Menschenopfer

[610] Menschenopfer, bei allen Rassen und vielen Völkern auf niederer, aber auch höherer Kulturstufe nachweisbare Sitte, bei bestimmten Gelegenheiten lebende Menschen als Opfer darzubringen. Aus Grabfunden hat man die Sitte als im vorgeschichtlichen Europa vorhanden nachzuweisen vermocht; reich sind dann die Angaben über M. im antiken mittelmeerisch-vorderasiatischen Kulturkreis. Bei den Semiten scheint das M. ganz allgemein gewesen zu sein; bei den Phönikern opferte man dem Melkart (Moloch) Kinder; im Alten Testament kehrt es mehrfach wieder; desgleichen ist es bei den Arabern verbürgt. In Ägypten wurden dem Gott oder König Busiris rothaarige Menschen geopfert; in Griechenland opferte man noch zur Zeit der Perserkriege, vor der Schlacht bei Salamis, dem Dionysos drei gefangene Perser, Neffen des Xerxes; in Rom endlich opferte man noch zur Kaiserzeit am Feste des Jupiter Latiaris und an den Kompitalien alljährlich einen Verbrecher. Ein Blick in die Welt der Naturvölker und der außereuropäischen Kulturvölker zeigt eine wahre Flut von Erscheinungen ähnlicher Art. Bei den Germanen opferte man Kriegsgefangene dem Kriegsgott Ziu und dem Totengott Wodan; nordgermanische Könige opferten ihre Kinder, um sich selbst ein langes Leben zu sichern; anderseits gaben Völker ihre Könige preis, um sich von Mißwachs und andern Landeskalamitäten zu befreien. In Gallien sollen Menschen in großen Weidengeflechten verbrannt worden sein. M. sind dann, zum Teil bis weit über die Berührung der betreffenden Völker mit den Europäern hinaus, dargebracht worden in vielen Teilen der Südsee (Tahiti, Markesas, Australien), in Asien (China, Siam, Indien, Arabien), vielerorts in Afrika, besonders in den despotisch regierten Königreichen des Ostens (Kaffern, Uganda) und des Westens (Dahome, Aschanti, Benin etc.); schließlich auch in Amerika. Hier hatten es außer den Peruanern besonders die Azteken zu einer wahrhaft raffinierten Kultform ausgebildet.

Die Beweggründe für einen so ungemein weit, ja universal verbreiteten Gebrauch sind natürlich nicht einheitlicher Art. Einen naheliegenden, aber nicht den häufigsten Ausgangspunkt bildet der Kannibalismus; Menschenfleisch ist für viele Teile der Menschheit zeitweise der höchste Genuß gewesen-wie hätte man es daher der Gottheit vorenthalten dürfen! Ihr gebührten vielmehr die edelsten und wichtigsten Teile (Blut und Auge, Herz etc.). Hierher scheinen die M. von Mexiko, Peru, Polynesien zu gehören; in Mexiko haben die Azteken durch die Tausende erbeuteter und erjagter Gefangener, die jährlich hingeschlachtet wurden, nicht in letzter Linie ihre Herrschaft hochzuhalten vermocht. Die Ablösung dieser Art der M. erfolgte sowohl durch Ersatz der Menschen durch Tiere und Pflanzen, als auch durch Nachbildung der Menschen aus eßbarem Stoff (Teig, dem event. Blut beigemischt wird; nach Lippert sollen unsre Pfefferkuchenreiter noch eine Erinnerung an das altgermanische M. dieser Art darstellen), dann aber durch ein allmähliches Aufgeben des Kannibalismus, wobei das Opfer selbst noch eine Zeitlang beibehalten werden konnte. Bei den Dionysien wurden ursprünglich Menschen in Stücke gerissen und verzehrt; später opferte man Tiere, die man roh verspeiste. In Sparta opferte man später dann statt der Menschen Hunde; in Rom halte nach der Überlieferung Numa Pompilius dem Jupiter statt der Menschenköpfe Zwiebelhäupter dargebracht. Weit häufiger ist das M. als Begleitopfer: Freunde, Verwandte, Stammesgenossen opfern sich freiwillig; oder Kriegsgefangene, Sklaven, Diener, Frauen oder beliebige andre werden vom Stamm oder der herrschenden Gewalt geopfert, um dem Verstorbenen auch im Jenseits die gleichen Lebensbedingungen zu gewährleisten, auf die er im Leben Anspruch hatte. Hierher gehören die Massenopfer an den afrikanischen Fürstenhöfen, die Begleitopfer im alten China, bei den nordeuropäischen Völkern (Germanen und Slawen), die Witwenverbrennung in Indien u. a. m. Für Amerika allein hat Preuß eine lange Reihe von Vorkommnissen solcher Art zusammengestellt. Die Abschwächung kann hier mannigfache Formen annehmen; am bekanntesten ist die der Chinesen in Gestalt geopferter Papierfiguren, die der Japaner durch Puppen. Ein dritter Beweggrund für das M. ergibt sich aus den Anschauungen der Naturvölker über die Natur des Todes. Er ist nichts Natürliches, sondern stets durch jemand anders verursacht; infolgedessen verlangt der Tote nach Sühne und Rache. Diese äußert sich in Gestalt der weitverbreiteten Blutrache, dann aber auch in wirklichen Menschenopfern, bei denen man gegebenenfalls nicht bloß die Verdächtigen, sondern ganz beliebige Fremde opfert. Die Sühne kann ebenfalls die Opferung[610] Dritter bedingen, meist äußert sie sich jedoch in mehr oder minder heftigen Trauerzeremonien, Selbstverwundungen und Trauerverstümmelungen, ja unter Umständen sogar im Selbstmord der Trauernden. Über die Ablösung und Abschwächung dieser Art der M. s. Trauerverstümmelung. Ein weiterer Ausgangspunkt der M. ist das sehr weit verbreitete Furcht- und Abhängigkeitsgefühl vor der Gottheit. Sie will event. die Vernichtung des Einzelnen oder eines Volkes, das sie mit Krankheit, Mißwachs und anderm Unglück schlägt. Angebracht ist in solchem Falle der Versuch einer Versöhnung der Zürnenden, der nach Lage der Dinge nur durch einen oder mehrere Menschen erfolgen kann. Auch dieses Stellvertretungsopfer ist häufig; seinen schönsten Ausdruck hat es in der Selbstopferung altrömischer Feldherren gefunden.

Vgl. Lippert, Kulturgeschichte der Menschheit, Bd. 2 (Stuttg. 1887), und Die Kulturgeschichte in einzelnen Hauptstücken, 3. Abt. (Leipz. u. Prag 1886); Tylor, Die Anfänge der Kultur, Bd. 2 (deutsch, Leipz. 1873); Schurtz, Urgeschichte der Kultur (das. 1900); Achelis, Moderne Völkerkunde (Stuttg. 1896); Krause, Die Ablösung der M. (im »Kosmos«, Bd. 3, 1878); Kamphausen, Das Verhältnis des Menschenopfers zur israelitischen Religion (Bonn 1896); Preuß, M. und Selbstverstümmelung bei der Totentrauer in Amerika (in der »Festschrift für Adolf Bastian«, Berl. 1896); Steinmetz, Ethnologische Studien zur ersten Entwickelung der Strafe (Leiden 1894, 2 Bde.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 13. Leipzig 1908, S. 610-611.
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