Geistliche Schauspiele

[505] Geistliche Schauspiele, dramatische Dichtungen, die ihre Stoffe aus der Bibel oder der christlichen Legende entlehnen. Sie entsprangen aus der kirchlichen Festliturgie, vor allem aus der kunstvollern Ausgestaltung, welche diese nach Wort und Weisen im 10. Jahrh. im Kloster St. Gallen erfuhr. Der Gesang der wenig veränderten Verse des Festevangeliums sowie bezüglicher Hymnen und Sequenzen wurde dem Inhalt gemäß auf verschiedene Geistliche verteilt; indem diese dann den Vortrag durch begleitende Bewegungen, durch das Anlegen entsprechender Kostüme, durch das Aufstellen einfacher Dekorationsstücke, wie der Krippe beim Weihnachtsfeste, des Grabmals am Ostertage, veranschaulichten, bildeten sich im Rahmen der Liturgie kleine dramatische Szenen aus, die allmählich zu ganzen Szenenreihen erweitert und auch im einzelnen breiter und freier ausgeführt wurden. Im 12. und 13. Jahrh. hatte die reich entwickelte lateinische Scholarendichtung wesentlichen Anteil an der poetischen Ausgestaltung des geistlichen Dramas, dessen Ausführung schon damals nicht auf das Innere der Kirche beschränkt blieb. Neben oder an Stelle der lateinischen Sprache wurde seit dem 12. Jahrh. in Frankreich, seit dem 13. auch in Deutschland, zunächst in vereinzelten Fällen die Volkssprache angewendet, deren allgemeiner Gebrauch dann im 14. und 15. Jahrh. durchdringt. Damit zugleich gewinnen die Laien mehr und mehr Anteil an diesen Darstellungen. Vielfach durch weltliche, ja auch durch stark possenhafte Bestandteile erweitert, werden die geistlichen Schauspiele jetzt in der Regel unter freiem Himmel ausgeführt, und der Umfang ihrer Texte, die Anzahl ihrer Darsteller, der Aufwand für ihre Ausstattung nimmt immer größere Dimensionen an. Die Ausführung der mit den alten Osterszenen verbundenen Passionsspiele nahm nicht selten mehrere Tage in Anspruch, zumal wenn noch vorbereitende Szenen bis ins Alte Testament zurückgriffen. Auch die Weihnachtsspiele wurden teilweise mit solcher dramatischen Einleitung alttestamentlichen Inhalts versehen. Spiele vom Antichrist und dem Weltgericht brachten die letzten Dinge eindringlich zur Anschauung, während der ganze Verlauf der Heilsgeschichte von der Weltschöpfung und dem Sündenfall bis zum Jüngsten Tag in Fronleichnamsspielen vorgeführt wurde, die aus Fronleichnamsprozessionen mit lebenden Bildern erwuchsen. Daneben boten neutestamentliche Parabeln und das weite Gebiet der Heiligenlegende dem geistlichen Schauspiel reichen Stoff. Seit der Reformation wurden in den protestantischen Städten die geistlichen Schauspiele den strengern evangelischen Anschauungen gemäß, zugleich unter dem Einfluß des humanistischen Schuldramas, wesentlich vereinfacht und unter Bevorzugung alttestamentlicher Motive auf engere Stoffkreise beschränkt; später mußten sie dem geistlichen Oratorium weichen. In den katholischen Ländern trat seit dem Ausgang des 16. Jahrh. das pomphaft ausgestattete Schuldrama der Jesuiten mit seiner aus Italien übernommenen Bühneneinrichtung in siegreiche Konkurrenz mit den alten volkstümlichen Aufführungen, und überall wurden diese durch das gleichzeitige Auftreten berufsmäßiger Schauspieler zurückgedrängt. Gleichwohl haben sich geistliche Volksschauspiele auf mittelalterlicher Grundlage stellenweise noch bis auf die Gegenwart erhalten (s. die Artikel »Passionsspiele, Weihnachtsspiele, Osterspiele«). Vgl. W. Creizenach, Geschichte des neuern Dramas (Halle 1893–1903, Bd. 1–3).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 505.
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