Lied (Dichtkunst)

[713] Lied. (Dichtkunst)

Man hat diesen Namen so mancherley lyrischen Gedichten gegeben, daß es schweer ist den eigentlichen Charakter zu zeichnen, der das Lied von den ihm verwandten Gedichten, der Ode und dem Hymnus, unterscheidet. Wir haben schon mehrmal erinnert, daß sich die Gränzen zwischen den Arten der Dinge, die nur durch Grade von einander unterschieden sind, nicht genau bestimmen lassen.1 Die Ode und das Lied haben so viel gemeinschaftliches, daß sowol der eine, als der andre dieser beyden Namen, für gewisse Gedichte sich gleich gut zu schiken scheinet. Unter den Gedichten des Horaz, die alle den Namen der Oden haben, sind auch Lieder begriffen, und einige kommen auch in der Sammlung vor, die Klopstok unter der allgemeinen Aufschrift Oden, herausgegeben hat.2 Will man aber das Lied von der Ode würklich unterscheiden, so könnten vielleicht folgende äußerliche und innerliche Kennzeichen für dasselbe angenommen werden.

Zur äußern Unterscheidung könnte man annehmen, daß das Lied allezeit müßte zum Singen, und so eingerichtet seyn, daß die Melodie einer Strophe, sich auch auf alle übrigen schikte; da die Ode entweder blos zum Lesen dienet, oder, wenn sie soll gesungen werden, für jede Strophe einen besondern Gesang erfodert. Nach diesem angenommenen Grundsaz würde das Lied sich von der Ode in Absicht auf das Aeußerliche, oder Mechanische, sehr merklich unterscheiden. Denn jeder Vers des Liedes, müßte einen Einschnitt in dem Sinn, und jede Strophe eine eigene Periode ausmachen, oder noch besser würde jede Strophe in zwey Perioden eingetheilt werden, da jede sich mit einer langen Sylben endigte, weil die Cadenz des Gesanges dieses erfodert.3 Die Ode bindet sich nicht an diese Regel; ihr Vers macht nicht allemal Einschnitte in dem Sinn, und ihre Strophen richten sich nicht nach den Perioden. Ferner müßte in dem Liede die erste Strophe in den Einschnitten, Abschnitten, und Schlüßen der Perioden, allen übrigen zum Muster dienen. In der Ode hingegen würden die verschiedenen Strophen sich blos in Absicht auf das mechanische Metrum gleich seyn, ohne alle Rüksicht auf das Rhythmische, das aus dem Sinn der Worte entsteht. Endlich würde das Lied die Mannigfaltigkeit der Füße nicht zulassen, welche die Ode sich erlaubt; sondern in allen Versen durchaus einerley Füße beybehalten, außer daß etwa der Schlußvers jeder Strophe ein andres Metrum hätte, wie in der Sapphischen Ode. Denn eine solche Gleichförmigkeit ist für den leichten Gesang sehr vortheilhaft. Eine gründliche Anzeige der äusserlichen Eigenschaften des Liedes, das sich vollkommen für die Musik schiket, findet sich in der Vorrede zu den 1760 in Berlin bey Birnstiel herausgekommenen Oden mit Melodien.

Mit diesem äußerlichen Charakter des Liedes müßte denn auch der innere genau übereinstimmen, und in Absicht der Gedanken und Aeußerung der Empfindungen würde eben die Gleichförmigkeit und Einfalt zu beobachten seyn. Alles müßte durchaus in einem Ton des Affekts gesagt werden; weil durchaus dieselbe Melodie wiederholt wird. Die Ode erhebt sich bisweilen auf einigen Stellen hoch über den Ton des andern, auch verstattet sie wol gar mehrere leidenschaftliche Aeußerungen von verschiedener Art, so daß eine Strophe sanft fließt, da die andern ungestühm rauschen. Der hohe und ungleiche Flug der Ode, kann im Lied nicht statt haben. So stark, oder so sanft die Empfindung im Anfange desselben ist, muß sie durchaus fortgesezt werden.

Der Geist des eigentlichen Liedes, in so fern es von der Ode verschieden ist, scheinet überhaupt darin zu bestehen, daß der besungene Gegenstand durchaus derselbige bleibet, damit das Gemüth dieselbe Empfindung lange genug behalte, um völlig davon durchdrungen zu werden, und damit der Gegenstand der Empfindung von mehreren, aber immer dasselbe würkenden Seiten, betrachtet werden.

Schon daraus allein, daß man von dem Lied erwartet, es soll eine einzige leidenschaftliche Empfindung eine Zeitlang im Gemüth unterhalten, und eben da durch dieselbe allmählig tiefer und tiefer einprägen, bis die ganze Seele völlig davon eingenommen und beherrschet wird, könnten fast alle Vorschriften [713] für den Dichter hergeleitet werden. Soll es z.B. das Herz ganz von Dankbarkeit gegen Gott erfüllen, so dürfte der Dichter nur durch das ganze Lied die verschiedenen göttlichen Wolthaten in einem recht rührenden Ton erzählen; wobey er sich aber auch nicht die geringste von den Ausschweifungen auf andre Gegenstände, die der Ode so gewöhnlich sind, erlauben müßte. Soll das Lied Muth zum Streit machen, so müßte durchaus entweder Haß gegen den Feind, oder Vorstellung von der Glükseeligkeit, der durch den Streit zu erkämpfenden Ruhe und Freyheit, oder andre Vorstellungen, wodurch der Muth unmittelbar angeflammt wird, ohne Abweichung auf andre Dinge vorgetragen werden.

Es ist überhaupt nothwendig, daß der Dichter von der Empfindung, die er durch das Lied unterhalten und allmählig verstärken will, selbst so ganz durchdrungen sey, daß alle andre Vorstellungen und Empfindungen alsdenn völlig ausgeschlossen bleiben; daß er nichts, als das einzige, was er besingen will, fühle; daß er ein völliges uneingeschränktes Gefallen an dieser Empfindung habe, und ihr gänzlich nachhange. In der Ode kann sich seine Laune, ehe er zu Ende kommt, mehr als einmal ändern; im Lied muß sie durchaus dieselbe seyn.

Wenn man bedenket, wie wenig ofte dazu erfodert wird, die Menschen in leidenschaftliche Empfindung zu sezen;4 und wie leicht es ist, eine einmal vorhandene Laune durch Dinge, die ihr schmeicheln, immer lebhafter zu machen, so wird man begreifen, daß zum Inhalt des Liedes wenig Veranstaltungen erfodert werden. Es giebt mancherley Gelegenheiten, besonders wenn mehrere Menschen in einerley Absicht versammlet sind, wo ein Wort, oder ein Ton, alle plözlich in sehr lebhafte Empfindung sezet. Bey traurigen Gelegenheiten, wo jedermann in stiller und ruhiger Empfindung für sich staunet, darf nur einer anfangen zu weinen, um allen übrigen Thränen abzuloken; so wie bey gegenseitigen Anläsen, das Lachen eines einzigen, eine ganze Gesellschaft lachen macht. Man hat Beyspiele, daß die Aeußerung der Furcht, oder des Muthes eines einzigen Menschen ganze Schaaren furchtsam, oder beherzt gemacht hat. Und wie ofte geschieht es nicht, daß man in Gesellschaft vergnügt und fröhlich ist, lacht und scherzet; oder im Gegentheil, daß Leute aufgebracht sind, Meuterey und Aufruhr anfangen, ohne eigentlich zu wissen warum. Ein einziger hat den Ton angegeben, und die übrigen sind davon angestekt worden.

Hieraus ist abzunehmen, daß bey gewissen Gelegenheiten, ein Lied, wenn es nur den wahren Ton der Empfindung hat, auch ohne besondere Kraft seines Inhalts, ungemein große Würkung thun könne; woraus denn ferner folget, daß der empfindungsvolle Ton, worin die Sachen vorgetragen werden, dem Lied die größte Kraft gebe. Darum sind da, weder tiefsinnige Gedanken, noch Worte von reichem Inhalt, noch kühne Wendungen, noch andre der Ode vorbehaltene Schönheiten nöthig. Das einfacheste ist zum Lied das beste, wenn es nur sehr genau in dem Ton der Empfindung gestimmt ist.

Der Inhalt des Liedes kann von zweyerley Art seyn. Entweder schildert der Dichter seine vorhandene Empfindung, seine Liebe, Freude, Dankbarkeit, Fröhlichkeit u.s.f. oder er besinget den Gegenstand, der ihn, oder andern, in die leidenschaftliche Empfindung sezen soll; oder es enthält wol auch nur bloße Betrachtungen solcher Wahrheiten, die das Herz rühren. Denn wir möchten diese lehrenden Lieder nicht gern verworffen sehen; obgleich unser größte Dichter5 sie nicht zulassen will. Aus diesen drey Arten entsteht die vierte, da der Inhalt des Liedes abwechselnd, bald von der einen, bald von der andern Art ist. Bey allen Arten muß der Ausdruk einfach, ungekünstelt, und so viel immer möglich durch das ganze Lied sich selbst gleich seyn. Alles muß in kurzen Säzen, wo die Worte natürlich und leicht zusammengeordnet sind, ausgedrukt werden: die Schilderungen müssen kurz und höchst natürlich seyn. Es muß nichts vorkommen, das die Aufmerksamkeit auf erforschendes Nachdenken leiten, folglich von der Empfindung abführen könnte. Deswegen sowol der eigentliche, als der figürliche Ausdruk mit allen Bildern bekannt und geläufig seyn muß. Wo der Dichter lehren, unterrichten, oder überreden will, muß er höchst popular seyn, und den Sachen mehr durch einen völlig zuversichtlichen Ton, als durch Gründe den Nachdruk geben. Sezet man zu diesem noch hinzu, daß das Lied, sowol in der Versart, als in dem Klang der Worte, den leichtesten Wolklang haben müsse, so wird man den innerlichen und äußerlichen Charakter desselben ziemlich vollständig haben. [714] Daß das nach diesem Charakter gebildete und von Musik begleitete Lied eine ausnehmende Kraft habe, die Gemüther der Menschen völlig einzunehmen, ist eine aus Erfahrung aller Zeiten und Völker bekannte Sache: denn schon der Gesang, ohne vernehmliche Worte, so wie er sich zum Lied schiket, (wovon im nächsten Artikel besonders gesprochen wird) hat eine große Kraft Empfindung zu erweken: kommen nun noch die eigentlichsten auf denselben Zwek abziehlenden Vorstellungen dazu, und wird beydes durch das Bestreben des Singenden, seine Töne recht nachdrüklich, recht empfindungsvoll vorzutragen, noch mehr gestärket; so bekommt das Lied eine Kraft der in dem ganzen Umfange der schönen Künste nichts gleich kommt. Denn das blos Mechanische des Singens führet schon etwas, den Affekt immer mehr verstärkendes, mit sich. Die höchste Würkung aber hat dasjenige Lied, welches von vielen Menschen zugleich feyerlich abgesungen wird; weil alsdenn, wie anderswo gezeiget worden,6 die leidenschaftlichen Eindrüke am stärksten werden, wenn mehrere zugleich sie äußern.

Unter die wichtigsten Gelegenheiten großen Nuzen aus den Liedern zu ziehen, sind die gottesdienstlichen Versammlungen, zu deren Behuf unter allen gesitteten Völkern alter und neuer Zeiten, besondere Lieder verfertiget worden. Von allen zu Erwekung und Bekräftigung wahrer Empfindungen der Religion gemachten, oder noch zu machenden Anstalten, ist gewiß keine so wichtig, als diese. Schon dadurch allein, daß jedes Glied der Versammlung das Lied selbst mitsingt, erlanget es eine vorzügliche Kraft über die beste Kirchenmusik, die man blos anhört. Denn es ist ein erstaunlicher Unterschied zwischen der Musik, die man hört, und der, zu deren Aufführung man selbst mitarbeitet. Die geistlichen Lieder, die blos rührende Lehren der Religion in einem andächtigen Ton vortragen, bekommen durch das Singen eine große Kraft; denn in dem wir sie singen, empfinden wir auch durch das bloße Verweilen auf jedem Worte, seine Kraft weit stärker, als beym Lesen.

Deswegen sollten die, denen die Veranstaltungen dessen, was den öffentlichen Gottesdienst betrift, aufgetragen sind, sich ein ernstliches Geschäft daraus machen, alles was hiezu gehöret auf das Beste zu veranstalten. Unsre Vorältern scheinen die Wichtigkeit dieser Sache weit nachdrüklicher gefühlt zu haben, als man sie izt fühlt. Die Kirchenlieder, und das Absingen derselben, wurden vor Zeiten als eine wichtige Sach angesehen, izt aber wird dieses sehr vernachläßiget. Zwar haben unlängst einige unsrer dichter, durch das Beyspiel des verdienstvollen Gellerts ermuntert, verschiedene Kirchenlieder verbessert, auch sind ganz neue Sammlungen solcher Lieder gemacht worden: und es fehlet in der That nicht an einer beträchtlichen Anzahl alter und neuer sehr guter geistlicher Lieder. Aber der Gesang selbst wird bey dem Gottesdienst fast durchgehends äusserst vernachläßiget; ein Beweiß, daß so mancher Eyferer, der alles in Bewegung sezet, um gewisse in die Religion einschlagende Kleinigkeiten nach alter Art zu erhalten, nicht weiß was für einen wichtigen Theil des Gottesdienstes er überstehet, da er den Kirchengesang mit Gleichgültigkeit in seinem Verfall liegen läßt.

Nächst den geistlichen Liedern kommen die, welche auf Erwekung und Verstärkung edler Nationalempfindungen abziehlen, vornehmlich in Betrachtung. Die Griechen hatten ihre Kriegesgesänge und Pöane, die sie allemal vor der Schlacht zur Unterstüzung des Muthes feyerlich absangen, und ohne Zweifel hatten sie auch noch andre auf Unterhaltung warmer patriotischer Empfindungen abziehlende Lieder, die sowol bey öffentlichen- als privat- Gelegenheiten angestimmt wurden. Auch unsre Vorältern hatten beyde Gattungen: die Barden, deren Geschäft es war, solche Lieder zu dichten, und die Jugend im Absingen derselben zu unterrichten, machten einen sehr ansehnlichen öffentlichen Stand der bürgerlichen Gesellschaft aus. Wenn unsre Zeiten vor jenen, einen Vorzug haben, so besteht er gewiß nicht darin, daß diese und noch andre politische Einrichtungen, die auf Befestigung der Nationalgesinnungen abziehlen, izt völlig in Vergessenheit gekommen sind. Aber wir müssen die Sachen nehmen, wie sie izt stehen. Man muß izt blos von wolgesinnten, ohne öffentlichen Beruf und ohne Aufmunterung, aus eigenem Trieb arbeitenden Dichtern, dergleichen Lieder erwarten. Unser Gleim hat durch seine Kriegeslieder das seinige gethan, um in diesem Stük die Dichtkunst wieder zu ihrer ursprünglichen Bestimmung zurük zu führen. Durch sein Beyspiel ermuntert, hat Lavater ein warmer Republicaner, für seine Mitbürger patriotische Lieder gemacht, darin viel Schäzbares ist. Es ist zu wünschen, [715] daß diese Beyspiele mehrere Dichter, die außer dem poetischen Genie wahre Vernunft und Rechtschaffenheit besizen, zur Nachfolge reize.

Die dritte Stelle könnte man den sittlichen Liedern einräumen, welche Aufmunterungen entweder zu allgemeinen menschlichen Pflichten, oder zu den besondern Pflichten gewisser Stände enthalten, oder die die Annehmlichkeiten gewisser Stände und Lebensarten besingen. Diese müssen, wenn man nicht die natürliche Ordnung der Dinge verkehren will, den bloßen Ermunterungen zur Freude vorgezogen werden. Noch ehe man ein: Brüder laßt uns lustig seyn, anstimmt, welches allerdings auch seine Zeit hat, sollte man ein: Brüder laßt uns fleißig, oder redlich seyn, gesungen haben. Man findet daß die Griechen Lieder für alle Stände der bürgerlichen Gesellschaft, und für alle Lebensarten gehabt haben,7 die zwar, wie aus einigen Ueberbleibseln derselben zu schließen ist, eben nicht immer von wichtigem Inhalt gewesen: aber darum sollte eine so nüzliche Sache nicht völlig versäumt, sondern mit Verbesserung des Inhalts nachgeahmt werden. Man hat ein so leichtes und doch so kräftiges Mittel, die Menschen zum Guten zu ermuntern, nicht so sehr vernachläßigen sollen. Es ist bereits im Artikel über die Leidenschaften erinnert worden, was einer der fürtrefflichsten Menschen, der zugleich ein Mann von großem Genie ist, von der Wichtigkeit solcher Lieder denkt. Man wird schwerlich ein würksameres und im Gebrauch leichteres Mittel finden, als dieses ist, die Gesinnungen und Sitten der Menschen zu verbessern. Ich besinne mich in einer vor nicht gar langer Zeit herausgekommenen Sammlung englischer Gedichte von einem gewissen Hamilton ein Lied von ausnehmender Schönheit gelesen zu haben, darin ein edles junges Frauenzimmer den Charakter des Jünglings schildert, den sie sich zum Gemahl wählen wird. Es ist so voll edler Empfindungen, und sie sind in einen so einnehmenden Ton vorgetragen, daß ich mir nicht vorstellen kann, wie ein junges Frauenzimmer ein solches Lied, zumal wenn es gut in Musik gesezt wäre, ohne merklich nüzlichen Einfluß auf ihr Gemüth, singen könnte. Zu wünschen wäre, daß jede Angelegenheit des Herzens auf eine so einnehmende und rührende Weise in Liedern behandelt würde. Hier öffnet sich ein unermeßliches Feld für Dichter, die die Gabe besizen ihre Gedanken in leichte und melodiereiche Verse einzukleiden.

Zunächst an diese Gattung gränzen die sanften affektvollen Lieder, deren Charakter Zärtlichkeit ist. Klagelieder über den Tod einer geliebten Person; Liebeslieder von wahrer Zärtlichkeit, durch seine sittliche Empfindungen veredelt; Klagen über Wiederwärtigkeit; freudige Aeußerungen über erfüllte Wünsche und dergleichen. Man hat in dieser Art Lieder von der höchsten Schönheit. Was kann z. E. einnehmender seyn, als der Abschied von der Nice des Metastasio? Alles, was von wolgeordneten zärtlichen Empfindungen der edelsten Art in das menschliche Herz kommen kann, werden recht gute Liederdichter in dieser Art anbringen können. Sie können ungemein viel zur Veredlung der Empfindungen beytragen. Und wenn auch zulezt nichts darin seyn sollte, als eine naive Aeußerung irgend einer unschuldigen Empfindung, so sind sie wenigstens höchst angenehm. Hievon will ich nur ein paar Beyspiele zum Muster anführen. Das eine ist das bekannte Lied: Siehst du jene Rosen blühn; das andere ein Lied aus der comischen Oper die Jagd, das anfängt: Schön sind Rosen und Jesminen.

Eine ganz besondere Annehmlichkeit und Kraft Empfindungen einzupflanzen, könnten solche Lieder haben, wo zwey Personen abwechselnd singen und mit einander um den Vorzug feiner und edler Empfindungen streiten. Man weiß wie sehr Scaliger von dem Horazischen Lied: Donec gratus eram tibi,8 gerührt worden: und doch ist es im Grund blos naiv. So könnte aus Klopstoks Elegie Selmar und Selma ein fürtreffliches Lied in dieser Art gemacht werden; und so könnte man zwey in einander verliebte Personen in abwechselnden Strophen singen lassen, da jede auf eine ihr eigene Art zwar natürliche, aber feine und edle Empfindungen äusserte; oder zwey Jünglinge einführen, die wetteyfernd die liebenswürdigen Eigenschaften ihrer Schönen besängen. Offenbar ist es, wie dergleichen Gesänge, wenn der Dichter Verstand und Empfindung genug hat, von höchstem Nuzen seyn könnten. Nur müßte man sich dabey auf der einen Seite nicht bey blos sinnlichen [716] Dingen, einem Grübchen im Kinn, oder einem schönen Busen, aufhalten und immer mit dem Amor, mit Küssen und den Grazien spielen; noch auf der andern Seite seine Empfindungen ins phantastische treiben und von lauter himmlischen Entzükungen sprechen. Die Empfindungen, die man äußert, müssen natürlich und nicht im Enthusiasmus eingebildet seyn; nicht auf bloß vorübergehende Aufwallungen, sondern auf dauerhafte, rechtschaffenen Gemüthern auf immer eingeprägte Züge des Charakters gegründet seyn. Hier wär also für junge Dichter von edler Gemüthsart noch Ruhm zu erwerben. Denn dieses Feld ist bey der ungeheuren Menge unsrer Liebeslieder, noch wenig angebaut.

Zulezt stehen die Lieder, die zum gesellschaftlichen Vergnügen ermuntern. Diese, auch selbst die artigen Trinklieder, wenn sie nur die, von der gesunden Vernunft gezeichneten Gränzen einer wolgesitteten Fröhlichkeit nicht überschreiten, sind schäzbar. Die Fröhlichkeit gehört allerdings unter die Wolthaten des Lebens, und kann einen höchst vortheilhaften Einflus auf den Charakter der Menschen haben. Der hypochondrische Mensch ist nicht blos dadurch unglüklich, daß er seine Tage mit Verdruß zubringt; ihn verleitet der Verdruß sehr oft unmoralisch zu denken, und zu handeln. Wol ihm, wenn die Dichter der Freude sein Gemüth bisweilen erheitern könnten!

Aber es ist nicht so leicht, als sich der Schwarm junger unerfahrner Dichter einbildet, in dieser Art etwas hervorzubringen, das den Beyfall des vernünftigen und feineren Theils der Menschen verdienet. Nur gar zu viel junge Dichter in Deutschland haben uns läppische Kindereyen, anstatt scherzhafter Ergözlichkeiten gegeben; andre haben sich als ekelhafte, grobe Schwelger, oder einem würklich liederlichen Leben nachhängende verdorbene Jünglinge gezeiget, da sie glaubten eine anständige Fröhlichkeit des jugendlichen und männlichen Alters zu besingen. Es ist nichts geringes auf eine gute Art über gewisse Dinge zu scherzen, und bey der Fröhlichkeit den Ton der feineren Welt zu treffen. Wer nicht lustig wird, als wann er im eigentlichen Verstand schwelget; wen die Liebe nicht vergnügt, als durch das Gröbste des thierischen Genusses, der muß sich nicht einbilden mit Wein und Liebe scherzen zu können. Mancher junge deutsche Dichter glaubt, die feinere Welt zu ergözen, und Niemand achtet seiner, als etwa Menschen von niedriger Sinnesart, die durch die schönen Wissenschaften so weit erleuchtet worden, daß sie wissen, was für Gottheiten Bachus, Venus und Amor sind. Aber wir haben uns hierüber schon anderswo hinlänglich erkläret.9 Der große Haufen unsrer vermeintlich scherzhaften Liederdichter verdienet nicht, daß man sich in umständlichen Tadel ihrer kindischen Schwermereyen einlasse. Unser Hagedorn kann auch in dieser Art zum Muster vorgestellt werden. Seine scherzhaften Lieder sind voll Geist, und verrathen einen Mann, der die Fröhlichkeit zu brauchen gewußt hat, ohne sie zu mißbrauchen. Aber hierin scheinen die französischen Dichter an naivem, geistreichem und leichtem Scherz alle andern Völker zu übertreffen. Man hat eine große Menge ungemein schöner Trinklieder von dieser Nation.

Die blos wizig scherzhaften Lieder, worin außer einigen schalkhaften Einfällen auch nichts ist, das zur Fröhlichkeit ermuntert, verdienen hier gar keine Betrachtung, und gehören vielmehr in die geringste Classe der Gedichte, davon wir unter dem Namen Sinngedichte sprechen werden. Zu dieser Art rechnen wir z.B. das X Lied im ersten Theil der vorherangezogenen Berlinischen Sammlung einiger Oden mit Melodien, welches zur Aufschrift hat: Kinderfragen und noch mehrere dieser Sammlung. Noch weniger rechnen wir in die Classe der nüzlichen Lieder diejenigen, die persönliche Satyren enthalten; wie so viele Vaudevilles der französischen Dichter. Sie sind ein Mißbrauch des Gesanges.

Unsere heutige Meister und Liebhaber der Musik machen sich gar zu wenig aus den Liedern. In keinem Concert höret man sie singen: rauschende Concerte, mit nichtsbedeutenden Symphonien untermischt, und mit Opernarien abgewechselt, sind der gewöhnliche Stoff der Concerte, die deswegen von gar viel Zuhörern mit Gleichgültigkeit und Gähnen belohnt werden. Glauben dann die Vorsteher und Anordner dieser Concerte, daß sie sich verunehren würden, wenn sie dabey Lieder singen ließen? Und können sie nicht einsehen, wie wichtig sie dadurch das machen könnten, was izt blos ein Zeitvertreib ist und ofte so gar dieses nicht einmal wäre, wenn die Zuhörer sich nicht noch auf eine andre Weise dabey zu helfen wüßten? Daß man sich in Concerten der Lieder schämet, beweißt, daß die Tonkünstler selbst nicht mehr wissen, woher ihre Kunst entstanden ist, und wozu sie dienen soll; daß sie lieber, wie Seiltänzer [717] und Taschenspieler, Bewunderung ihrer Geschiklichkeit in künstlichen Dingen, als den hohen Ruhm suchen, in den Herzen der Zuhörer jede heilsame und edle Empfindung rege zu machen. Man erstaunet bisweilen zu sehen, in was für Hände die göttliche Kunst das menschliche Gemüth zu erhöhen, gefallen ist!

Das Lied scheinet die erste Frucht des aufkeimenden poetischen Genies zu seyn. Wir treffen es bey Nationen an, deren Geist sonst noch zu keiner andern Dichtungsart die gehörige Reife erlanget hat; bey noch halb wilden Völkern. In dem ältesten Buch auf der Welt, welches etwas von der Geschichte der ersten Kindheit des menschlichen Geschlechts erzählt, haben Sprach- und Alterthumsforscher, Spuhren der urältesten Lieder gefunden, und Herodotus gedenkt im zweyten Buche seiner Geschichten eines Liedes, das auf den Tod des einzigen Sohnes des ersten Königs von Aegypten gemacht worden. Die Griechen waren überausgroße Liebhaber der Lieder. Bey allen ihren Festen, Spielen, Mahlzeiten, fast bey allen Arten gesellschaftlicher Zusammenkünfte, wurde gesungen; worüber man in der vorhererwähnten Abhandlung des La Nauze umständliche Nachrichten findet. Ein neuer Schriftsteller10 versichert, daß die heutigen Griechen, noch in diesem Geschmak sind. Auch die älteren Araber waren große Liederdichter; der Barden unter den alten Celtischen Völkern ist bereits erwähnt worden. Die Römer, die überhaupt ernsthafter, als die Griechen waren, scheinen sich weniger aus dem Singen gemacht zu haben. Man nennt uns funfzig Namen eben so vieler Arten griechischer Lieder, deren jede ihre besondere Form und ihren besondern Inhalt hatte, aber keinen ursprünglich Römischen.

Unter den heutigen Völkern sind die Italiäner, Franzosen, und Schottländer die größten Liebhaber der Lieder. In Deutschland hingegen ist der Geschmak für diese Gattung sehr schwach, und es ist überaus selten, das man in Gesellschaften singt. Dennoch haben unsre Dichter diese Art der Gedichte nicht verabsäumet. Hr. Ramler hat eine ansehnliche Sammlung unter dem Namen der Lieder der Deutschen herausgegeben. Aber die meisten scheinen mehr aus Nachahmung der Dichter andrer Nationen, als aus wahrer Laune zum Singen, entstanden zu seyn. Nur in geistlichen Liedern haben sowol ältere Dichter um die Zeit der Kirchenverbesserung, als auch einige Neuere, sich auf einer vortheilhaften Seite, und mehr, als bloße Nachahmer gezeiget.

1S. Art. Gedicht S. 435.
2z. B. der Schlachtgesang S. 71; Heinrich der Vogler S. 111; Vaterlandslied. S. 214. sind besser Lieder, als Oden zu nennen.
3S. Cadenz.
4S. Empfindung, Leidenschaft.
5Klovstok in der Vorrede zu seinen verbesserten geistlichen Liedern.
6S. Leidenschaft.
7Eine ziemlich vollständige Nachricht davon findet man in einer Abhandlung des Herrn La Nauze über die Lieder der Griechen in dem IX Theile der Memoires de l'Academie des Inscriptions et Belles-Lettres.
8Od. L. III. 19.
9S. Freude.
10Porter in seinen Anmerkungen über die Türken.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 713-718.
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