Volksrecht

[237] Volksrecht ist das im Volk selbst entstandene und in dessen Bewußtsein lebende Recht. In diesem Sinne ist jedes positive Recht seinem Ursprung nach V. Denn bei allen Nationen findet in den frühern Zeiten der Kulturentwickelung eine unmittelbare Teilnahme des Volkes an der Bildung und Anwendung des Rechtes statt. Diese Bildung erfolgt in der ersten Periode der Rechtsgeschichte fast ausschließlich im Wege des Gewohnheitsrechtes, d. h., ähnlich wie die Bildung von Sprache und Sitte, durch die lebendige Übung, und das Dasein des Rechts ist hier nichts andres als die Überzeugung des Volkes von der Notwendigkeit dieser Übung. Mit dem Aufkommen geschriebenen Rechts tritt die Rechtsgeschichte in ihre zweite Periode: das Recht wird zum Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis und berufsmäßiger Pflege von seiten des Juristenstandes. Aber es hört deshalb nicht notwendig auf, V., von der Überzeugung des Volkes getragenes Recht, zu sein. Im Anfang dieser Periode um so weniger, als die ältesten schriftlichen Rechtsdenkmäler nur in geringem Maß eigentliche Rechtssatzungen (durch den Willen des Staates geschaffene neue Rechtssätze), sondern zum weit überwiegenden Teil nur Niederschrift des geltenden Gewohnheitsrechts zu sein pflegen, mögen dieselben nun lediglich der Privatarbeit einzelner Rechtskundigen ihr Dasein verdanken oder von solchen im Auftrag der Staatsgewalt hergestellt und von letzterer verfassungsmäßig bestätigt worden sein. So ist es z. B. für die römische Zwölftafelgesetzgebung als das Wahrscheinlichere zu bezeichnen, daß die in ihr enthaltenen Sätze größtenteils schriftliche Festlegungen alten Gewohnheitsrechts und nicht (wie die römische Überlieferung berichtet) aus dem Ausland herbeigeholte Rechtssätze sind. Deutlicher läßt sich die Entwickelung des Volksrechtes bei den germanischen Stämmen verfolgen. Hier zeigt sich eine wesentliche Verschiedenheit zwischen den Nordgermanen (Schweden, Dänen, Norweger und Isländer) und den südgermanischen, später zur fränkischen Monarchie vereinigten Völkern. Bei den letztern, für welche die Zeit der Rechtsaufzeichnungen um 450 beginnt und ungefähr 850 endigt, lag der treibende Impuls zur schriftlichen Festlegung ihres Gewohnheitsrechts in ihrer Berührung mit der christlichrömischen Kultur nach Abschluß der Völkerwanderung. Dies zeigt sich sowohl in der Reihenfolge, in der die einzelnen hierhergehörigen Stammesrechte ausgezeichnet worden sind, als in dem Umstande, daß diese Auszeichnung in lateinischer Sprache erfolgte. Die Rechte dieser Stämme nennen wir im engern Sinne die Volksrechte, Leges, wohl auch leges barbarorum im Gegensatz zu den Leges Romanorum oder Leges Romanae (s. d.), als dem Rechte der unter diesen germanischen Stämmen nach eignen Gesetzen fortlebenden Römer. Selbst nennen sich einzelne dieser Volksrechte: pactus, lex, ewa, edictus. Sie sind insgesamt nicht bloße Privatarbeiten, sondern offizielle Rechtssammlungen, teils aus der Initiative des Volkes hervorgegangen, teils von demselben auf Vorschlag des Königs genehmigt. Von modernen Gesetzbüchern unterscheiden sie sich unter anderm dadurch, daß sie nicht ein völlig neues Recht an Stelle des bisher geltenden setzen, sondern teils nur das bestehende Gewohnheitsrecht (und zwar nur, insoweit dies praktisch notwendig schien) schriftlich festlegen wollen, teils, soweit sie wirkliche Satzungen enthalten, doch nur das bestehende Recht bestätigen. Ihr vorwiegender Gegenstand ist Straf- und Prozeßrecht, weniger enthalten sie bürgerliches Recht und Staatsrecht. Die Geltung dieser Stammesrechte beschränkt sich auf den betreffenden Stamm, und es galt der Grundsatz, daß jeder Angehörige eines Stammes auch außerhalb seiner Stammesheimat nach seinem Rechte behandelt werde (sogen. Persona lität des Rechts, s. d.). Innerhalb dieser Rechte lassen sich zeitlich und verwandtschaftlich gewisse Gruppen sondern. Die vermutlich ältesten Rechtsaufzeichnungen sind bei den Westgoten erfolgt, wo jedenfalls bereits König Eurich (466–484) in umfassenderer Weise als Gesetzgeber aufgetreten ist (über die spätern Sammlungen westgotischer Gesetze vgl. Goten, S. 153). Seine[237] Rechtssammlung scheint nicht ohne Erfolg geblieben zu sein auf die älteste Redaktion der Lex Salica (s. Salisches Gesetz), ist aber zweifellos benutzt worden bei Abfassung der um 501 entstandenen Lex Burgundionum (s. Burgundische Gesetzbücher) und besonders bei der zwischen 744 und 748 für den damals zum fränkischen Reiche gehörenden bayrischen Stamm gegebenen Lex Bajuvariorum (Ausgabe von Merkel in den »Monumenta Germaniae«, Leges III). Die Lex Salica wiederum hat zum Vorbild gedient bei der Abfassung des Gesetzbuches der ripuarischen Franken, deren älteste uns erhaltene Satzungen noch dem 6. Jahrh. angehören (Ausgabe der Lex Ripuaria von Sohm in den »Monumenta Germaniae«, Leges V), und gleichfalls unter fränkischem Einfluß stehen die alemannischen Gesetzbücher, nämlich der wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 7. Jahrh. entstandene Pactus Alemannorum sowie die umfassendere, wahrscheinlich 717–719 von Herzog Lantfrid erlassene Lex Alemannorum. Der Anregung, die Karl d. Gr. zur Auszeichnung der Volksrechte gab, verdanken zum Teil wohl ihre Entstehung die Lex Frisionum (s. Friesisches Recht), obwohl diese mehr den Charakter einer Privatkompilation trägt und daher wohl als eine bloße Vorarbeit anzusehen ist, ferner die sogen. Ewa Chamavorum (Ausgabe von Sohm in den »Monumenta Germaniae«, Leges V), d. h. das Rechtsbuch der am Niederrhein und an der Yssel wohnenden chamavischen Franken, endlich die vielleicht auf dem Reichstag zu Aachen 802 zustande gekommene Lex Saxonum (Ausgabe von Richthofen in den »Monumenta Germaniae«, Leges V) und die aus derselben Zeit stammende Lex Angliorum et Werinorum (Ausgabe von Richthofen a. a. O.), d. h. das Gesetzbuch der im Gebiete der Unstrut wohnhaften Angeln und der zwischen Saale und Elster wohnenden Warnen (s. auch Deutsches Recht, S. 747). Außerhalb dieses historischen Zusammenhanges steht die älteste Auszeichnung des Langobardischen Rechts, das 643 von König Rothari erlassene Edictum Langobardorum (s. Langobardisches Recht); doch zeigt dieses manche aus den frühern Sitzen der Langobarden an der Niederelbe erklärliche Übereinstimmung mit der Lex Saxonum und mit den Rechten der Angelsachsen, daneben auch eine gewisse Verwandtschaft mit den skandinavischen Rechten. Nicht eigentlich zu den Leges barbarorum gehören die ostgotischen, von Theoderich d. Gr. zwischen 511 und 515 und dessen Enkel Athalarich erlassenen Edikte, da dieselben sowohl für Goten als für Römer Geltung hatten. Über die angelsächsischen Gesetze vgl. den Artikel »Angelsachsen«. Diese Gesetze und Rechte blieben nach dem Untergange der betreffenden Staaten als persönliche Rechte dieser Volksgenossen fortbestehen. Erst das sich mehr und mehr entwickelnde Lehnswesen und die sich ändernden ständischen Verhältnisse wirkten der Geltung der Volksrechte entgegen. An Stelle des Prinzips der Personalität des Rechts entwickelte sich mehr und mehr jenes der Territorialität. An die Stelle der Volksrechte tritt in Deutschland zunächst das Gewohnheitsrecht.

Im Gegensatz zu diesen Volksrechten der südgermanischen Völker zeigten die der Nordgermanen eine durch keine Einflüsse fremder Kultur bestimmte Entwickelung. Ihre schriftliche Auszeichnung ist in verhältnismäßig später Zeit erfolgt: für Norwegen führt die Überlieferung auf das 12. Jahrh. als Anfangspunkt der Zeit geschriebener Rechtsquellen, für Island auf bas 10., für Schweden und Dänemark erst auf das 13. Jahrh. (s. im übrigen Nordisches Recht). Aber wegen der nationalen Unabhängigkeit der nordischen Rechtsquellen bilden die aus ihnen zu ziehenden Rückschlüsse eins der wichtigsten wissenschaftlichen Hilfsmittel zur Erforschung der ältesten deutschen Rechtsgeschichte. Eine Gesamtausgabe des Volksrechts werden die »Monumenta Germaniae historica« in der Abteilung leges enthalten, eine Ausgabe für den akademischen Gebrauch hat Ferd. WalterCorpus juris Germanici antiqui«, Berl. 1824, 3 Bde.) besorgt. Vgl. Sch röder, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, S. 237 ff. (5. Aufl., Leipz. 1907).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 237-238.
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