Raskólniken

[608] Raskólniken (Raskolniki, »Abtrünnige, Ketzer«, von raskól, »Kirchenspaltung«), in der Sprache der Russischen Kirche (s. d.) der gemeinsame Name für alle Sektierer und Dissidenten. Nach der Resolution über Glaubensduldung vom 30. (17.) April 1905 zerfallen sie staatsrechtlich in drei Gruppen: in Altgläubige, in Sektierer (häretische Sekten) und in Anhänger solcher Sekten, die kriminalrechtlich vom Staat verfolgt werden. Der Raskol im engern Sinn ist eine Folge der 1654 durch den Patriarchen Nikon (s. d.) vorgenommenen Revision der Kirchenbücher. Die an dieser Reform, bei der es sich nur um Äußerlichkeiten, wie andre Aussprache des Namens Jesus (Iisus statt des alten Isus) und andre Form des Kreuzschlagens, handelte. Anstoß nehmenden Altgläubigen (Starowjerzi, von stara wjera, alter Glaube) wurden 1656 u. 1666 mit dem Anathem belegt. Sie verhielten sich dauernd renitent, beharrten auf dem Verbot des Tabakrauchens, des Kaffee- und Teetrinkens und sahen insbes. in Peter d. Gr. den Antichristen. Dabei gingen sie selbst frühzeitig in zwei Gruppen auseinander. Die Popowzi (d. h. Priesterliche), die daran festhielten, daß nur geweihte Priester die Sakramente verwalten dürfen, sahen sich lange Zeit auf von der Staatskirche[608] zu ihnen überlaufende Popen (daher Blegopopowtschina, Gemeinde der durchgegangenen Popen) angewiesen, haben sich aber seit 1846 wieder eine bischöfliche Organisation schaffen können; teilweise haben sie sich heute als sogen. Jedinowjerzi (Einsgläubige) mit der Staatskirche wieder vereinigt. Die Bespopowzi (d. h. Priesterlose) zogen aus dem Raskol viel weitergehende Folgerungen. Sie verwerfen Priestertum, Kultus und Sakramente. Ihren Hauptsitz haben sie zwischen den großen Seen und dem Weißen Meer (daher Pomorjane, d. h. Meeranwohner). Ihren religiösen Mittelpunkt bildet seit 1771 der Preobraschenskijfriedhof in Moskau, wie der Rogoschskijfriedhof den für die Popowszi. Unter Nikolaus I. wurde ihnen das Verfügungsrecht über diese Stätten und die dort errichteten Kirchen genommen. 1905 ist der Zugang wieder entsiegelt worden. Die Bespopowzi haben sich in zahlreiche Sekten zersplittert, unter denen die Theodosianer (s. d.), die Philippowzi (s. d.), die Begonny oder Beguny (»Fliehende«; auch Stranniki, »Pilger«, oder Skitalzi, »Herumirrende« genannt) und die SchtschelnikiHöhlen- oder Spaltengucker«, weil sie beim Gebet nach einer Spalte blicken, durch die das Licht einfällt) besondere Erwähnung verdienen. Bei vielen Sekten ist nicht sicher zu sagen, wie weit sie noch als Absenker der Bespopowzi bezeichnet werden können. Man bezeichnet sie als geheime Sekten, nicht weil ihre Existenz der Obrigkeit unbekannt ist, sondern weil sie bei äußerlicher Anerkennung der Staatskirche geheimen Gottesdienst pflegen, und kann sie in schwärmerisch-mystische und spiritualistisch-rationalistische Gruppen einteilen. Zu den erstern gehören die Chlysten (s. d., »Geißler«, und den Artikel »Lushky«), die Skopzen (s. d., »Selbstverstümmler«), die Morelschiki (»Sich Opfernde«), die Motschalniki (»Immer Schweigende«), die Njetowzi (»Verneiner«), die Maslowzi (»Butteresser«) u. v. a.; zu den Spiritualisten, die sich selbst als »geistige Christen« (s. d.) bezeichnen, die Molokanen (s. d., »Milchleute«), die Duchoborzen (s. d., »Geistige Streiter«), die SchalóputenGeistliche Brüder«), die Nemoljaki (»Nichtbeter«), die Wosdychanzi (»Seufzende«), die ihre meisten Anhänger unter den Kosaken haben, die seit etwa 1890 im Gouvernement Kiew nachweisbaren Maljowantzi u. v. a. Endlich gehören in diesen Zusammenhang die Stundisten (s. d.). Die Angaben über die Zahl der R. schwanken zwischen 3 und 15 Millionen. Die russische Regierung ging gegen Fanatiker, wie die Skopzen, vielfach selbst auch gegen die harmlosen Stundisten energisch, zeitweise sogar grausam vor. Wohl sichern die russischen Staatsgrundgesetze auch den R. Glaubensfreiheit, aber im Widerspruch damit verbieten ihnen andre Bestimmungen, Kirchen und Kapellen zu erbauen oder zu erneuern. Auch ist ihnen jede äußerliche Kundgebung ihres Glaubens untersagt. Dazu wurden den »Abtrünnigen« die Verwaltung ihres Vermögens, das Recht, über die Erziehung ihrer Kinder zu verfügen, u. dgl. entzogen. Sind auch diese Bestimmungen im praktischen Leben jetzt größtenteils nur toter Buchstabe, so haben doch nicht selten ganze Dörfer, die nach der Methode der Dragonaden der orthodoxen Kirche zurückgebracht werden sollten, ihre ganze grausame Strenge an sich erprobt, und dem R., der nicht auf jegliche äußerliche Betätigung seines Glaubens verzichten wollte, blieb nichts übrig, als fortwährend das Gesetz zu übertreten und abzuwarten, ob er, je nach Laune der Beamten, nach Zeitverhältnissen und Instruktionen, verurteilt ward oder unbeachtet blieb. Unter Nikolaus I. wurden die R. als »gewöhnliche Verbrecher« behandelt, unter Alexander II. nur der Übertritt zum Raskol als »Verbrechen« gestempelt, und das unterm 1. Mai 1874 allerhöchst bestätigte Reichsgutachten, betreffend die Regeln über die Zivilstandsregister für Ehen, Geburten und Todesfälle der R., erkennt sogar eine von Sektierern geschlossene Ehe als gesetzlich an, wenn sie bei den hierzu verordneten Zivilstandsregistern angemeldet wurde. Unter Alexander III. hat man auch eine Regelung ihrer anderweitigen Rechte und Pflichten, ihres Gottesdienstes etc. (wobei man jedoch einen strengen Unterschied zwischen den schädlichen und unschädlichen Sekten macht) ins Auge gefaßt. Gleichwohl sind die Maßregeln der Regierung den R. gegenüber fortdauernd schwankend und unbestimmt geblieben. Die Resolution von 1905 bestimmt, daß die Gesetze, die das Recht zum Abhalten öffentlicher Gottesdienste gewähren und Kultfreiheit sichern, auch die Altgläubigen und die nicht kriminalrechtlich verfolgten Sektierer einschließen. Ein am 30. Okt. 1906 veröffentlichter Erlaß gestattet ihnen die Bildung von Kirchengemeinden, den Bau von Kirchen und die Wahl von Geistlichen. Wie weit diese Verfügung die Lage der R. tatsächlich beeinflussen wird, bleibt abzuwarten. Der Protest der R. gilt dem ganzen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zerfall. Selbst die sittliche Reformbewegung nimmt in Rußland gewöhnlich sektiererische Formen an. So trat 1880 ein Bauer mit Namen Basil Soutaiew als Sektenstifter auf, eine großartige Organisation der christlichen Liebestätigkeit in sozialistischem Sinn anstrebend. An ihn schloß sich der Schriftsteller Graf Tolstoi an, während die rein religiöse Bewegung eines andern Mitgliedes der hohen Gesellschaft Petersburgs, Paschkow, weil sie des sozialistischen Prinzips entbehrte, keinen Erfolg hatte. Vgl. außer der beim Artikel »Russische Kirche« angeführten Literatur Makarij, Geschichte des russischen Raskols (russ., Petersb. 1859); Liwjanow, R. und Strafgefangene (russ., das. 1872–73, 4 Bde.); Juzow, Die russischen Dissidenten (russ., das. 1881); v. Gerbel-Embach, Russische Sektierer (Heilbr. 1883); Tsakin, La Russie sectaire (Par. 1888); Frank, Russische Selbstzeugnisse, Bd. 1, Anhang (Paderb. 1889); Knie, Die russisch-schismatische Kirche (Graz 1893); Smirnow, Geschichte des russischen Raskols des Altritualismus (russ., 2. Aufl., Petersb. 1895); Gehring, Die Sekten der russischen Kirche (Leipz. 1898); Graß, Die russischen Sekten (das. 1906 ff.) und die »Hefte zum christlichen Orient« (Berl. 1904 ff.). Von Interesse zur Kenntnis der R. sind die kulturgeschichtlichen Romane von Melnikow (s. d.). S. die Artikel über die einzelnen Sekten.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 608-609.
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