Sokrates

Sokrates

[214] Sokrătes, der berühmteste griech. Weise, welcher zuerst auf sittliche Vervollkommnung drang, von seinen entarteten Mitbürgern aber verkannt und misverstanden wurde und für seine Überzeugung den Tod ertrug.

Er wurde 469 v. Chr. zu Athen geboren. Sein Vater Sophroniskos war Bildhauer, seine Mutter Phänarete Hebamme. Er selbst erlernte auch die Bildhauerkunst und zeichnete sich in derselben aus, widmete jedoch seiner Zeit mehr der Pflege der Wissenschaften, und als er älter wurde, dem erziehenden Umgange mit seinen Mitbürgern, vorzüglich mit Jünglingen. Er verließ Athen nur, um der Pflicht der Vaterlandsvertheidigung Genüge zu thun, indem er die Feldzüge nach Potidäa, Delion und Amphipolis mitmachte. Bei dieser Gelegenheit zeichnete er sich durch Unerschrockenheit und durch die Ausdauer aus, mit welcher er alle Mühseligkeiten ertrug. Von der Verwaltung der Staatsangelegenheiten hielt er sich möglichst fern, weil er die Abhängigkeit scheute und einsah, daß in der herrschenden, zügellosen, demokratischen Verfassung das wahrhaft Vernünftige sich selten durchsetzen lasse. Wie wenig er zum Staatsmann unter den bestehenden Verhältnissen geeignet war, zeigte sich auch alsbald, als er einmal als Vorsteher der Volksversammlung Antheil an einer Staatshandlung nahm. Es waren zehn Feldherren auf den Tod angeklagt, und ihre Feinde hatten das Volk gegen sie gewonnen, sodaß dieses einem alten Gesetze zuwider über alle zugleich das Urtheil sprechen wollte; aber Sokrates setzte sich Dem entgegen, so hart und wüthend man ihn auch bedrohte. Er folgte Dem, was er als gerecht erkannte, und so widersetzte er sich auch einem Befehle der sogenannten dreißig Tyrannen, welche, nachdem Sparta im peloponnesischen Kriege obgesiegt, in Athen herrschten, weil er denselben für ungerecht hielt. Da er einsah, daß die durch die Sophisten gebildeten Bürger des Staates nicht zu bessern und zu ändern wären, so suchte er seinem Vaterlande dadurch zu nützen, daß er die Jugend an sich zog und dieser eine selbständig sittliche Richtung zu geben suchte, indem er sich zugleich dem Treiben der Sophisten (s.d.) kräftig entgegenstellte. Er trat übrigens nicht förmlich als Lehrer auf, ließ sich auch nicht von seinen sogenannten Schülern bezahlen, sondern er gestattete den Jünglingen nur seinen Umgang, suchte sie auch selbst auf und war bemüht, im Gespräch anregend auf sie zu wirken. Er wurde bald allgemein bekannt; schon seine äußere Erscheinung war auffällig. Er hatte eine eingebogene und aufgestülpte Nase, hervortretende Augen und einen dicken Bauch, sodaß er nicht unpassend mit einer der Silenenstatuen verglichen wurde, deren man sich zum Aufbewahren von Kunstgegenständen zu bedienen pflegte, und welche also wie S hinter einer unschönen Hülle einen köstlichen Kern bargen. Sein Anzug war ärmlich, aber ungesucht; seinem Körper sah man an, daß er für Ertragung von Beschwerlichkeiten abgehärtet war. Sein Verstand war durchaus auf das Praktische, Nützliche gerichtet, und er wußte daher seinen Freunden in schwierigen Lagen gar wohl mit Rath und That beizustehen. In seiner belehrenden Unterhaltung ging er vom Allbekannten und Feststehenden aus und wußte den Geist Dessen, mit dem er sprach, so zu leiten, daß er aus sich selbst Gedanken und Erkenntnisse gebar, deren er sich früher nicht bewußt gewesen war. Diese seine ihm eigenthümliche Kunst, die Wahrheit aus dem Geiste seiner Schüler hervorzulocken, nannte er selbst eine geistige Hebammenkunst. Man wendet auch jetzt noch diese Sokratische Methode im Unterrichte der Jugend mit Vortheil an. Da der Unterricht, den die Sophisten ertheilten, namentlich auf Vielwisserei und Bildung des Verstandes ausging, um unter allen Verhältnissen das eben Vortheilhafte durch Überredung annehmlich zu machen, und eine solche Erziehung zur nothwendigen Folge Dünkel und Eitelkeit des Wissens haben mußte, so war S. vorzüglich bemüht, diese Eitelkeit zu zerstören, indem er [214] die Nichtigkeit des vermeintlichen Wissens schonungslos aufdeckte. Er selbst pflegte von. sich zu sagen, daß er dahin gelangt sei, zu wissen, daß er nichts wisse. Daher stellte er sich auch als ein Unwissender und um Belehrung Bittender dem auf sein Wissen Eitlen gegenüber und wußte ihn dann durch Fragen, durch die er sich scheinbar nur belehren lassen wollte. dahin zu bringen, daß er selbst sich eingestehen mußte, daß er ebenso wenig wie S., ja noch beiweitem weniger wußte. In diesem angenommenen Nichtwissen und der Vernichtung der Eitelkeit des Wissens bestand die berühmte Ironie des S Wie er keinen zusammenhängenden Vortrag über Das hielt, was er selbst als Wahrheit erkannt hatte, so legte er auch nicht in Büchern die Frucht seines Denkens nieder. Durch die ganze Art seines Auftretens hatte sich S. viele Feinde gemacht. In einem demokratischen Staate gilt Das, was die Mehrheit, gleichviel aus welchen Triebfedern, beschließt, für Gesetz und für gerecht. S. setzte sich jedoch durch Thaten und noch weit mehr und öfter durch Worte der allgemeinen Meinung entgegen, indem er dagegen Das geltend zu machen suchte, was ihm selbst als gerecht erschien, wobei er sich auf eine göttliche Stimme in seinem Innern, das Sokratische Dämonion, berief. Schon durch dieses Festhalten an seiner Überzeugung machte er sich den Demokraten unleidlich, um so mehr, da er mit seinem Tadel gegen die öffentlichen Beschlüsse, in Zeiten, wo nur die niedrigsten Leidenschaften über den großen Haufen und über den Staat herrschten, nur allzu recht hatte. Eine nicht minder große und mächtige Partei nahm er aber auch durch seinen Kampf gegen die Eitelkeit des Wissens wider sich ein, zumal da seine Schüler ihm in Verspottung derselben nacheiferten. In Athen waren damals namentlich zwei Parteien, die der Neuerer und die Derjenigen, welche die Rettung des Staates von der Zurückführung zu alten Sitten und Gesetzen abhängig glaubten. Die letztere Partei war mächtig geworden, als S. angeklagt wurde. S. gehörte zu keiner von beiden Parteien, aber er mußte der am Auen, ja Veralteten hangenden nothwendig als der gefährlichste Neuerer erscheinen, denn er ging noch weit über diese hinaus. Die Neuerer nämlich dielten im Allgemeinen an dem sophistischen Princip fest, daß der Mensch, wie er eben unter den gegebenen Verhältnissen existirte, das Recht und (bei hinreichender Bildung) die Macht habe, Volk und Staat, Sitten und Gesetze nach seinem Vortheil zu gestalten; sie foderten eine Herrschaft des Verstandes, bei welcher der Klügste über die Menge durch die Kunst der Überredung herrschte. S. stimmte hiermit vollkommen überein, aber er machte darauf dringend aufmerksam, daß das wahrhaft Vortheilhafte nicht von der Willkür des Einzelnen abhängig sei und nicht durch Überredung geltend gemacht werden dürfe, sondern daß unter allen Verhältnissen nur Eines für alle Einzelne gleiche Gültigkeit habe und mit der Macht der auf Erkenntniß beruhenden Überzeugung geltend zu machen sei. Obwol er nun eben hiermit die dem Staate so sehr zum Verderben gereichende subjective Willkür der durch die Sophisten gebildeten Neuerer aufhob und die Herrschaft der Vernunft an ihre Stelle setzte, so hatte es doch den Anschein, als gebe er der subjectiven Willkür durch seine Lehre eine Berechtigung, welche sie vordem nicht hatte, und machte sie dadurch zu einer unbezwingbaren Macht. So sahen ihn die am Alten hangenden Athener an und fanden eine Bestätigung ihrer Ansicht darin, daß zwei der ausgezeichnetsten Schüler des S., Alcibiades und Kritias, allerdings die subjective Willkür zum Verderben des Staates aufs höchste trieben. Für die Mehrzahl der Athener war S. nur der ärgste aller Sophisten, und als solchen hatte ihn auch der geistreiche Aristophanes in einer uns noch erhaltenen Komödie: »Die Wolken«, aufgeführt. Das Princip, auf welchem das ganze griech. Staatsleben, das republikanische, beruhte, war unbedingte Zueigenmachung des allgemeinen Willens und unbedingte Unterwerfung unter denselben, und als allgemeiner Wille galt ihnen nicht, wie dem S., das Vernünftige als Frucht der Erkenntniß, sondern die Sitte der Väter und die als Gesetz geltende Willensmeinung der Mehrzahl. Sie mußten den S. als gefährlichsten Feind des altgriech. Staatslebens anerkennen, und ihr Urtheil über ihn konnte nur ein verdammendes sein. Aber sie irrten darin, daß sie meinten, das altgriech. Staatsleben ließe sich überhaupt wiederherstellen, und sie verkannten den S, welcher in der That das einzige Mittel zur Rettung aus dem über Griechenland hereinbrechenden Verderben aussprach, nämlich das Princip, auf welches sich nachher das christliche Staatsleben gründete: Herrschaft des Vernünftigen. Durch dasselbe gehörte S. gänzlich der christlichen Welt an, oder vielmehr er sagte dieselbe voraus, bereitete sie in dem Geiste der Völker vor, denn das Christenthum spricht in der Foderung der Unterwerfung des Eigenwillens unter den göttlichen, sodaß der Gott in dem Menschen lebendig werde und er Thaten des göttlichen Geistes thue, mit andern Worten die Foderung des S. aus.

Die Anklage gegen S. lautete: daß er neues Dämonisches einführe und die Jugend verderbe. Das neue Dämonische war sein Dämonion, eine Stimme in seinem Innern, die ihm sagte, was zu thun und zu lassen, die ihn namentlich warnte, wo er im Begriff stand, Unziemliches zu begehen. Es war die Stimme des im Menschen lebendig werdenden Gottes, wie wir sagen würden. Die Griechen kannten die Stimme des Gottes nur, wie sie von außen, in Orakeln, zum Menschen redete, nicht als eine in seiner Brust laut werdende; für sie war diese allerdings neues Dämonisches, ja wirklich Dasjenige, welches bestimmt war, die ganze alte Götterlehre zu stürzen: der Mensch werdende Gott. Indem aber S. darauf drang, diesem neuen Dämonischen zu gehorchen, mehr als Vater und Mutter und mehr als der als Gesetz geltenden Stimme der Mehrzahl, verderbte er im altgriech. Sinne die Jugend. Nachdem er für schuldig erklärt worden war, wurde er der Sitte gemäß aufgefodert, sich selbst eine Strafe anzusetzen. Er konnte sich eine Geldstrafe zuerkennen oder die Verbannung wählen, aber er hätte damit nicht nur sich selbst für schuldig erklärt, sondern seinem Princip zuwider auch der Stimme der ihn schuldig erklärenden Mehrheit seine eigne Überzeugung unterworfen, und so setzte er sich selbst keine Strafe, und ließ es auch seine Freunde nicht thun, welche gern eine Geldstrafe für ihn bezahlt haben würden. Er erklärte, eine Strafe anzusetzen, komme nur Einem zu, der sich selbst für schuldig erkenne, und indem er sich auf sein ihm hierin nicht widersprechendes Dämonion berief, übernahm er den Tod. Seine Freunde wollten ihn heimlich wegbringen, aber er folgte ihnen nicht, sondern schien ihrer sogar zu spotten, [215] indem er fragte: ob sie einen Ort wüßten außerhalb Attikas, welcher dem Tode nicht zugänglich wäre. Er begrüßte den Tod mehr als ein Glück denn als ein Unglück, als einen Befreier von den Beschwerden des Alters, einen Übergang in ein besseres Leben für den Guten, und freute sich darüber, daß ihm die leichteste Todesart zu Theil würde. Wegen eines Festes mußte seine Hinrichtung noch 30 Tage verschoben werden. Seine Freunde besuchten ihn im Kerker. Er führte heitere Gespräche mit ihnen, trank den Giftbecher, tröstete noch die Umstehenden und verschied 400 v. Chr.

Die Lehre des S. ist wesentlich schon in dem Vorhergehenden enthalten. Er empfahl namentlich die Tugenden der Besonnenheit, Gottesfurcht, Gerechtigkeit, Selbstbeherrschung und Mäßigkeit und sagte, daß es keinen schönern Weg zum Ruhme gebe, als in Dem sich tüchtig zu machen, worin man dafür gelten wollte. Eigenthümlich war ihm, daß er Weisheit und Sittlichkeit nicht voneinander trennte, sondern behauptete, wer das Schöne und Gute kenne, werde es auch aufs Leben anwenden, und wer wisse, was unedel sei, der fliehe es und sei Beides in Einer Person, weise und sittlich. Die Tugend hielt er daher für erkennbar und lehrbar. Schon Aristoteles bemerkte daher gegen ihn, daß er, indem er die Tugend zu einem Wissen machte, den nichtdenkenden Theil der Seele aufhebe und daher das ganze unmittelbare geistige Leben des Menschen nicht anerkenne. Man hat den S. häufig als Philosophen gerühmt, ja ihn den ersten aller Philosophen genannt, indem er die Weisheit von dem Himmel heruntergeholt und in die Hütten der Menschen eingeführt habe. Ein Philosoph ist aber S. nicht, sondern er selbst erklärte die Forschungen der Philosophie für Grübeleien über Dinge, deren Erkenntniß dem Menschen unmöglich sei; wie in der Philosophie so auch in allen Wissenschaften wollte er, daß der erkennende Geist nur soweit vordringe, als eben nöthig sei, um im Leben als tüchtig dazustehen. Dagegen hat man S. mit Recht den Vater der Ethik genannt, indem er das wahrhaft Sittliche zum Gegenstande der Erkenntniß machte, doch hat er eine Sittenlehre niemals aufgestellt, sondern indem er sich beim Handeln selbst auf das Dämonion in ihm berief, fiel er thatsächlich selbst von seiner Behauptung, daß die Tugend ein Wissen sei, ab. So war es natürlich, daß die Schüler des S., die Sokratiker, auf sehr verschiedene Weise der Foderung ihres Meisters, dem Guten und Schönen nachzustreben, Genüge zu thun unternahmen, und nur Einer derselben, Platon (s.d.) wurde ein wirklicher Philosoph, indem er von dem Standpunkte des S. die Beantwortung der wissenschaftlich philosophischen Fragen unternahm. Während einige der Schüler des S. nur die Foderung der freien Selbstbestimmung annahmen und ihr mehr oder weniger in den Verhältnissen, in welchen sie lebten, genügten, setzten Andere das von S. begonnene Werk der Volkserziehung fort und wurden selbst Meister von Schulen, welche nach ihnen oder nach dem Orte ihres Aufenthalts oder nach ihren besondern Eigenthümlichkeiten benannt wurden. Die Schüler des S. flohen nach dessen Tode größtentheils nach Megara, bis die Athener das Urtheil gegen den S. nachmals förmlich zurücknahmen und sein Name der Gegenstand allgemeiner Verehrung wurde. Sokratische Schulen waren die megarische, welche Euklides aus Megara stiftete; die kyrenaische, welche Aristippos von Kyrene gründete; die kynische, welche zum Stifter den Antisthenes hatte und aus der besonders Diogenes von Sinope bekannt ist; die eilsche, welche Phädon gründete. Als Schüler des S. sind noch zu nennen: Xenophon, von welchem wir die treuesten Nachrichten über S. besitzen, Äschines, Cebes, Simmias.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 214-216.
Lizenz:
Faksimiles:
214 | 215 | 216
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Die Elixiere des Teufels

Die Elixiere des Teufels

Dem Mönch Medardus ist ein Elixier des Teufels als Reliquie anvertraut worden. Als er davon trinkt wird aus dem löblichen Mönch ein leidenschaftlicher Abenteurer, der in verzehrendem Begehren sein Gelübde bricht und schließlich einem wahnsinnigen Mönch begegnet, in dem er seinen Doppelgänger erkennt. E.T.A. Hoffmann hat seinen ersten Roman konzeptionell an den Schauerroman »The Monk« von Matthew Lewis angelehnt, erhebt sich aber mit seiner schwarzen Romantik deutlich über die Niederungen reiner Unterhaltungsliteratur.

248 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon