Jüdische Literatur

[509] Jüdische Literatur, die, d.h. diejenige, welche sich durch Juden seit dem Ende der babylonischen Gefangenschaft und seit der Zerstreuung des jüdischen Volkes über die ganze Erde entwickelte, ist eine zwiefache; erstens eine uneigentliche j. L., bestehend aus der Gesammtheit der Werke, welche Gegenstände der Wissenschaft oder Kunst behandeln, von Juden ausgingen und vorherrschend in verschiedenen Sprachen abgefaßt wurden, je nach Land oder Zeit, worin der Verfasser lebte. Jahrhunderte lang durchwehte der Glaube des Juden die Werke dieser Art, wenn nicht etwa der Inhalt dies ganz unmöglich machte wie z.B. bei mathematischen Werken; zweitens eine eigentliche j. L., eine Volksliteratur, deren wissenschaftliche Werke u. Dichtungen einen vorherrschend theologischen Charakter haben und in der hebräischen oder Volkssprache geschrieben wurden. Die Perioden dieser j. L. werden verschieden angegeben, einerseits weil sie keine regelmäßige innere Entwicklung hat, anderseits weil ihre Erzeugnisse und Vertreter nichts weniger als genügend bekannt sind. In der ersten Periode. die füglich von 536 v. Chr. bis 150 n. Chr. gerechnet werden kann, entstanden die Bibelübersetzungen (Targumim), für die griechisch redenden Juden die der Septuaginta, theilte die Schriftauslegung (Midrasch) sich bereits in Haggadah (s. d.) und Hallachah, kamen die Apokryphen, wurde in Jerusalem der Sanhedrin errichtet (210 o. Chr.), blühten Schulen auf (s. Hillel), lebten Flavius Josephus, Poilo, Akiba. In die zweite Periode (150–750 n. Chr. ) fällt [509] die Blüte jüdischer Gelehrtenschulen in Palästina und seit 219 in Babylonien, wurde der Buchstabe des Gesetzes immer umfassender und subtiler auf die veränderten Lebensverhältnisse und auf besondere Fälle angewendet, legte um 250 Rabbi Juda Hakkadosch durch seine Sammlung (Mischna) den Grund zum Talmud oder zur Gemara. Im 6. Jahrhundert wurde der babylonische Talmud fertig. vom 6–8. entstanden in Palästina die Masora, Sammlungen älterer Haggadahs, selbständige Auslegungen, gab es Volkslieder, Fabel- und Sagendichter und entwickelte sich die Kabbalistik (s. Kabbala). In der dritten Periode (750–1040) redeten die Juden bereits die jedesmalige Landessprache, kam durch Anregung der Araber, des Islam und durch die Gunst der Khalifen eine ebenso reiche als vielseitige j. L. im weiteren sowohl wie im engern Sinne auf, waren tüchtige jüdische Schriftsteller in Nordafrika und bereits in Italien (Bari, Otranto) keine Seltenheit. Von all den jüdischen Exegeten, Chronisten, Dichtern, Grammatikern, Aerzten u.s.w. nennen wir nur den Bibelübersetzer Saadia Fajjumi, geboren zu Sora am Euphrat, gest. 942, die Geonim (Schulvorstände) Scherira, Juda Levi. Hai. Endete das Zeitalter der Geonäer in Babylonien, das silberne der j. L., im 11. Jahrhundert. so hatten seit 840 bereits in Spanien Ben Labrat. Ben Chasdai, der Dichter Kalfon u.a. ein goldenes vorbereitet, dessen Dauer um so eher bis 1492 angenommen werden kann, weil von Spanien und Italien aus sich das jüdische Schriftstellerthum durch Frankreich und Deutschland verbreitete und hier namhafte Vertreter fand. Hier seien nur genannt: der Dogmatiker Jehuda Levi (um 1140), der große Maimonides (1135–1204), Mose de Kozzi (um 1230), Aaron aus Barcelona (st. 1292), der Dichter Alcharisi, endlich Joseph Albo, der 1412 vor dem Papste Benedict XIII. im berühmtesten aller christlich-jüdischen Religionsgespräche seinen Glauben vertheidigte; in Frankreich ernteten Raschi als Exeget, die beiden Kimchi als Grammatiker großen Ruhm. Im 13. Jahrhundert wurden alle Werke, die sich mit Bibelauslegung befaßten, der ganze Midrasch, zu einer Gesammtauslegung der ganzen Bibel zusammengetragen, zu dem s. g. Jalkut, der noch heute im Gebrauch ist. Ferner trugen die Philosopheme ihre Früchte, die Kabbalistik wurde zu einem System des Aberglaubens, der Kampf zwischen Talmudisten, Kabbalisten und Philosophen förderte zunächst den Zerfall der j. L. Das Ende des 15. Jahrhunderts brachte die Buchdruckerkunst bereits in Flor und im Morgen- und Abendlande, wo immer die Juden nicht vertrieb en wurden, namentlich auch in Deutschland. waren tüchtige jüdische Gelehrte zu finden und wurden in Europa viele Werke von Juden in allen Sprachen gedruckt. Aber im Ganzen war die vierte Periode, die von 1492–1750 die des Zerfalles und weit weniger die j. L. im engern als die im weitern Sinn hat nur Einen epochemachenden Vertreter gefunden: Spinoza. Die fünfte Periode, 1750–x, begann mit M. Mendelssohn und seitdem hat die jüdische Literatur im engern und noch weit mehr im weitern Sinn großartigen Aufschwung genommen. Fehlt aber jener die Einigkeit u. schwankt sie zwischen starrem Glauben und Unglauben, so tragen die in den Landessprachen schreibenden Vertreter der j. L. oft genug den Fanatismus des Unglaubens und der Revolution zur Schau, wobei übrigens anzuerkennen ist, daß viele Juden bei großem Scharfsinn und einer Fülle von Geist sich sehr wesentliche Verdienste um Gelehrsamkeit. Wissenschaft u. Dichtkunst erwarben.

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1855, Band 3, S. 509-510.
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