Da der Same selbst von Erde bedeckt wird und die Keimblätter meist nur lose in der Samenhaut stecken, so übt das aufwärts wachsende Keimstengelglied einen Zug aus, infolgedessen die Keimblätter aus ihrer Hülle herausgezogen werden, worauf die Geradestreckung des gekrümmten Stengelteiles erfolgen kann (Fig. 2, b, c). Das Hervorziehen der Kotyledonen wird bei vielen Kukurbitazeen (Fig. 4) durch einen einseitig entwickelten Wulst am Hypokotyl (Keimwulst) unterstützt, der sich an den untern Rand der Samenschale anstemmt. Die dikotylen Wasser- und Sumpfpflanzen sowie auch viele Fettpflanzen (Krassulazeen, [815] Kakteen) befestigen sich ähnlich wie die monokotylen Wassergewächse häufig durch einen Kranz von Wurzelhaaren anstatt durch die Keimwurzel. Unterirdische K. (Fig. 3, c u. d), bei der die Kotyledonen im Samen zurückbleiben und ausschließlich als Speicherorgane dienen, tritt bei einer Minderzahl von Dikotylen (z. B. der Kastanie, Walnuß, Mandel, Erbse u. a.) und Gymnospermen (z. B. vielen Cykadazeen) ein. Hier drängt sich bei der K. das epikotyle Stengelglied zwischen den sich verlängernden Stielen der Keimblätter hervor und erhebt sich mit ein gekrümmter Spitze (Fig. 3, c) über die Erde.

Fig. 2. Keimung von Dikotylen und Gymnospermen. a, b, c Keimung der Buche (Fagus silvatica), mit zwei Keimblättern, die bei b und c in zusammengefaltetem Zustande dargestellt sind. - d Keimung einer Tanne (Abies orientalis), mit acht Keimblättern.
Fig. 2. Keimung von Dikotylen und Gymnospermen. a, b, c Keimung der Buche (Fagus silvatica), mit zwei Keimblättern, die bei b und c in zusammengefaltetem Zustande dargestellt sind. - d Keimung einer Tanne (Abies orientalis), mit acht Keimblättern.

Bisweilen kommt ober- und unterirdische K. bei verschiedenen Arten derselben Gattung, z. B. bei Phaseolus, Rhamnus, Mercurialis u. a., vor. Die Zahl der Keimblätter beschränkt sich übrigens nicht bei allen Dikotylen auf zwei, da einige Gattungen derselben (wie Psittacanthus, Persoonia u. a.) normal 3,4 oder mehr Kotyledonen entwickeln; eine größere Anzahl derselben zeichnet auch die Abietineen (Fig. 2, d) unter den Gymnospermen aus. Als Abweichung treten bei zahlreichen Dikotylen drei Keimblätter auf. Die Form derselben wechselt bei den verschiedenen Pflanzengruppen mannigfach, doch ist sie im allgemeinen im Vergleich zu den spätern Laubblättern mehr oder weniger reduziert; in einer Reihe von Fällen steht sie mit der Form des Samens im Zusammenhang. Auch lassen sich aus ihrer Gestalt bei verwandten Arten oder Gattungen bisweilen Rückschlüsse auf die Abstammungsverhältnisse der betreffenden Pflanzen ziehen.

Von den beiden Keimblättern der Dikotylen schlägt bisweilen das eine mehr oder weniger fehl, wie bei Arten von Dentaria, Cyclamen, Pinguicula, (Carum bulbocastanum, Corydalis, Ficaria u. a.), oder beide verkümmern mehr oder weniger, wie bei vielen Schmarotzerpflanzen (s. d.). Rudimentäre Keimblätter finden sich auch bei vielen Kakteen, die möglichst schnell die für ihre Ernährung besonders vorteilhaften Fleischteile ausbilden müssen und daher ein stark verdicktes Hypokotyl entwickeln. Bei den sogen. Lebendiggebärenden Pflanzen (s. d.) gelangt der Keimling schon innerhalb der Frucht zu normaler Weiterentwickelung und trennt sich in stark gestrecktem Zustande von derselben ab. Aus der keimenden Wassernuß (Trapa natans), deren steinharte Früchte (Fig. 3, a) mit zwei Paaren kreuzweise gestellter Dornen versehen sind und sich mit den widerhakigen Spitzen derselben im Schlamm festankern, tritt zunächst das Hypokotyl als fadenartiger Körper hervor; von den beiden sehr ungleichen Keimblättern (Fig. 3, b) bleibt das eine als großer, fleischiger Körper in der Nuß stecken, während das zweite in Form einer kleinen Schuppe von dem Hypokotyl hervorgehoben wird; beide Blätter stehen durch einen langen Stiel miteinander in Verbindung, der als direkte Fortsetzung des Keimstengels erscheint; die Hauptwurzel kommt in diesem Falle nicht zur Entwickelung, sondern das Hypokotyl befestigt sich durch Wurzelfasern in der Erde.

Die Samen erlangen im allgemeinen die Keimfähigkeit mit ihrer Reise oder nach einer bei den verschiedenen Arten verschieden langen Ruhezeit. Zumeist keimen die Samen im ersten Jahr am sichersten, in den nächstfolgenden vermindert sich die Keimkraft (ausgedrückt durch die Zahl der keimenden Samen in einer bestimmten ausgesäten Menge) zuerst langsamer, dann sehr rasch.

Fig. 3. Besondere Formen der Keimung. a u. b Keimung der Wassernuß (Trapa natans), ohne Bildung einer Hauptwurzel; a die Nuß mit hervortretender Keimspitze, b späteres Stadium. - c und d Unterirdische Keimung einer Eichenart (Quercus austriaca); c in früherm, d in späterm Zustand.
Fig. 3. Besondere Formen der Keimung. a u. b Keimung der Wassernuß (Trapa natans), ohne Bildung einer Hauptwurzel; a die Nuß mit hervortretender Keimspitze, b späteres Stadium. - c und d Unterirdische Keimung einer Eichenart (Quercus austriaca); c in früherm, d in späterm Zustand.

Bei den Getreidearten geschieht dies nach 3–7 Jahren. Trockne Gemüsesamen keimten noch, obgleich sie über 100 Jahre alt waren. Die angebliche K. von Weizenkörnern aus altägyptischen Gräbern (Mumienweizen) ist eine durch absichtliche Täuschung entstandene Fabel. Unter den Kryptogamen hat man die Sporen verschiedener Ustilagineen nach 2–3 Jahren, diejenigen gewisser Marsilia-Arten nach 25–30 Jahren keimfähig gefunden.

Fig. 4. Keimungsvorgang beim Kürbis (Cucurbita Pepo). Links der ungekeimte Same, weiter rechts die ausgebildete Keimpflanze und die entleerte Samenschale. Daneben zwei verschiedene Keimungszustände mit mehr oder weniger hervortretendem Keimling, dessen Wulst sich an die Samenschale anstemmt.
Fig. 4. Keimungsvorgang beim Kürbis (Cucurbita Pepo). Links der ungekeimte Same, weiter rechts die ausgebildete Keimpflanze und die entleerte Samenschale. Daneben zwei verschiedene Keimungszustände mit mehr oder weniger hervortretendem Keimling, dessen Wulst sich an die Samenschale anstemmt.

Samen, die in allen Teilen wohlerhalten sind, kann man nicht ansehen, ob sie keimfähig sind oder nicht; es läßt sich dies nur durch den Versuch selbst, die sogen. [816] Keimprobe, die am besten in einem Keimapparat ausgeführt wird, entscheiden. Gegen schädliche äußere Einflüsse sind die Samen meist widerstandsfähiger als die entwickelte Pflanze. Trockenheit und starke Kälte werden ohne Schaden ertragen, und selbst eine vorübergehende Erwärmung auf über 60° zerstört in vielen Fällen die Keimkraft nicht.

Keimungsbedingungen. Samen und Sporen keimen nur bei Anwesenheit von freiem Sauerstoff, von Wasser und bei einem gewissen Temperaturgrad. Auch schon ein ungenügender Zutritt der atmosphärischen Luft verhindert oder stört die K.; daher rührt es, daß Samen in außerordentlichen Tiefen des Bodens nicht keimen, aber dabei oft ihre Keimfähigkeit behalten und in späterer Zeit nach tieferer Umarbeitung des Bodens ausgehen (ruhende Samen). Bodenproben aus 30 cm Tiefe, die aus 100–150jährigem Buchen- und Eichenwald entnommen wurden, lieferten bei geeigneter Behandlung Keimlinge von Ackerunkräutern und Weidepflanzen, die vor Begründung des Waldes auf dieser Stelle gewachsen waren. Als der 3 m mächtige Abraum von den alten Silberbergwerken bei Laurion in Attika fortgeschafft wurde, keimte hier in großer Menge Silene juvenalis, die heute in Kleinasien, aber nicht in Attika wild wächst. Heldreich nimmt an, daß die Samen seit Einstellung des Betriebes vor 1500–2000 Jahren unter dem Abraum sich keimfähig erhalten haben. Die untere Temperaturgrenze der K. liegt bei den gewöhnlichen Kulturpflanzen zwischen 2 und 8°, ausnahmsweise, z. B. bei Mais, Tabak, Kürbis und Gurke, auch höher (bis 18°), die obere Grenze zwischen 28 und 46°.

Die Keimdauer, d. h. die Zeit, die unter gewöhnlichen günstigen Umständen vergeht von dem Zeitpunkt an, in welchem die Keimungsbedingungen eintreten, bis zum Hervorbrechen des Keimlings aus dem Samen, ist sehr ungleich und wechselt zwischen wenigen Tagen (bei Hirse, Kresse u. a.) bis zu einem (Mandel, Pfirsich u. a.) oder zwei Jahren (Esche, Hainbuche). Die Ernährung des Keimpflänzchens geschieht zuerst ausschließlich auf Kosten der von der Mutterpflanze stammenden, im Samen aufgespeicherten Reservenährstoffe.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 10. Leipzig 1907, S. 814-817.
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