[464] Geheimschrift ist im Gegensatz zu der in offener Sprache abgefaßten Klarschrift eine Schrift aus Chiffren, d. h. aus Buchstaben, Zeichen oder Zahlen mit geheimer Bedeutung (eigentliche Chiffreschrift, auch kurz bloß »die Chiffre«, auch wohl »das Chiffre«, G. in chiffrierter Sprache), ferner eine Schrift aus solchen Wörtern, die einzeln für sich zwar einen offenkundigen Sinn, in Wirklichkeit aber eine verabredete Bedeutung haben (Codewörter, auch kurz bloß »der Code«, G. in verabredeter Sprache). Die erstere G. wird hauptsächlich von Behörden, insbes. der Diplomatie in Schreiben und Telegrammen, die letztere von Privaten (meist Kaufleuten und Industriellen) fast nur im geschäftlichen Telegrammverkehr angewendet. Das Chiffrieren, d. h. das Übertragen des zu chiffrierenden Textes der Klarschrift in die Chiffren der G. erfolgt im wesentlichen nach vier verschiedenen Systemen: 1) Buchstabenchiffre, bei der jeder Buchstabe der Klarschrift durch einen (mitunter auch zwei) andre Buchstaben, eine oder zwei andre Ziffern, d. h. einzelne Zahlzeichen, oder in Briefen durch ein beliebig gewähltes, besonders geformtes Zeichen ersetzt wird; 2) Vorsetzungschiffre, bei welcher der Text der G. die Buchstaben der Klarschrift zwar unverändert aber in einer Reihenfolge enthält, die von der üblichen Schreibweise abweicht; 3) Wort- oder Zahlenchiffre, bei der jedes ganze Wort der Klarschrift durch ein andres Wort, eine Buchstabengruppe oder eine Zahl (nicht Ziffer) ersetzt wird; 4) Codechiffre, bei der ganze Sätze, Wörterverbindungen durch ein einziges Wort ersetzt werden. Um eine G. zu dechiffrieren, d. h. aus der G. in die Klarschrift zu übertragen, muß man das System der G. und deren Schlüssel kennen; dieser gibt an, wie die Klarschrift im einzelnen er- oder versetzt ist. Der Schlüssel ist im System 1 ein einzelnes Work (Schlüssel- oder Wahlwort) oder eine Zahl (Schlüssel- oder Wahlzahl), im System 2 eine geometrische Figur oder eine mechanische Vorrichtung und in den Systemen 3 und 4 ein Buch (der Chiffre oder Code). Manche G. beruht auf einer Verbindung von zwei der aufgeführten Systeme. Die Notwendigkeit, wichtige schriftliche Mitteilungen dem allgemeinen Verständnis zu entziehen, hat bereits im Altertum den Grund zu einer Geheimschreibekunst (Kryptographie, Kryptographik, Steganographie) gelegt. Schon Herodot führt Beispiele einer nur dem Empfänger sichtbaren Schrift auf, die Spartaner hatten die von Plutarch (Lysander, 19) beschriebenen Skytale (s.d.). Julius Cäsar hatte sein eignes geheimes Alphabet; seine Methode, jeden Buchstaben durch einen andern zu ersetzen, wird heute noch bisweilen angewendet. Auch im Mittelalter befaßten sich berühmte Leute mit der Erfindung von Geheimschriften; so der bekannte Abt Johannes Trithemius, der Jesuit Kircher, Baco von Verulam, der Mathematiker Vieta, Hugo Grotius u. a. Unter Benutzung mehrerer Alphabete mit wechselnder Buchstabenfolge drückte Trithemius jedes neue Wort oder jeden neuen Satz nach vorheriger Verabredung in einem andern Alphabet aus. Das wichtigste Buchstabenchiffresystem ist die Multiplikationschiffre, französisch chiffre carré oder indéchiffrable; die übrigen Buchstabenchiffren (schon Napoleon I. bediente sich einer solchen) sind mehr oder weniger Umbildungen dieser Chiffre, deren Grundlage folgende Alphabettafel ist:
Die erste Horizontalreihe heißt Sprachlinie; in ihr werden gewöhnlich die Buchstaben der Klarschrift aufgesucht, um für dieselben aus den senkrecht darunter stehenden Alphabeten die Chiffren zu entnehmen. Die erste Vertikalreihe heißt Wahllinie. Ist aus ihr z. B. »erz« als Schlüssel gewählt worden, so verfährt man beim Chiffrieren wie folgt:
[464] Für das über dem e des Schlüssels stehende P sucht man die Chiffre u in dem in der Wahllinie mit e, für das über dem Schlüssel-r stehende a in dem mit r beginnenden Alphabet etc. Das Zusammenziehen in fünfstellige Gruppen erfolgt für den Telegrammverkehr, da im internationalen Telegraphenverkehr je fünf Buchstaben oder Zahlen als ein Wort taxiert werden. Privattelegramme in chiffrierter Sprache müssen aus arabischen Ziffern bestehen. Durch die Londoner Telegraphenkonferenz (1903) sind auch Buchstaben und Gruppen von Buchstaben zugelassen. Hierfür würde z. B. das Mirabeausche Chiffresystem geeignet sein, bei dem das Alphabet in 56 fortlaufend numerierte Abteilungen zerlegt wird und innerhalb derselben jeder Buchstabe eine besondere Ordnungsnummer erhält. In dieser G. wird jeder Buchstabe durch zwei Zahlen, die Abteilungs- und die Ordnungszahl, nach Wunsch auch in Form eines Bruches geschrieben. Bei der Buchstabenchiffre des Grafen Gronfeld wird eine Wahlzahl fortlaufend unter die Klarschrift gesetzt und in der G. an Stelle der offenen Buchstaben diejenigen als Chiffren gebracht, die um so viel Stellen später in der gewöhnlichen Reihenfolge des Alphabets erscheinen, als die darunter stehende Zahl anzeigt. Durch eine große Anzahl benutzbarer Alphabete (3200) zeichnen sich Krohns Buchstaben-Systeme aus. Um zu ermöglichen, daß auch ohne besondere Verabredung bei jedem Telegramm das Alphabet gewechselt werden kann, hat Krohn seinen Systemen auch einen Haupt- und Zahlenschlüssel beigegeben, mittels dessen in dem Telegramm selber an ein für allemal bestimmter Stelle, z. B. in der zweiten Gruppe, die Nummer des benutzten Alphabets in Chiffrebuchstaben angegeben wird.
In der Vokalchiffre wird jeder Buchstabe der Klarschrift durch zwei Vokale ausgedrückt. Auf die 25 Felder eines Quadrats (s. Abbildung) sind die Buchstaben des Alphabets verteilt; jeder Buchstabe ist durch zwei Vokale, je einen aus der Sprach- und Wahllinie, bestimmt, z. B. b durch e a.
Um das Chiffrieren und Dechiffrieren zu erleichtern, benutzt man auch mechanische Vorrichtungen (Kryptographen) von oft sinnreicher Konstruktion. Der einfachste Chiffrierapparat besteht aus zwei um eine gemeinsame Achse drehbaren Rädern, auf deren Rändern Alphabete so aufgeschrieben sind, daß jeder Buchstabe des einen Rades unter jeden andern Buchstaben des zweiten Rades eingestellt werden kann, wodurch bei Anwendung der Multiplikationschiffre Alphabettabellen entbehrlich werden. Verwickeltere Vorrichtungen, bei denen die Alphabete verstellt werden, sind von Klüber, Wheatstone, Sommerfeldt u. a. angegeben worden.
Eine Art der Versetzungschiffre besteht darin, die Buchstaben der Klarschrift in die Felder eines karierten Rechtecks entweder von rechts nach links in die Horizontalreihen oder von oben nach unten in die Vertikalreihen, oder abwechselnd von oben nach unten und von unten nach oben, oder endlich in diagonaler Richtung einzutragen. Hierher gehört nach Fleißner auch die Chiffre der Nihilisten, die eine Verbindung von Versetzungs- und Buchstabenchiffre darstellt.
Auf mechanische Weise lassen sich die Versetzungen mittels Kryptographs z. B. mit Fleißners durchlöcherten Patronen bewirken, mittels deren man die Buchstaben oder Ziffern unter Benutzung der Öffnungen auf ein untergelegtes Blatt schreibt. Sobald alle Löcher ausgefüllt sind, wird die Patrone um 90° gedreht und dadurch auf freie Felder gebracht, die nun wieder beschrieben werden, u. s. s. Schließlich erscheint die Schrift in regelmäßiger Figur, die vom Empfänger nur mit einer gleichen Patrone zu entziffern ist.
Am vollkommensten gesichert gegen Entzifferung durch Unbefugte ist die Wort- oder Zahlenchiffre (auch Buchchiffre genannt). In einem Wörterbuche wird jedes Wort, Schrift- oder Zahlzeichen u. dgl. durch eine Zahlen- oder eine Buchstabengruppe bezeichnet; außerdem sind Festsetzungen über Flexionsänderungen, Abwandlungen der Zeitwörter etc. getroffen.
Die Dechiffrierkunst beschäftigt sich mit der Enträtselung von Geheimschriften, deren System und Schlüssel unbekannt sind, und erfordert einen großen Aufwand an Scharfsinn und Geduld. Sie stützt sich hauptsächlich auf die Häufigkeit der einzelnen Buchstaben und die Art ihrer Zusammensetzung zu Silben und Wörtern. In der deutschen Sprache kommt z. B. der Buchstabe e am häufigsten vor; man kann also mit ziemlicher Sicherheit darauf schließen, daß diejenige Ziffer, die sich in einer G. mit einfachem Schlüssel am häufigsten wiederholt, den Buchstaben e darstellt. Dann kommen n, i, s, t, h, a, r, d, u. Auf q folgt stets u, auf c entweder h oder k; für sich allein findet man c nur in Fremdwörtern. Die zweibuchstabigen und dreibuchstabigen Wörter, deren Anzahl beschränkt ist, lassen sich, wenn die Worttrennung beibehalten ist, nach einem Verzeichnis meist ohne große Mühe erraten. In Geheimschriften mit zusammengesetztem Schlüssel verwischen sich aber diese Erkennungszeichen, wodurch sich die Schwierigkeit der Entzifferung bis zur Unmöglichkeit steigern kann.
Wirtschaftlich am wichtigsten ist die Codechiffre oder der Telegraphenschlüssel, durch dessen Anwendung sich die Kosten für die telegraphische Übermittelung von Nachrichten, namentlich nach überseeischen Ländern, ganz bedeutend verringern lassen. Die aus Codewörtern bestehenden Telegramme heißen amtlich Telegramme in verabredeter Sprache, die geheime Sprache wird nämlich im Telegrammverkehr in verabredete und chiffrierte Sprache eingeteilt (s. am Anfang). Nach dem internationalen Telegraphenvertrage dürfen Codewörter höchstens zehn Buchstaben enthalten und müssen bestimmten, im Vertrag aufgezählten Sprachen angehören. Das vom internationalen Telegraphenbureau in Bern herausgegebene »Amtliche Wörterbuch« enthält 1,189,000 geeignete Wörter (eine Auswahl daraus enthält »Hillgers Depeschenkürzer«, Berl. 1904). Außer diesen Wörtern hat die Londoner Telegraphenkonferenz auch solche zugelassen, deren Silben sich nach dem Gebrauch der zugelassenen Sprachen aussprechen lassen. Unaussprechbare Konsonanten- und Vokalanhäufungen gelten als chiffrierte, die Handelszeichen und die Zeichen des allgemeinen Handelskodex dagegen als offene Sprache. Die eigentlichen Codebücher, in denen neben jedem Worte dessen verabredete Bedeutung steht, werden von Privaten u. häufig für nur bestimmt abgegrenzte Zwecke, z. B. für Börse und Bank, für Schiffahrt, für Maschinenhandel etc., herausgegeben. Ein allgemein gebräuchlicher Code ist der Telegraphenschlüssel von W. Staudt und O. Hundius in Berlin, ebenso der englische »A 1 universal commercial electric telegraph Code« von W. Clauson-Thue, der »ABC-Code«, große Codes von Whitelaw, Ager, Reuter etc. Emile Delage in Paris nennt seine Codes »Béviators«. Zum leichtern[465] Auffinden der vom Telegraphen verstümmelten Codewörter dient ein bei I. H. de Bussy in Amsterdam erschienenes Wörterbuch, das die Wörter alphabetisch nach den Endsilben geordnet enthält. Die transatlantischen Kabellinien lassen auch Codes zu, die wie der »Universal Code Condenser« dazu dienen, zwei Codewörter zu einem zusammenzuziehen. Ein Telegraphenschlüssel für Familienangelegenheiten ist von R. Bödiker u. Komp. in Bremen herausgegeben worden (2. Aufl., Berl. 1904), ebenso von den Eastern and Associated Telegraph Companies in London ein »Social Code«, den die Ämter dieser Gesellschaften öffentlich auslegen, auch dem Publikum beim »coding« und »decoding« helfen; ein in der verabredeten Sprache dieser Codes abgefaßtes Kabeltelegramm kostet nur ein Zwanzigstel des Preises eines inhaltgleichen Telegramms in offener Sprache. Der allgemeine Handelskodex oder »Internationales Signalbuch« (deutsche Ausg., Berl. 1901) ist eine Verbindung von Code- und Wortchiffre. Aus je vier Konsonanten des Alphabets sind Chiffregruppen gebildet, die auch durch Signalflaggen darstellbar sind (s. Seetelegraphenanstalten). Vgl. Klüber, Kryptographik (Tübing. 1809); Meißner, Die Korrespondenz in Chiffren (Braunschw. 1849); Krohn, Buchstaben- und Zahlensysteme für die Chiffrierung von Telegrammen, Briefen und Postkarten (Berl. 1873); Walter, Chiffrier- und Telegraphiersystem (Winterthur 1877); Fleißner, Handbuch der Kryptographie (Wien 1881); Katscher, Deutsches Chiffrier-Wörterbuch für den geheimen Verkehr (Leipz. 1889); »Chiffrierbuch für Telegramme und Korrespondenz in Ziffern« (Berl. 1893); »Chiffrier-Wörterbuch«, hrsg. von F. R. (das. 1899). Geheimschrift nennt man auch die mit »sympathetischer« Tinte (s.d.) geschriebene, nur bei besonderer Behandlung sichtbar werdende Schrift.
Buchempfehlung
Diese »politische Komödie in einem Akt« spiegelt die Idee des souveränen Volkswillen aus der Märzrevolution wider.
30 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro