[792] Defensĭon (lat. Defensio, Vertheidigung), die Darlegung der aus Form u. Inhalt des gegen einen Angeschuldigten geführten Criminalprocesses hervorgehenden factischen u. rechtlichen, für den Angeschuldigten sprechenden Entlastungsgründe. Da der Zweck einer jeden Criminalprocedur auf die Ergründung der materiellen Klarheit geht, so gehört es schon zu den Pflichten des Untersuchungsrichters, im Laufe der Untersuchung neben den sich ergebenden Belastungsgründen auch auf die zu Gunsten des Inculpaten sprechenden Entlastungsmomente Rücksicht zu nehmen u. dem Letzteren Gelegenheit zu bieten, dieselben ebenfalls vollständig zur Geltung zu bringen. Allein weil der Untersuchungsrichter, zumal wenn dem Angeschuldigten ein Ankläger gegenübersteht, doch hierbei nicht völlig unparteiisch handeln könnte, auch der Angeschuldigte seiner geringen Bildung u. Rechtskenntniß wegen oft gar nicht im Stande ist, die zu seinen Gunsten sprechenden Umstände genügend herauszusetzen u. in das gehörige Licht zu stellen, so wird demselben auch am Schlusse jedes einzelnen Abschnittes die Möglichkeit gewährt, durch einen Rechtsverständigen seine Vertheidigung noch in[792] einem besonderen Vortrag od. einer besonderen Schrift führen zu lassen. Die letztere Art der Vertheidigung hat man die formelle, die erstere, in der Pflicht des Richters liegende, die materielle genannt. Die D. gestaltet sich verschieden im gemeinrechtlichen Untersuchungs- u. in dem öffentlich-mündlichen Anklageprocesse. I. Im gemeinrechtlichen Untersuchungsprocesse erfolgt die D. der Regel nach schriftlich durch eine Defensionsschrift (Vertheidigungs-, Schutzschrift) u. nur ausnahmsweise wohl auch mündlich, wenn sie bei geringeren Sachen gleich zu Protokoll dictirt wird. Die D. kann hier, wenn nicht Particularrechte dies beschränken, bei jedem wichtigeren Proceßacte Statt finden; hauptsächlich aber tritt sie erst am Schlusse der Untersuchung ein. Sie wird deshalb in eine willkührliche, vorläufige Vertheidigung (D. praeparatorĭa) u. in eine nothwendige od. Hauptverteidigung (D. principālis, D. necessarĭa) eingetheilt, je nachdem sie entweder nur die künftige eigentliche Vertheidigung, z.B. durch Hervorhebung gewisser Umstände behufs der Veranlassung zu vorzüglich genauer Untersuchung derselben bezweckt, od. nach beendigter Untersuchung die Leitung des richterlichen Endurtheils zum Vortheil des Angeschuldigten beabsichtigt. In anderer Richtung wird der Hauptvertheidigung auch die Nebenvertheidigung (D. minus principalis, D. accessorĭa) entgegengesetzt, welche nur die Abwendung eines dem Angeschuldigten nachtheiligen Proceßactes zum Gegenstand hat. Dahin gehören a) D. pro avertendo, miligando od. relaxando carcĕre (D. contra carcĕrem), gegen den über den Angeschuldigten während der Untersuchung verhängten Detentionsarrest, od. zu dessen Milderung; b) D. pro avertendo examĭne summarĭo, zur Abwendung der Untersuchung u. Vernehmung überhaupt; c) D. pro avertenda speciali inquisitione (D. contra specialem inquisitionem), zur Abwendung der Specialinquisition; d) D. pro avertenda confrontatione (D. contra confrontationem), zur Vermeidung der Confrontation zwischen dem Angeschuldigten u. Denuncianten, Zeugen od. Mitschuldigen (s. Confrontation); e) D. pro avertenda territione u. f) D. proavertenda tortura, gegen das Drohen od. die wirkliche Anwendung der Folter, beide jetzt mit Aufhebung der letzteren hinweggefallen; g) D. pro avertendo purgatorĭo, gegen die Auferlegung u. Abschwörung eines Reinigungseides. Die Wahl des Vertheidigers (Defensor) steht dem Angeschuldigten, insofern er im Stande ist, denselben zu honoriren, in der Regel frei; nur ist er meist dabei an die Auswahl aus den recipirten Anwälten gebunden. Ist der Angeschuldigte unvermögend, selbst einen Anwalt zu bezahlen, so kann er sich denselben vom Gericht erbitten, welches alsdann die D. den bei ihm bestellten Anwälten gewöhnlich als Officialarbeit zutheilt. Der Vertheidiger übernimmt nicht die Pflicht, durch lügenhafte Ausflüchte den Angeschuldigten vor der wohlverdienten Strafe zu schützen, sondern nur ihn im Wege Rechtens wider Unrecht zu schützen. Leere Declamationen sind daher in der Vertheidigung ebenso zu vermeiden, als sophistische Verdrehungen, welche dem Angeschuldigten in den Augen der Richter mehr schaden können. Die Befugnisse des Vertheidigers zu diesem Zwecke bestehen in dem Recht auf vollständige Acteneinsicht u. auf Mittheilung von Abschriften der erheblichsten Actenstücke, in dem Recht, sich mit dem Angeschuldigten, so oft als nöthig, zu unterreden u. auf die Herbeischaffung aller Beweismittel zu dringen, welche ihm im Interesse der Unschuldsausführung seines Desendenden nothwendig erscheinen, namentlich daher auch auf Verhör von Defensionalzeugen, d.h. Zeugen, die für den Angeschuldigten sprechen u. die deshalb wohl über besondere Defensionalartikel (s. Articulirtes Verhör) vernommen werden. Die Defensionsschrift selbst ist entweder eine minder feierliche (D. minus solennis), wenn sie in einem einfachen Schreiben ohne besondere Formalitäten besteht, od. eine feierliche (D. solennis), wenn sie, nach ausführlicher, actenmäßiger Darstellung der Untersuchungsergebnisse, das ganze Material in thatsächlicher u. rechtlicher Beziehung einer eingehenden Kritik unterwirft. Die feierliche D. wird in der Regel dem Gerichte mittelst besonderen Schreibens (Oblationsschreiben) überreicht. II. Im öffentlich-mündlichen Anklageprocesse geschieht die Vertheidigung, wenigstens in der Hauptsache, mündlich, durch die am Schlusse der Hauptverhandlung zu haltende, den Anträgen der Staatsanwaltschaft sich gegenüberstellende Vertheidigungsrede (Plaidoyer). In der Voruntersuchung wird nach den Grundsätzen des französischen Strafprocesses (Code instruct. crim. 152 u. 185), welchem in dieser Hinsicht auch die meisten neueren deutschen Strafproceßordnungen gefolgt sind, gar keine formelle Vertheidigung gestattet u. erst am Schlusse, vor Fällung des Verweisungserkenntnisses, dem Angeklagten freigestellt, die etwa noch zur Seite stehenden Entlastungszeugen etc. zu benennen, um sie zur Hauptverhandlung mit vorladen zu können. Zu dem mündlichen Hauptverfahren dagegen ist, wenigstens bei den schwereren Verbrechen, namentlich bei denen, welche vor die Schwurgerichte gehören, die Beiziehung eines Vertheidigers meist als unbedingt nothwendig vorgeschrieben, so daß selbst da, wo der Angeschuldigte auf Vertheidigung verzichtete, ein Vertheidiger zugezogen werden muß. Zur Instruction steht dem bestellten Defensor vorher auch hier Acteneinsicht u. mündliche Besprechung mit dem Angeschuldigten, auch ohne Beisein einer Gerichtsperson, frei. Die Form der Vertheidigungsreden selbst ist sehr verschieden, je nachdem der Vertheidiger zu Geschworenen od. zu rechtsgelehrten Richtern zu reden hat. Im ersteren Falle steht der Vertheidigung ein weiteres Feld offen, insofern der Vertheidiger mehr Gelegenheit hat, durch Beleuchtung der Motive etc. auf den Wahrspruch der Geschworenen einzuwirken, während vor rechtsgelehrten Richtern der Inhalt des Plaidoyer sich mehr auf die strengeren Regeln des Beweises u. die Beurtheilung des Falles vom rechtlichen Standpunkte beschränken wird. Fragen, welche der Vertheidiger im Interesse des Angeschuldigten an einzelne Zeugen gerichtet zu sehen wünscht, darf er in der Regel nicht selbst stellen, sondern hat dieselben durch den Vorsitzenden stellen zu lassen. Weiter geht die Befugniß des Vertheidigers im englischen Processe, indem derselbe (hier Counsel genannt) auch selbst sich in die Vernehmung der Zeugen durch Anstellung eines Kreuzverhöres einmischen kann. Dagegen war nach der älteren Ansicht die Vertheidigung hier insofern wesentlich beschränkt, als bei den Felonies der Angeklagte keinen Vertheidiger zur Seite haben durfte. Durch ein Gesetz vom 20. August 1836 wurde aber[793] allen Angeklagten die Hülfe eines Vertheidigers allgemein gestattet. Vgl. Mittermaier, Anleitung zur Vertheidigungskunft, Heidelb. 1843, 4. Ausg.; Dessen Abhandlungen im Magazin für Badisches Recht, Bd. 1, S. 230 ff.; Levita, im Gerichtssaal 1850, I. S. 148 ff.