Grundtvig

[459] Grundtvig, 1) Nikolai Frederik Severin, dän. Theolog, Historiker und Dichter, geb. 8. Sept. 1783 in Udby auf Seeland, gest. 2. Sept. 1872 in Kopenhagen, studierte gleichzeitig mit Öhlenschläger in Kopenhagen und machte sich schon früh durch historische, mythologische, religiöse und poetische Schriften einen Namen. Zu dem herrschenden französischen Geschmack trat er durch den Hinweis auf Goethe, Shakespeare und die altnordische Literatur in Opposition; von dem allgemein gültigen Tone der Zeit unterscheidet er sich durch die große Ehrerbietigkeit, mit der er von Christus und der Bibel spricht. Nach einer gewaltigen geistigen Krisis, die ihn zu seinem glaubensreformatorischen Wirken führte, zog er sich 1810 durch seine Kandidatenpredigt »Warum ist Gottes Wort aus seinem Hause verschwunden?« einen kränkenden Konsistorialverweis zu und erregte als Hilfsprediger seines Vaters mit seiner »Weltchronik« (1812) einen wahren Sturm durch seine rücksichtslose Verurteilung der rationalistischen Aufklärung und der Naturphilosophie. Nach dem Tode seines Vaters verlebte G. mehrere Jahre in Kopenhagen und gab 1816 bis 1819 die Zeitschrift »Dane Wirke« heraus. 1822 zum zweiten Prediger an der Erlöserkirche zu Kopenhagen ernannt, nahm er wenige Jahre später (1825) den Kampf, den er gegen den Unglauben und Rationalismus der Zeit begonnen hatte, von neuem auf, indem er eine äußerst heftige Erwiderung (»Kirkens Gjenmæle«) gegen eine Schrift des Professors Clausen über Katholizismus und Protestantismus und[459] die »Kritik des Wissens über den Glauben« veröffentlichte. G. zog sich dadurch eine gerichtliche Anklage und Verurteilung zu, infolge deren er sein Predigtamt niederlegte, sich ausschließlich literarischen Arbeiten widmete und mit seinem spätern Gegner Rudelbach die »Theologisk Maanedsskrift« (Kopenh. 1825 bis 1828, 13 Bde.) begründete. Nachdem G. 1832 die Erlaubnis zum Predigen wiedererhalten hatte, wurde er 1339 Pastor am Hospital Vartov in Kopenhagen, wo er bis zu seinem Tode 1872 blieb, seit 1861 mit dem Titel eines Bischofs. Während der Bewegungen der 1840er und 1850er Jahre nahm er als Mitglied des Reichstags tätigen Anteil an den Verhandlungen, gab das Wochenblatt »Danskeren« (1848–51) heraus und beteiligte sich leidenschaftlich patriotisch an dem Streit mit Deutschland über Schleswig-Holstein. Grundtvigs Streben war darauf gerichtet, das Christentum in nordisch volkstümlicher Form mit dem nationalen Gedanken eng verbunden als die Hauptfrage der Zeit hinzustellen und sie ihrer Lösung entgegenzuführen. Dieses Streben war mit Erfolg gekrönt; um ihn scharten sich schlagfertige und begeisterte Anhänger, und sein kirchlicher und politischer Einfluß erstreckte sich über den ganzen Norden. Sein eigentümlicher religiöser Standpunkt wurde von ihm zu einem förmlichen System ausgebildet: dem Grundtvigianismus; das Vaterunser und das apostolische Symbolum betrachtet er als die historische Basis des Christentums, die Sakramente sind ihm der Mittelpunkt des Gottesdienstes. Sein Ideal war die Volkskirche, in der jede Gemeinde möglichst unabhängig und auch die Minorität befugt sein sollte, sich ihren eignen Pfarrer zu geben. Schon früh hatte er mit Energie und Ausdauer Forschungen über die Vorzeit des Nordens angestellt. Davon zeugt namentlich sein merkwürdiges und geistvolles Buch »Die Mythologie des Nordens« (1808), das 1833 in völlig neuer Bearbeitung als »Sinnbildliche Sprache des Nordens« (3. Aufl. 1870) erschien, und später »Bragesnak« (1844), worin die alten Mythen einer originellen historisch-philosophischen Deutung unterworfen werden, die freilich der sonst üblichen Auffassung von Mythologie widerspricht. Auch seine volkstümlich freien Übersetzungen von Saxo und Snorre (1815–22, 6 Bde., öfters neu) sowie des angelsächsischen Heldengedichtes »Beowulf« (1820) sind zu erwähnen, und von seinen historischen Arbeiten das »Handbuch der Weltgeschichte« (1833 bis 1843, 3 Bde.; neu 1867–69), worin er einen streng kirchlichen Standpunkt behauptet. Als Dichter war er zuerst mit »Auftritten aus dem Ende der Heldenzeit im Norden« (1809–11, 2 Bde.; neu 1861) hervorgetreten, dramatischen Schilderungen von großer poetischer Kraft und wuchtig nordischem Geist. Andre Dichtungen historisch-patriotischen Charakters sind die theologisch-historische Reimchronik: »Roskilde Riim« mit der Erläuterung »Roskilde Saga« (1814) nebst der Sammlung »Kvædlinger« (»Kleine Gedichte«, 1815). Zugleich war G. ein fruchtbarer Liederdichter von seltener Kraft und Innigkeit. Viele seiner Nationalgesänge gehören zu den besten und beliebtesten des dänischen Volkes. Ausgaben seiner Gedichte erschienen unter den Titeln: »Sangværk til den danske Kirke« (1837–41), »Kirkelig og folkelig Digtning« (Kopenh. 1870), »Digte« (Auswahl, das. 1869), »Salmer og aandelige Sange« (das. 1873 bis 1880, 5 Bde.; Auswahl 1883) und »Poetiske Skrifter« (hrsg. von seinem Sohn, 1880–89, 7 Bde.). Großes Verdienst hat sich G. um den Volksunterricht in Dänemark erworben; er ist der eigentliche Stifter der »höhern Bauernschulen« und der »volkstümlichen Hochschulen«. Bemerkenswerte Schriften aus seinen spätern Jahren sind: »Christliche Predigten« (1827 bis 1830, 3 Bde.), »Kristenhedens Syvstjærne« (1860, 3. Aufl. 1883), eine poetische Darstellung des Lebenslaufs der christlichen Gemeinden, die Vorlesungen »Der Kirchenspiegel« (1871, 2. Aufl. 1876), besonders interessant durch den Rückblick, den der alte Prediger und Dichter auf sein eignes Leben im Dienste der Kirche wirft, und »Mands Minde« (»Erinnerungen«, hrsg. 1877, zeitgeschichtlich). Sein Briefwechsel mit Ingemann aus den Jahren 1821–59 erschien 1882. Vgl. Hansen, Wesen und Bedeutung des Grundtvigianismus (Kiel 1863); Kaftan, G., der Prophet des Nordens (Basel 1876); Nielsen, Grundtvigs religiöse udvikling (Kopenh. 1889).

2) Svend Hersleb, Sohn des vorigen, geb. 9. Sept. 1824 in Christianshavn, gest. 14. Juli 1883 als Professor der nordischen Philologie an der Kopenhagener Universität, wandte sich dem Studium der dänischen Volkslieder, Balladen und Volksmärchen zu und veröffentlichte vor allem die musterhafte Sammlung von »Danmarks gamle Folkeviser« (1853–83, 5 Bde.; von A. Olrik abgeschlossen 1891), außerdem »Gamle danske Minder i Folkemunde« (1854–61) und »Danske Folkeäventyr« (1876–1883). Auch eine Ausgabe der »Sæmundar Edda« (mit Anmerkungen, 1868; 2. Ausg. 1874) sowie ein »Dänisches Handwörterbuch« (1872, 2. Aufl. 1884) rühren von ihm her. Eine Auswahl der Volkslieder übersetzte Rosa Warrens (Hamb. 1858).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 8. Leipzig 1907, S. 459-460.
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