Gottesurtheile

[507] Gottesurtheile (Judicia Dei, Ordalien, von dem angelsächsischen ordale, d.i. Urtheil), die bes. bei den alten Germanen (s.u. Deutsche Mythologie) u. mehr noch im christlichen Mittelalter vorkommende Einrichtung, daß Beklagte, deren Schuld od. Unschuld nicht zu ermitteln war, sich einer Handlung unterziehen mußten, bei welcher ohne einen besonderen, wie man annahm, für die Unschuld zu erwartenden göttlichen Beistand, sie nicht unbeschädigt davon kommen konnten. Die gewöhnlichen Arten waren: A) Zweikampf, dadurch von den anderen G-n verschieden, daß die Geschicklichkeit od. Stärke der Kämpfenden Einfluß hatte; B) die Wasserprobe (Wasserurtheil, Judicium aquaticum), indem der Verdächtige, meist in Gegenwart eines Priesters, entweder an Händen u. Füßen gebunden, in ein fließendes Wasser, zuweilen[507] in einen Kübel mit Wasser (Probe des kalten Wassers, Sententia undae, Judicium aquae frigidae) geworfen wurde, od. seine Arme bis an die Ellnbogen in siedendes Wasser (Probe des heißen Wassers, Kesselfang, J. aquae ferventis, Caldaria judiciaria, Cacabus) stecken u. einen eigroßen Stein herausholen mußte u. wenn er nicht untersank (bei den Hexen, wenn sie oben aufschwammen) od. seine Arme verletzt hervorzog, für schuldig erklärt wurde; C) die Feuerprobe (Glühendes Eisen, Judicium ignis, J. ferri candentis), schon bei den Griechen bekannt; der Verdächtige mußte ein glühendes Eisen halten, auch wohl 9 Fuß weit vom. Taufstein bis an den Hochaltar auf bloser Hand tragen, barfuß über 9–12 glühende Pflugschare gehen, od. mit einem wächsernen Hemde angethan. (Probe des wächsernen Hemdes) durch Feuer schreiten. D) Der geweihte Bissen (Brodurtheil, im Friesischen Landrechte: Corbila, angelsächsisch Corsned, latein. Judicium panis et casei adjurati, Panis od. Caseus sanctificatus, Judicium offae), ein mit eigenen Verwünschungsformeln hierzu vorbereiteter Bissen Brod od. Käse, od. Beides; wenn der Verdächtige dies ohne Anstrengung verschluckte u. nachher nicht erkrankte, wurde er für unschuldig, im Gegentheil für schuldig erklärt. Ähnlich war bei den Israeliten das Bittere Fluchwasser (s.d.). E) Die Probe des heiligen Abendmahls (Judicium eucharistiae, Purgatio per eucharistiam), bes. bei Geistlichen gewöhnlich; der öffentliche Empfang der geweihten Hostie sollte den Schuldigen tödten. F) Das Kreuzgericht (Kreuzurtheil, Kreuzprobe, Examens. Experimentum s. Judicium crucis), der Verdächtige mußte unter einem Kreuz mit ausgebreiteten Armen unbeweglich stehen, u. wenn dies zwei Verdächtige od. Kläger u. Angeklagter zugleich thaten, wobei in diesen drei Fällen der Priester das Evangelium u. gewisse Gebete vorlas, so wurde derjenige, welcher die Arme zuerst sinken ließ, verdammt. Dies war zugleich das Loosurtheil (J. sortis), wenn zwei Würfel in einen Beutel gethan wurden, wer dann den mit einem Kreuze bezeichneten zog, war unschuldig. G) Das Bahrrecht, s.d. H) Das Scheingehen (Gadesrecht des Scheingehens), der bis an den Gürtel entblöste Angeschuldigte mußte die abgelöste u. auf den Gerichtstisch gelegte Hand der Leiche ergreifen, dreimal nach einander knieend seine Finger auf das Schein (Corpus delicti) legen, es aufheben, seine Unschuld betheuern u. wurde, erfolgte kein Zeichen, seines Halses feilig (versichert), frei erkannt. I) Die Hexenwage (Probatio per pondus s. per lancem et stateram), d.i. die auf den Glauben, daß Hexen, Besessene etc. ihr natürliches Gewicht verlören, vorgenommene Wägung derselben. Die G. wurden durch Priestertrug u. Taschenspielereien bis zum Anfang des 16. Jahrh. beibehalten, dann durch das Canonische Recht, welches namentlich den Reinigungseid an ihre Stelle setzte, verdrängt. Das Bahrrecht blieb bis ins 16. Jahrh., u. bei Hexenprocessen bis ins 17. Jahrh. zuweilen die Probe des kalten Wassers in Kraft. Die letzte Spur kam 1728 zu Szegedin in Ungarn durch Wägung mehrerer Dexen vor. In außereuropäischen Staaten findet das G. noch Statt, so bei den Hindus fast alle G., bei den Chinesen die Feuer- u. Wasserprobe, bei den Tschuwaschen u. Ostiaken der geweihte Bissen etc. Vgl. Maiers Geschichte der Ordalien, Jena 1795; Zwicker, Über die Ordalien, Gött. 1818.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 7. Altenburg 1859, S. 507-508.
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