Cherbuliez

[6] Cherbuliez (spr. schärbüljē), einflußreiche Familie in Genf, deren Glieder sich durch wissenschaftliche und literarische Tätigkeit auch im Ausland einen ehrenvollen Ruf begründet haben. Söhne des Verlagsbuchhändlers Abraham C. sind:

1) André, Schriftsteller, geb. 1795, gest. 14. Juni 1874 in Genf, lebte nach Beendigung seiner theologischen Studien als Hauslehrer in Italien und zu Paris, bekleidete, nach Genf zurückgekehrt, einige Zeit ein Predigeramt und erhielt 1840 die Professur der lateinischen, 1846 die deralten Literatur an der Genfer Akademie. Von wissenschaftlichem Wert sind seine Schriften: »De libro Job« (Genf 1820) und »Essai sur la satire latine« (das. 1829) sowie mehrere in der »Bibliothèque universelle de Genève« veröffentlichte Abhandlungen.

2) Antoine Elisée, staatswissenschaftl. Schriftsteller, Bruder des vorigen, geb. 29. Juli 1797, gest. 14. März 1869 in Zürich, studierte die Rechte, war eine Zeitlang Advokat, habilitierte sich dann mit der »Dissertation sur les causes naturelles du droit positif« (Genf 1826) an der Genfer Akademie und wurde 1835 daselbst Professor der Rechte und der politischen Ökonomie. Er nahm mit Auszeichnung Anteil an der Regierung seiner Vaterstadt und machte sich als Redakteur einflußreicher Zeitschriften und durch juristische, politische und nationalökonomische Werke bekannt. Die Ansichten Benthams und Dumonts verteidigte er in »L'utilitaire« (Genf 1828–30, 3 Bde.), besprach die sozialen Fragen der Gegenwart in der Schrift »Riche ou pauvre« (das. 1840; in 2. Aufl. u. d. T.: »Richesse ou pauvreté«, Par. 1841) und erörterte in der »Théorie des garanties constitutiennelles« (das. 1838, 2 Bde.) die Grundsätze des konstitutionellen Rechts. In dem geistvollen Buch »De la démocratie en Suisse« (Par. 1843, 2 Bde.) sagte er nianches voraus, was später seine Verwirklichung fand. Infolge der Revolution von 1846 legte C. seine Professur nieder und wendete sich nach Paris, wo er zwei Journale redigierte und unter andernt mehrere gegen die Sozialisten und besonders gegen Proudhon gerichtete Schriften veröffentlichte, z. B. »Simples notions de l'ordre sociale à l'usage de tout le monde« (Par. 1848) und »Le potage à la tortue, ou entretiens populaires sur les questions sociales« (das. 1849). Sein wichtigstes Werk sind die »Études sur les causes de la misère tant morale que physique et sur les moyens d'y porter remède« (Par. 1853); sehr geschätzt ist auch sein »Précis de la science économique« (das. 1862, 2 Bde.). 1853 nach der Schweiz zurückgekehrt, wirkte er erst in Lausanne, später als Professor am Polytechnikum zu Zürich.

3) Joel, Schriftsteller, Bruder des vorigen, geb. 1806, gest. 31. Okt. 1870 in Genf, übernahm das väterliche Geschäft und wurde namentlich als Herausgeber der »Revue critique des livres nouveaux« (Paris, später in Genf erschienen, 1833ff.) bekannt. In einer Art von Roman: »Le lendemain du dernier jour d'un condamné« (Par. 1829), versuchte er eine Parodie und Kritik von Victor Hugos Buch gegen die Todesstrafe. Außerdem redigierte er mehrere Jahre hindurch die konservativen Btätter: »Le Fédéral« und »Le Journal de Genève« und schrieb in derselben Richtung für die »Revue des Deux Mondes«. Als Geschichtsforscher hat sich C. legitimiert durch sein Werk »Genève, ses institutions, ses mœurs, etc.« (1867).[6] Von den Schwestern der Genannten machte sich die ältere, Mad. Tourt e-C. (geb. 1793, gest. 1863), durch Erzählungen und RomaneAnnette Gervais«, deutsch, Hanib. 1843; »Le journal d'Amélie« u. a.), und die jüngste, Adrienne, geb. 1804, durch ihre Übersetzung von Zschokkes Novellen (Par. 1830–32, 12 Bde.) u. einiger Novellen von H. v. Kleist (das. 1832, 3 Bde.) bekannt. Über die Familie C. vgl. Rambert, Écrivains nationaux suisses, Bd. 1 (Genf 1874).

4) Victor, Schriftsteller, Sohn von C. 1), geb. 19. Juli 1829 in Genf, gest. 30. Juni 1899 in Combs-la-Ville (Seine-et-Marne), studierte in Genf, Paris, Bonn und Berlin zuerst Mathematik, dann Philologie und Philosophie und war in seiner Vaterstadt als Lehrer tätig, bis er 1864 einem Ruf, in die Redaktion der Pariser »Revue des Deux Mondes« einzutreten, folgte. C. hat sich besonders als Kunstkritiker und Romandichter einen geachteten Namen erworben. Seine Befähigung zu erstgenanntem Beruf bekundet sein geistvolles, Betrachtungen über die bildende Kunst enthaltendes Buch »Un cheval de Phidias. Causeries athéniennes« (2. Aufl. 1864; deutsch, Straßb. 1903), die Frucht einer Reise nach Griechenland und dem Orient, sowie seine »Études de littérature et d'art«, Aufsätze über deutsche Literatur und Kunstberichte über den Pariser Salon (1873). Von seinen Romanen, die sich durch seine Analyse der Leidenschaften und durch geistreichen, oft etwas gesuchten Stil auszeichnen, sind zu nennen: »Le comte Kostia« (1863; mehrfach deutsch); »Le prince Vitale« (1864); »Paule Méré« (1865); »Le roman d'une honnête femme« (1866; deutsch, Berl. 1867); »Le grand œuvre« (1867); »Prosper Randoce« (1868); »L'aventure de Ladislas Bolski« (1869; deutsch, Wien 1871); »La revanche de, Joseph Noirel« (1872); »Meta Holdenis« (1873); »Miss Rovel« (1875); »Le fiancé de Mlle. Saint-Maur« (1876; deutsch, Berl. 1881); »Samuel Brohl et Comp.« (1877; deutsch, Brem. 1879); »L'idée de Jean Têterol« (1878; deutsch, Leipz. 1880); »Noirs et rouges« (1881); »Olivier Maugant« (1885); »La Bête« (1887); »Une Gageure« (1896); »Le secret du précepteur« (1893); »Après Fortune faite« (1896); »Jacquine Vanesse« (1898) u. a. Die Bühnenbearbeitungen von »Samuel Brohl« u. »Ladislas Bolski« hatten nur geringen Erfolg. Als politischer Schriftsteller machte sich C. bekannt durch die Schriften: »L'Allemagne politique« (1870; deutsch, Bern 1871); »L'Espagne politique« (1874); »Homme et choses d'Allemagne« (1877) und »Hommes et choses du temps présent« (1883), die beiden letztern Sonderausgaben seiner unter dem Pseudonym G. Va lb ert in der »Revue des Deux Mondes« veröffentlichten politischen Aufsätze, die durch ihre scharfe Kritik Aufsehen erregten. Nachdem C. 1880 als Nachkomme ausgewanderter Hugenotten das ihm zustehende französische Bürgerrecht angenommen hatte, wurde er 1881 Mitglied der französischen Akademie.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1906, S. 6-7.
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