Ideenassoziation

[736] Ideenassoziation (griech.-lat.), die unwillkürliche Verbindung von Empfindungen und Vorstellungen im Bewußtsein, im Gegensatz zu deren willkürlicher Verknüpfung durch das Denken und die produktive Phantasie. Die I. ist eine simultane oder sukzessive, je nachdem die verbundenen Elemente gleichzeitig oder nacheinander ins Bewußtsein treten. Die innigste Form der erstern ist die Verschmelzung (s. d.), bei der die Bestandteile (z. B. die an einer Sinneswahrnehmung beteiligten Empfindungen) ein unauflösliches Ganzes bilden. Eine zweite Form ist die Assimilation, bei der zu einer gegebenen Vorstellung Bestandteile ergänzend und modifizierend hinzutreten, die aus frühern Wahrnehmungen und Vorstellungen stammen. Die objektiven Eindrücke (z. B. beim Anhören einer Rede, beim Lesen eines Textes) sind fast immer unvollständig und werden erst durch Assimilation sinnvoll ergänzt, was uns freilich meist erst dann zum Bewußtsein kommt, wenn die Ergänzung in verkehrter Weise erfolgt ist (Verhören, Verlesen); ebenso beruht die unmittelbare Schätzung der Größe entfernter Gegenstände, das plastische Sehen perspektivischer Zeichnungen etc. durchaus auf Assimilation. Sind die durch I. verbundenen Elemente ungleichartig (insofern sie z. B. verschiedenen Sinnesgebieten angehören), so ist ihr Zusammenhang naturgemäß noch weniger fest, und man spricht dann von Komplikation. Eine Wirkung dieser letztern ist es z. B., wenn beim Sehen eines Gegenstandes uns zugleich andre nicht sichtbare Eigenschaften desselben zum Bewußtsein kommen (sein Geschmack, seine Härte etc.), wenn durch das Wort bild auch der Wort laut mehr oder weniger lebhaft vergegenwärtigt wird etc. Erfährt der Vorgang der I. eine solche Verzögerung, daß die ursprüngliche und die durch sie angeregte Vorstellung in getrennte Akte auseinanderfallen, so geht die simultane in die sukzessive I. über. Besonders bemerkenswerte Fälle der letztern sind das Erkennen (s. d.) und die Erinnerung (s. d.). Nach dem Verhältnis der verbundenen Vorstellungen zueinander unterscheidet man herkömmlicherweise innere und äußere I.; jene wird wieder in eine solche der Ähnlichkeit und des Kontrastes, diese in solche der zeitlichen und der räumlichen Berührung eingeteilt. Äußere I. liegt z. B. vor, wenn uns der leere Platz, den ein Abwesender einzunehmen pflegte, an diesen selbst erinnert, wenn Gewehrschüsse[736] hinter der Bühne die Vorstellung eines Kampfes erwecken, wenn nach dem Hersagen der ersten Zeile eines Gedichts uns die zweite einfällt etc. Innere I. ist es, wenn beim Anblick eines Löwen uns der Tiger vor das geistige Auge tritt, wenn die öde Winterlandschaft uns an die Pracht des Frühlings denken läßt etc. Da die äußern Eindrücke in mannigfach wechselnden und ungleich häufigen Verbindungen an uns herantreten und zwischen den Vorstellungen vielseitige Ähnlichkeiten bestehen, so ist es natürlich, daß mit ein und derselben Vorstellung verschiedene andre mehr oder weniger fest assoziiert sein können, von denen bald diese, bald jene hervortritt. Aus diesem Grund ist es ganz falsch, wenn ältere Psychologen den »Gesetzen der I.« dieselbe Bedeutung für das Seelenleben beilegten, wie sie die Naturgesetze für das äußere Geschehen haben, da es bei diesen letztern sich um ein für allemal feststehende und ausnahmslos gültige Normen handelt. Die Auffassung der I. als einer ursprünglichen und nicht weiter zu erklärenden Gesetzmäßigkeit ist auch deswegen unzulässig, weil die durch sie verbundenen Glieder in den meisten Fällen selbst schon zusammengesetzt sind, und ihr Zusammenhang also als eine Folge desjenigen ihrer Elemente angesehen werden muß. Soll von Assoziationsgesetzen die Rede sein, so können diese sich also nur auf die einfachen Empfindungen beziehen, und hier läßt sich allerdings die Regel aufstellen, daß jede augenblicklich vorhandene Empfindung die Tendenz hat, frühere ihr gleiche oder mit ihr in räumlicher oder zeitlicher Berührung gewesene ins Bewußtsein zu rufen. Da allen Empfindungen physiologische Vorgänge (im Gehirn) entsprechen, so stellt sich die Assoziation der Empfindungen als ein besonderer Fall der allgemeinen physiologischen Erscheinung der Übung (s. d.) dar. Von entscheidender Bedeutung für die Psychologie ist ferner die Frage, ob die Verbindung der psychischen Elemente ausschließlich auf I. beruht oder nicht. In dieser Hinsicht stehen einander die durch Hume und Condillac begründete, in der Gegenwart hauptsächlich durch James vertretene Assoziations- und die durch Wundt ausgebildete Apperzeptionstheorie gegenüber. Erstere verwendet die I. als alleinigen Erklärungsgrund, letztere leitet das Vorstellungsleben aus dem Zusammenwirken des (passiven) Vorganges der I. und der (aktiven) Funktion der Apperzeption (s. d.) ab. In der Tat entspricht nur der Ablauf der Traumbilder und die Ideenflucht der Irren dem reinen Schema der (sukzessiven) I., während der normale Gedankenlauf durch die beziehende und vergleichende Tätigkeit des Denkens beherrscht wird. Immerhin hat aber die I. einen sehr wesentlichen Anteil daran. Abgesehen von den von außen beständig zuströmenden Sinneseindrücken ist ihr allein der ununterbrochene Wechsel unsers Bewußtseinsinhalts zuzuschreiben, denn wohl nie taucht eine neue Vorstellung unabhängig von allen andern in uns auf, sondern das Neue gliedert sich immer durch I. an Vorhandenes an. Auch das Denken besitzt nicht die Macht, beliebige Vorstellungen ins Bewußtsein hineinzuziehen, sondern seine Leistung besteht nur darin, daß es aus der ganzen Masse von Vorstellungen, die mit den vorhandenen assoziiert sind und zum Bewußtsein drängen, einzelne heraushebt. Von der Mannigfaltigkeit und Vielseitigkeit der I. hängt zum größten Teile die Weite des geistigen Gesichtskreises, der Gedankenreichtum, ab. Kommt es hierbei mehr auf die Fülle als auf die Festigkeit der Vorstellungsverbindungen an, so ist die letztere wichtig, wenn es sich darum handelt, sicher funktionierende Gewohnheiten des Denkens und Handelns zu erzielen, worin eine Hauptaufgabe der Erziehung besteht. Über die zur I. nötige Zeit s. Zeitmessung. Vgl. Reproduktion.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 736-737.
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