[554] Kraftübertragung und -Verteilung (Kraftleitung, Kraftversorgung). Ist die Erzeugung der im Gewerbe- und Fabrikbetrieb, in industriellen Anlagen sonstiger Art, in Verkehrsanstalten etc. erforderlichen Betriebskraft an der Verbrauchsstelle selbst nicht oder nur unter ungünstigen Umständen möglich, oder steht an einem andern Ort eine Kraftquelle unter günstigen Bedingungen zur Verfügung (z. B. eine Wasserkraft), so erzeugt man die Betriebskraft an einem von der Verbrauchsstelle entfernten Ort und leitet sie mittels eines Kraftträgers (Kraftmittels) zu dieser hin (Kraftübertragung). In den meisten Fällen geht mit der Kraftübertragung Hand in Hand eine Kraftverteilung, d. h. es wird gleichzeitig an eine Reihe von Einzelbetrieben (kleinern und größern) von einer für diese gemeinschaftlichen, großen Krafterzeugungsanlage (Kraftzentrale) aus Kraft abgegeben. Der in erster Linie den Kleinbetrieben zugute kommende Vorteil der Kraftverteilung besteht darin, daß eine große Kraftzentrale wesentlich ökonomischer arbeitet als eine für Klein- und Einzelbetriebe in Frage kommende Anlage (vgl. Kleinkraftmaschinen).
Die heute zur K. u. V. dienenden Mittel sind:
1) Die Transmission (s. d., Wellen, Zahnrad-, Riemen- und Seiltrieb). Zahnrad-, Riemen-, Hanf- und Baumwollseiltrieb sowie Wellen kommen nur für kleinere und mittlere Entfernungen, z. T. auch nur für mäßige Kräfte zur Anwendung. Eine größere Ausdehnung ist wegen der bedeutenden Verluste durch Reibung nicht vorteilhaft. Zur Kraftübertragung auf größere Entfernungen und auch für größere Kräfte fand seither der Drahtseiltrieb viel Anwendung, obgleich auch hier die Reibungsverluste nicht unbeträchtlich und die Anlage eines Drahtseiltriebes gewisser Umstände wegen (Bodenbeschaffenheit, Störung des Verkehrs etc.) oft mit Schwierigkeiten verbunden ist. Berühmt waren die Seiltriebanlagen bei Schaffhausen mit 750 dem Rheinfall entnommenen und auf 470 m übertragenen Pferdekräften, in Freiburg in der Schweiz (1700 Pferdekräfte auf 765 m) und bei Bellegard an der Rhone (3150 Pferdekräfte auf 900 m). Derartige große Anlagen sind verdrängt von solchen, die mit andern Kraftträgern (hauptsächlich Elektrizität)[554] arbeiten. Bei der Kraftübertragung durch Transmission war früher auch die Kraftvermietung vielfach in Gebrauch, d. h. die von einer Kraftmaschine (Dampfmaschine, Gasmotor, Turbine etc.) aus in die einzelnen Räume, Stockwerke und benachbarten Gebäude übertragene und verteilte Betriebskraft wurde mit diesen Räumen zusammen an einzelne Handwerker, Gewerbtreibende etc. vermietet.
2) Druckwasser, das in Rohren zur Verwendungsstelle geleitet wird, bietet ein gutes Mittel zur K. u. V. auf größere Entfernungen, wenn seine Erzeugung nicht zu große Kosten verursacht. Sie geschieht durch natürliches Gefälle oder durch Pumpen. Auf erstere Art erzeugtes Druckwasser kommt seltener zur Anwendung, da in den meisten Fällen das vorhandene Gefälle zur Erzeugung des für eine ökonomisch arbeitende und billige Anlage erforderlichen hohen Druckes nicht ausreicht, bei Benutzung größerer Wassermengen mit geringem Druck aber weite Rohrleitungen erforderlich sind, durch welche die Anlagekosten in unzulässiger Weise erhöht werden. Die Erzeugung durch Pumpen ist billig, wenn zu deren Antrieb eine Wasserkraft benutzt werden kann, bei Dampf- oder Gasmaschinenbetrieb erhöht sich der Wasserpreis beträchtlich, besonders wenn das Druckwasser behufs Verwendung zu andern Zwecken (als Trinkwasser etc.) gereinigt werden muß. Daher sind die meisten städtischen Wasserleitungen zur Kraftversorgung in größerm Maßstabe nicht geeignet. Zur Ausnutzung des im Druckwasser enthaltenen Arbeitsvermögens an der Arbeitsstelle dienen Turbinen (s. Wasserräder), von denen das Peltonrad vielfach in Gebrauch ist, nach Art der Dampfmaschinen eingerichtete Wassersäulenmaschinen, unter denen der Motor von A. Schmidt der bekannteste ist, und bei Hebevorrichtungen hydraulische Zylinder nach Art der hydraulischen Pressen. Hier kommt in der Regel noch ein Akkumulator zur Verwendung, in dem die Arbeit von verhältnismäßig kleinen Motoren in solcher Menge aufgespeichert wird, daß ihm auf kurze Zeit sehr hohe Leistungen entnommen werden können. Derartige Einrichtungen finden sich bei Bahnhofs-, Hafen- und Speicheranlagen, bei Bessemerwerken etc. zum Betriebe von Aufzügen, Winden, Kranen etc. Ferner leistet die hydraulische Kraftübertragung in Bergwerken teils als hydraulische Gestänge für Pumpen, teils zum Betrieb unterirdischer Maschinen (Pumpen, Fördermaschinen, Gesteinsbohrmaschinen) gute Dienste. Kraftversorgungsanlagen mit Druckwasser finden sich z. B. in Zürich und Genf.
3) Gespannter Dampf wird zur Kraftübertragung auf mäßige Entfernungen häufig benutzt, z. B. zum Betrieb unterirdischer Bergwerksmaschinen, deren Kessel über Tag aufgestellt sind, oder zum Betrieb von Dampfmaschinen, die von einer gemeinschaftlichen Kesselzentrale aus gespeist werden. Zu letzterm Zweck hat man in Amerika vielfach ausgedehnte Dampfleitungen, die in erster Linie Heizzwecken dienen sollten, mit benutzt. Die Verluste durch Abkühlung und Kondensation des Dampfes sind jedoch ziemlich groß, auch nimmt bei großen Entfernungen der Leitungswiderstand erhebliche Werte an, so daß die Kraftübertragung durch Dampf nicht als vorteilhaft bezeichnet werden kann.
4) Gas, das in der Regel einer allgemeinen, in erster Linie Beleuchtungszwecken dienenden Leitung entnommen wird, findet seit den 1870er Jahren zur K. u. V. Verwendung. Sein Arbeitsvermögen wird in Gaskraftmaschinen durch Verbrennung (Explosion) nach vorhergegangener Mischung mit Luft nutzbar gemacht. Die Verwendung des Leuchtgases zur Kraftversorgung hat trotz des verhältnismäßig hohen Preises, der durch die infolge der Verwendung zur Beleuchtung erforderliche Benutzung teurer Kohle und durch die Reinigung verursacht wird, mit der fortschreitenden Verbesserung der Gasmotoren immer mehr zugenommen, und heute konkurriert diese Kraftübertragung erfolgreich mit andern, insbes. leistet sie da, wo es sich um kleinere stets bereite Kraftmaschinen handelt, vortreffliche Dienste.
5) Druckluft (komprimierte Luft, Preßluft) fand schon seit längerer Zeit zur Kraftübertragung in solchen Fällen Verwendung, in denen andre Kraftübertragungsmittel weniger geeignet waren (z. B. bei Bergwerken und Tunnelbauten mit Benutzung der verbrauchten Luft zur Ventilation). Die Kraftübertragung durch Luft erfolgt in der Weise, daß an einer Zentralstelle mittels Kompressoren (s. d.), die von Kraftmaschinen angetrieben werden, Luft verdichtet und in Sammlern aufgespeichert wird. Von hier wird die Druckluft in Rohrleitungen den Arbeitsstellen zugeführt. Dort wird sie mittels Luftmotoren (Druckluft-, Luftdruckmaschinen, s. Luftmaschinen) nutzbar gemacht, ferner dient sie heute in ausgedehntem Maße zum Betrieb von Druckluftwerkzeugen (s. d.) in Fabriken und Bergwerken (Drucklufthämmern,-Meißeln,-Bohrmaschinen etc.), zum Betrieb von Flüssigkeitshebe- und Fördervorrichtungen (in chemischen Fabriken), Aufzügen und andern Hebezeugen, pneumatischen Uhren, Rohrpostanlagen etc. Auch kann sie direkt zur Ventilation, Kaltluft- und Eisbereitung benutzt werden. Die ersten Druckluftkraftübertragungsanlagen arbeiteten mit sehr geringem Wirkungsgrad, da die Konstruktion der Kompressoren sehr mangelhaft war, und die Expansionsfähigkeit der Luft wegen Eisbildung nicht genügend ausgenutzt wurde. Erst bei der durch die Vorträge von Riedler (1889) bekannter gewordenen Pariser Kraftversorgungsanlage (durch Popp gegründet) hat sich gezeigt, daß der Wirkungsgrad, besonders bei der Ausführung im großen, einer bedeutenden Steigerung fähig und der Betrieb einfach und gefahrlos ist.
Die Pariser Anlage, ursprünglich zum Betrieb pneumatischer Uhren bestimmt, besitzt zwei Zentralen, eine in der Rue St.-Fargeau von 4000 und eine am Quai de la Gare mit 10,000, später 24,000 Pferdekräften. Während bei der ersten 2000pferdigen Anlage in der Rue St.-Fargeau (Kompressoren nach Sturgeons System) eine Dampfpferdekraft stündlich 7,5 cbm und bei der seit 1889 in Betrieb befindlichen Vergrößerung dieser Anlage (5 Kompressoren nach Dubois-François mit zusammen 2000 Pferdekräften) eine Dampfpferdekraft stündlich 8,5 cbm angesaugte Luft auf 6 Atmosphären verdichtete, leistet in der Anlage am Quai de la Gare (Kompressoren System Riedler) eine Dampfpferdekraft stündlich die Verdichtungsarbeit von 10,4 cbm angesaugter Luft auf 6 Atmosphären. Diese Leistung wurde erzielt durch Ansaugen reiner, möglichst kalter Luft von außerhalb des Maschinenraumes, durch Verdichtung derselben in zwei Stufen, durch Anwendung gesteuerter Ventile und Klappen sowie andrer wichtiger Einzelheiten, ferner durch weitgehende Ausnutzung des Dampfes in dreistufigen Expansionsmaschinen.
Die Druckluftmotoren unterscheiden sich in ihrer Konstruktion nicht wesentlich von den Dampfmaschinen, vielfach sind alte vorhandene Dampfmaschinen[555] direkt als Luftmaschinen in Betrieb genommen worden. Die ersten Luftmaschinen von sehr unvollkommener Bauart und mangelhafter Ausführung arbeiteten mit großem Luftverbrauch und geringem Wirkungsgrad (bei kleinen Maschinen nur ca. 15 Proz.). Durch eine Reihe von Verbesserungen ist es jetzt gelungen, den Wirkungsgrad auf ca. 4045 Proz. bei kleinen, auf ca. 80 Proz. bei größern Maschinen zu steigern. In bezug auf Aufstellungsraum und Wartung sind die Luftmotoren außerordentlich anspruchslos. In die Luftzuführungsleitung wird in der Regel ein Luftmesser und ein Reduzierventil (s. d.) eingeschaltet.
Sehr vorteilhaft ist die Vorwärmung der mit gewöhnlicher Temperatur zur Verwendungsstelle gelangenden Luft vor dem Eintritt in die Maschine. Kommt diese Luft in der Maschine ohne Expansion (bei ganzer Zylinderfüllung) zur Wirkung, so geht diejenige Arbeit verloren, die sie bei der Expansion auf Atmosphärenspannung leisten kann. Expandiert aber nicht vorgewärmte Luft in der Maschine auf Atmosphärenspannung, so tritt eine so bedeutende Abkühlung derselben ein (z. B. um ca. 70° bei der Expansion von 4 auf 1 Atmosphäre), daß es infolge ihres Wasserdampfgehaltes zur Wasserausscheidung und Eisbildung innerhalb der Maschine kommt, die den Gang derselben erschwert oder ganz behindert. Wird hingegen die komprimierte Luft vor dem Eintritt in die Maschinen um so viel erwärmt, daß ihre Temperatur bei der Expansion nicht bis auf 0° herabgeht, so ist jede Eisbildung ausgeschlossen und ein regelmäßiger Gang der Maschinen gesichert. Durch die Vorwärmung der Luft wird ferner ein viel geringerer Luftverbrauch, also eine bessere Ausnutzung ihres Arbeitsvermögens, ohne sehr erheblichen Kostenaufwand erzielt, da die Ausnutzung des Brennstoffes bei unmittelbarer Übertragung der Wärme an die Druckluft außergewöhnlich günstig ist. Die Erwärmung der Luft erfolgt meist in doppelwandigen eisernen Öfen einfachster Konstruktion. Noch günstiger kann der Betrieb durch Verwendung von Heizvorrichtungen nach dem Gegenstromprinzip, durch stufenweise stattfindende Erwärmung und Expansion nach dem Vorgang der Verbunddampfmaschinen sowie bei hoher Vorwärmung durch Einspritzung von Wasser, das sich in Dampfform mit der Preßluft mischt, gestaltet werden. Außer in Paris ist eine sehr bedeutende Druckluftanlage in Birmingham von der Compressed Air Power Company angelegt, eine kleinere Anlage ist in Offenbach a. M. im Betrieb.
6) Verdünnte Luft kommt wegen ihres geringen nutzbaren Druckes (etwa 2/3-3/4 Atmosphäre) sehr selten und auch dann nur für mäßige Leistungen zur Verwendung. An der Zentralstelle wird mittels Luftpumpen Luft aus der Rohrleitung ausgepumpt, so daß in dieser eine Luftverdünnung entsteht, die am Verwendungsort in der Weise nutzbar gemacht wird, daß der Überdruck der Atmosphäre zur Wirkung kommt. Verdünnte Luft wird z. B. bei der sogen. kontinuierlichen Vakuumbremse der Eisenbahnen benutzt, auch wird in Paris seit 1885 eine Kraftübertragung mit verdünnter Luft von der Société de distribution de force motrice à domicile par l'air raréfie betrieben. 7) Die Elektrizität ist ein sehr gutes, auf allen Gebieten zur ausgedehntesten Verwendung gelangendes Mittel zur K. (s. Elektrische Kraftübertragung).
Folgende Ausstellung gibt eine Übersicht über die Anwendbarkeit der verschiedenen kraftübertragenden Mittel:
Die Wahl einer Anlage zur Kraftübertragung richtet sich nicht ausschließlich nach der Höhe der Betriebskosten, vielmehr wird dabei auch den besondern lokalen Verhältnissen Rechnung zu tragen sein. Auch die Möglichkeit der Benutzung des Kraftträgers zu andern als motorischen Zwecken spielt dabei eine nicht unwesentliche Rolle.
Vgl. Meißner-Hartmann, Die Kraftübertragung auf weite Entfernungen (2. Aufl., Jena 18971898, 2 Bde.); Radinger, Über Kraftverteilung mit komprimierter Luft (2. Aufl., Wien 1889); Riedler, Studien über Kraftverteilung (in der »Zeitschrift des Vereins deutscher Ingenieure«, 1892 u. 1893).
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