Reichsgesetze

[950] Reichsgesetze, diejenigen Gesetze, welche zur Zeit des Deutschen Reiches von der Reichsgewalt, d. i. dem Kaiser, unter Concurrenz des Reichstages erlassen wurden. Bis zum 16. Jahrh. bezogen sich die R. zum größten Theile nur auf das öffentliche Recht, daher Privilegien für einzelne Reichsstände od. Klassen von Unterthanen, Landfrieden, die Ordnung der Reichsjustiz u. der Kriegsverfassung als die hauptsächlichsten Gegenstände der Reichsgesetzgebung erscheinen. Erst seitdem wurden die R. mannigfaltigeren Inhaltes u. bezogen sich auch auf das Privatrecht, Criminalrecht u. den Civilproceß u. andere Rechtstheile. Der Form nach sind unter R-n zu unterscheiden: a) die Reichsabschiede (Recessus imperii), d.h. die in eine Urkunde zusammengefaßten, vom Kaiser ratificirten u. am Ende eines Reichstages publicirten Beschlüsse einer Reichsversammlung. Da seit 1663 der Reichstag permanent war, so ist der letzte Reichsabschied (deshalb der jüngste Reichsabschied, Rec. imperii novissimus), der vom Jahr 1654, welcher bes. für das Proceßrecht von Wichtigkeit ist; b) Reichsschlüsse, d.h. die nach dem Gutachten der drei Reichstagscollegien entstandenen, vom Kaiser genehmigten Einzelbeschlüsse einer Reichsversammlung; c)Reichsdeputationsabschiede, d.h. die in eine Urkunde zusammengefaßten kaiserlich genehmigten Beschlüsse einer Reichsdeputation od. eines Reichsausschusses; d) Reichsordnungen, die R., welche sich über ein ganzes Rechtsgebiet erstreckten od. einen Gegenstand in umfassender Weise behandelten; e) Wahlcapitulationen, die seit Karl V. (1519) vorkommenden Vereinbarungen des neuerwählten Reichsoberhauptes u. der Kurfürsten über die Art u. Weise der kaiserlichen Regierung. Ein Beschluß der Reichsstände, welcher vom Kaiser noch nicht genehmigt u. noch nicht publicirt war, mithin auch der gesetzlichen Kraft entbehrte, hieß Reichsgutachten. Reichsgrundgesetze nennt man bes. diejenigen Gesetze, auf welchen vorzugsweise die Verfassung des Deutschen Reichskörpers beruhte, zu ihnen zählten namentlich: die Urkunden Kaiser Friedrichs I. von 1220 (Constit. Francofurt. de juribus principum ecclesiasticorum) u. 1232 (Const. Utin. de juribus principum saecularium) über die Bestätigung der Landeshoheit für die weltlichen u. geistlichen Reichsfürsten, die Constitution König Ludwigs des Baiern von 1338 über die Unabhängigkeit der deutschen Königswahl vom päpstlichen Stuhle, die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. vom Jahr 1855 über die Rechte der Kurfürsten, der ewige Landfrieden Kaiser Maximilians I. vom Jahr 1495, die Reichskammergerichtsordnung von demselben Jahre (revidirt 1555) u. die Reichshofrathsordnung vom Jahr 1518 (revidirt 1654), die Wahlcapitulation Kaiser Karls V. von 1519, der Passauer Vertrag vom Jahr 1552 u. der Religionsfrieden von Augsburg von 1555, ferner die Concordate der deutschen Nation (das Wormser Concordat von 1122 u. das Wiener von 1448), der Westfälische Frieden vom Jahr 1648 u. der Reichsdeputationshauptschluß vom Jahr 1803. Die R. haben auch nach Auflösung des Deutschen Reiches keineswegs ihre praktische Gültigkeit verloren. Da die heutige Souveränetät der deutschen Staaten aus einer. Vereinigung der kaiserlichen Gewalt, wie sie zur Zeit des Deutschen Reiches bestand, mit der Landeshoheit hervorgegangen ist, mithin die Reichsgewalt, auf welcher die Verbindlichkeit der R. beruhte, keineswegs erloschen, sondern nur durch eine Art Appropriation auf die Landesherren übergegangen ist, so erscheinen sie als frühere Gesetze, welche nur insofern ihre Bedeutung verloren haben, als ihnen das Substrat abgeht, während sie im Übrigen noch verbindende Kraft besitzen. Nur für die Rheinbundstaaten wurde durch Art. 2 der Rheinbundacte festgesetzt, daß sie u. ihre Unterthanen durch die R. nicht mehr gebunden sein sollten. Allein abgesehen davon, daß diese Aufhebung nicht diejenigen R. getroffen hat, welche zugleich den Charakter von Staatsverträgen haben (wie z.B. den Westfälischen Friedensschluß), ist auch in den Rheinbundsstaaten selbst theils durch die Praxis, theils selbst ausdrücklich die Gültigkeit einer großer Anzahl von R-n fortdauernd anerkannt worden. Sammlungen der R. sind enthalten in: Pertz, Monum. Germaniae legalia 1. Thl. (enthaltend die Capitularien der fränkischen Könige) u. 2. Thl. (enthaltend die Constitutionen der deutschen Könige bis 1313); Goldast, Reichssatzungen, Frankf. 1712, u. Dessen Collectio constitutionum imp., 4 Thle. (2. Ausg.) Frkf. 1713; Neue u. vollständigere Sammlung der Reichsabschiede (sogenannte Senkenbergsche Sammlung), ebd. 1747 ff.; Eggersdorf, Sammlung der Reichsschlüsse von 1668–1776, 1770 ff., 4 Bde.; Gerstlacher, Handbuch der deutschen Reichsgesetze, 1786 ff., 11 Bde., u. Dessen Corp. jur. Germ. publ. et priv. (in systematischer Ordnung), 1788 ff., 4 Bde.; Schmauß, Corp. jur. publ. academ. 1722; G. Emminghaus, Corp. jur. germ. tam publ. quam priv. acad., 2. Aufl. 1844; Örtel, Die Staatsgrundgesetze des deutschen Reiches, Lpz. 1841; vgl. Böhmer, Die R. von 900–1400 nachgewiesen, Frankf. 1832.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 13. Altenburg 1861, S. 950.
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