Lügendichtungen

[832] Lügendichtungen, d.h. Erdichtungen und Erfindungen von unmöglichen Dingen, die das Lachen oder Staunen des Hörers bezweckten, sei es durch widersinniges Verkehren oder durch aufschneiderisches Übertreiben des Wirklichen. Sie sind der Volkspoesie aller Völker eigen, aber auch die Kunstdichtung verschmäht ihre Mittel nicht. In Deutschland ist das älteste schriftlich festgehaltene Erzeugnis dieser Gattung der sogen. »Modus florum«, ein lateinisches, zum Teil auf uralter indo-germanischer Überlieferung beruhendes Gedicht aus dem 10. oder 11. Jahrh. Was in diesen und andern Märchen an unglaublichen Dingen erzählt wird, tischt Münchhausen zum großen Teil seinen Zuhörern wieder auf. Aus dem 14. und 15. Jahrh. stammt eine Reihe von deutschen Gedichten, die beseelte und unbeseelte Wesen die verkehrtesten, seltsamsten, aberwitzigsten Dinge treiben lassen und diese ohne Zusammenhang aneinander reihen, jedenfalls Erzeugnisse fahrender Leute. Das bekannteste unter ihnen ist das »Wachtelmäre«, in dem, ebenso wie heute die Enten in den Zeitungen, die Wachteln Lügen bedeuten. Ein Teil der in diesen Dichtungen vorkommenden unsinnigen Einzelheiten findet sich wieder in den komischen Rezepten, wie sie besonders in den Fastnachtsspielen erteilt werden, wie auch das Lied vom Dr. Eisenbart (s. d.) vorgebildet ist. Die umfassendste Kompilation dieser Dichtungen bietet der kleine Roman vom Finkenritter (s. d.). Hierher gehören auch die Lügenschwänke und -Schnurren in den zahlreichen Facetien- und Anekdotensammlungen, die seit dem 15. Jahrh. das Ergötzen der Lesewelt bewirkten. Als erste Aufschneider stellen sich in einer Handschrift des 14. Jahrh. Weigger von Landsberg dar, ferner Eulenspiegel und der Kanstätter Lügenschmied in den Facetien des Humanisten Heinr. Bebel. Wohl den ganzen Vorrat von Lügen, die zu Anfang des 16. Jahrh. umgingen, faßt das Gedicht »Neue Zeittung auß der ganzen Welt« zusammen. Manche dieser Jagd-, Reise- und Kriegslügen ist bereits vorgebildet bei Plutarch, im Talmud, in den Legenden der Heiligen, in Sindbads Erzählungen, in den Reisebeschreibungen eines Montevilla etc. Eine größere Anzahl ist vereinigt im »Volksbuch vom lügenhaften Aufschneider Urban Fettsack«, in »Leben und Taten des Colophanius Cipripinus« (in »Meyers Volksbüchern«, Nr. 805 u. 806, S. 82 ff.) und im »Vademekum für lustige Leute« (Berl. 1781). Letztere Scherzsammlung bezeichnet sich selbst als »aus den besten Schriftstellern zusammengetragen« und enthält 16 vielleicht von einem Landsmann des K. Fr. Hieronymus Freiherrn von Münchhausen (s. d.) eingesandte »M-h-s-nsche Geschichten«, die der vormalige Aufseher des Antiquitäten- und Münzkabinetts zu Kassel und Professor Rud. Erich Raspe ins Englische übersetzte und zu einem abgerundeten Ganzen verarbeitet zu Oxford 1786 (bez. Ende 1785) erscheinen ließ. Spätere englische Ausgaben waren mit des Barons Seeabenteuern vermehrt, die besonders aus Lucians »Wahrer Geschichte«, aus Holbergs »Nicolai Klimii iter subterraneum« und mehreren geschichtlichen und Reisewerken geschöpft sind. Als aus dem Englischen übersetzt und erweitert bezeichnet sich das 1786 erschienene deutsche Büchlein: »Wunderbare Reisen des Freyherrn von Münchhausen ie.«, ohne Angabe des Verfassers: Gottfr. Ang. Bürger, der den[832] »Münchhausen« durch seine deutsche Bearbeitung zum Volksbuche gemacht hat; nicht nur stammt ein Drittel des Buches von ihm, d.h. aus andern als den von Raspe benutzten Quellen, sondern er hat es auch verstanden, die einzelnen Schwänke als Erlebnisse eines Erzählers so zu vereinigen, daß weder Überdruß an der Menge seiner Erlebnisse, noch Zweifel an der Genialität des Aufschneiders entsteht (beste Ausgabe von E. Grisebach, Kollektion Spemann). Münchhausen gilt in allen Ländern als der eigentliche Lügenvater; spätere Humoristen haben die Figur Münchhausens als Mittelpunkt für eigne Schöpfungen ausgenutzt. Einen andern Charakter haben die Aufschneidereien im »Schelmuffsky« des Christian Reuter (s. d.). Auch in Frankreich hatte es schon früher nicht an Münchhausiaden gefehlt, wie das wohl 1579 zuerst gedruckte Buch »La nouvelle fabrique des excellents traits de vérité par Mr. d'Alcripe« beweist. Verwandtschaft mit den L. zeigen die Dichtungen vom Lande der Schlaraffen (s. d.), die satirischen Schilderungen einer verkehrten Welt, z. B. in Legrands »Monde renversé« (1718) und in Tiecks Lustspiel (1798), sowie die Voyages imaginaires und naturwissenschaftlichen Romane, die besonders in Frankreich ausgebildet wurden von Cyrano de Bergerac und Jules Verne, in England von Swift nach dem Vorbild von Lucians »Wahrer Geschichte«. Motive aus den L. finden sich auch oft in der typischen Luftspielrolle des prahlerischen Soldaten, die in das griechische Altertum hinausreicht (vgl. Ribbeck, Alazon, Leipz. 1882) und später besonders von den italienischen Schauspielern ausgebildet wurde (vgl. Andreini, Le bravure del Capitano Spavento, 1607; deutsch von Rist 1635). Vgl. K. Müller-Fraureuth, Die deutschen L. bis auf Münchhausen dargestellt (Halle 1881); Hönncher, Fahrten nach Mond und Sonne. Studien insbesondere zur französischen Literaturgeschichte des 17. Jahrhunderts (Oppeln 1887).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 12. Leipzig 1908, S. 832-833.
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