[285] Taubstumme, Menschen, welche ohne den Sinn des Gehöres geboren sind, od. denselben, ehe sie sprechen lernten, verloren haben u. deshalb auch der Sprache entbehren Meist ist ein organischer Fehler od. eine Erkrankung der Gehörnerven Ursache. Organische Fehler sind nur selten, z.B. mit Durchbohrung des Trommelfelles, zu heben. Schon frühzeitig suchte man die T-n zu unterrichten u. benutzte dabei die Schärfe der übrigen Sinne. Vor dem 16. Jahrh. brauchte man die Stabmethode; dabei mußte der Taube einen hölzernen od. eisernen Stab auf der einen Seite mit den bloßen Zähnen halten, ohne ihn mit den Lippen zu berühren, während ihn der Sprechende auf der anderen ebenso hielt u. so zu ihm redete. Durch stark hervorgestoßene Töne entstand in dem Stabe eine Erschütterung, welche auf die Empfindung jenes wirkte u. wodurch er nebst der Vorzeigung des zu bezeichnenden Gegenstandes die Benennung desselben lernte. Doch hatte diese Methode wenig Erfolg. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. brachte der spanische Benedictinermönch Pedro de Ponce, ohne daß man seine Methode näher kennt, seine Zöglinge dahin, daß sie seine Fragen verstanden u. schriftlich beantworteten. Um 1620 schrieb der Spanier I. Paul Bonet, welcher die T-n die Tonsprache erst lehrte, darauf die Schriftsprache gründete u. durch Geberden u. Abbildungen die Bedeutung der Wörter erklärte, Reducelon de las letras y artes para en señar a hablar a les mudes, Madr. 1620, u. galt lange als der Erfinder des Taubstummenunterrichts. Um dieselbe Zeit lehrte der Spanier Emanuel Ramirez de Carrion den taubstummen savoyischen Prinzen Eman. Philibert von Carignan sprechen; ebenso der englische Theolog William Holder (st. 1696) einen taubstummen Edelmann 1659 u. regte der englische Mathematiker I. Wallis (s.d.) den Taubstummenunterricht an. Zu Anfang des 18. Jahrh. unterrichtete I. Konrad Amman in Holland T.; er lehrte die T-n dadurch sprechen, daß sie auf die bei jedem einzelnen Laute veränderten Stellungen der Mundorgane achteten, dieselben mit den Augen auffaßten u. dann vor dem Spiegel nachahmten; ferner ließ er sie, wenn er einen Ton aussprach, die Hand an seine Kehle halten, um die dabei entstehende zitternde Bewegung zu bemerken; dieselben Töne versuchten nun die Schüler hervorzubringen, indem sie die Hand an ihre eigene Kehle hielten. Glücklich als Taubstummenlehrer war auch der portugiesische Jude Pereira, welcher 1749 der Akademie in Paris mehre von ihm unterrichtete T. vorstellte. Der Abbé de l'Epée faßte bes. die geistige Seite in das Auge; seine Ansichten waren folgende: der T. muß mit dem Geiste, was Hörende mit dem Gehör auffassen; die Begriffe von den Gegenständen haben mit den Schriftzügen eben so viel Verwandtschaft, als mit den artikulirten Lauten; für die T-n ist die Geberdensprache das, was bei Hörenden die Muttersprache zur Erlernung einer fremden ist; die Geberdensprache aber besitzt der T. von Natur ebenso, wie jeder andere Mensch, in ihr spricht er aus, was für Eindrücke auf ihn gemacht werden; jetzt man an[285] die Stelle der Wörtersprache diese Geberdensprache, so kann man den T-n so weit ausbilden, als man will. Der Abbé de l'Epée theilte der Geberdensprache zu viel zu, daher wich auch schon sein Nachfolger R. A. Sicard von seiner Methode ab u. weckte u. übte bes. die geistige Kraft des Zöglinges. Er ging von Sachen aus u. entwickelte an diesen die Begriffe u. mit denselben die Sprache. Mehre seiner T-n wurden Lehrer an anderen Taubstummenanstalten. Guyots Hauptgrundsatz besteht darin, daß der erste Unterricht junger T-n zur Erleichterung im Spielen ertheilt werden müsse. Sam. Heinicke, Vorsteher des Taubstummeninstituts in Leipzig, unterrichtete Anfangs nach eigenen Grundsätzen u. verband sie später mit de l'Epées Verfahren. Sie waren: der T. muß zum Denken mit Begriffen, u. zwar in unserer Sprachform, in tönenden u. artikulirten Wörtern geleitet werden; ohne Unterricht wird sich das Denken nur im Gebiete sinnlicher Anschauung bewegen u. Geberden werden seine Sprache sein; die Schrift, welche bloße Darstellung des artikulirten Wortes für das Gesicht ist, kann allein nicht zur Entwickelung von Begriffen bei solchen dienen, welche von Kindheit an taub waren. Die eigentliche Sprache muß demselben also beigebracht werden. Zum Verständniß Anderer muß der T. auf den Mund des Sprechenden u. nicht auf dessen Augen sehen; damit sie von Anderen verstanden werden, muß ihre mangelhafte Aussprache Deutlichkeit durch Präcision im Artikuliren der Sprachlaute, bes. der Vocale erhalten. Die Vocale suchte er durch eine Scala des Geschmacksinnes, welche der des Gehörsinnes analog ist, dauerhaft zu machen; er bediente sich für die fünf Vocale eben so vieler schmeckender Flüssigkeiten als Merkmale; für a den Geschmack des reinen Wassers, für o des Zuckerwassers, für u des Baumöles, für e des Wermuthextractes, für i des scharfen Essigs. Nach Graser muß, da der Mund beim Aussprechen eines Wortes eben so viel Bewegungen macht als artikulirte Töne von dem Ohre vernommen werden, jene Bewegungen aber jede dem Gesichte eine andere Form gibt, für den dies Beobachtenden an dem sprechenden Munde ein sichtbares Alphabet entstehen, welches ein natürliches sein wird u. in den eigenthümlichen, jenen Gestalten des Mundes u. Gesichtes entsprechenden Formen aufgezeichnet werden kann. Natürlich muß dann dies Alphabet auch den mit T-n Sprechenden bekannt sein; empfohlen werden dazu die lateinischen Buchstaben. Ähnlich ist die Methode, welche ein Ungenannter in Frankreich bekannt machte (Le sourd-muet entendant par les yeux, Paris 1829), welche darin besteht, durch ein eigenes Alphabet den T-n Alles begreiflich zu machen. Das von dem Verfasser aufgestellte System unterscheidet sich von den bisher bekannten durch eine neue Classification der Buchstaben, bes. der Vocale; der Unterricht soll geschehen zugleich durch Schrift auf dem Papiere, durch Zeichen mit der Hand u. durch die Bewegung der Sprachorgane. Durch die ersten Taubstummenlehrer entstanden auch die ersten Taubstummeninstitute (Taubstummenbildungsanstalten), nämlich in Spanien am Ende des 16. Jahrh.; besser organisirt waren die in Bordeaux, Paris (1760 von de l'Epée gegründet u. 1791 zur Staatsanstalt erhoben), Wien, Berlin u. Leipzig 1778 durch S. Heinicke errichteten. Daneben entstanden aber fast in allen europäischen Staaten, theils von der Regierung, theils auch blos von Privaten unterstützt, solche Bildungsanstalten; deren man jetzt in den civilisirten Ländern etwa 150 zählt; aber kaum. 1/30 der Taubstummen erhält Unterricht. Es gingen aus jenen Anstalten nicht allein tüchtige Maler, Kalligraphen, Kupferstecher, Lithographen u. Steinschneider, sondern auch, bes. in Frankreich, Lehrer für andere T., Staatsdiener, selbst Schriftsteller hervor. Um den Taubstummenunterricht allgemeiner zu machen, werden jetzt in mehren Taubstummeninstituten, z.B. in Sachsen, Preußen, Baiern, Württemberg, Baden, Österreich, Holland auch Seminaristen unterrichtet, um als Schullehrer die T-n ihrer Gemeinden zu unterrichten. Vgl. Bebian, Essai sur les sourds-muets, Par. 1817; Castberg, Vorlesungen über Taubstummenunterricht, Kopenh. 1818; I. W. H. Ziegenbein, Blicke auf den Taubstummenunterricht, Braunschw. 1823; Schmalz, Geschichte u. Statistik der Taubstummenanstalten u. des Taubstummenunterichts, Dresd. 1830; Derselbe, Die T-n u. ihre Bildung, ebd. 1848; Neumann, Die Taubstummenanstalt in Paris nebst Geschichte des Taubstummenunterrichts, Königsb. 1827.