Molière

[36] Molière (spr. molljǟr'), eigentlich Jean Baptiste Poquelin, der größte franz. Lustspieldichter, geb. 15. Jan. 1622 in Paris, gest. daselbst 17. Febr. 1673, erhielt seine Bildung auf dem Collège de Clermont (später Louis le Grand), genoß den Unterricht des berühmten Philosophen Gassendi (seine uns nicht erhaltene Lukrez-Übersetzung fällt in diese Zeit), studierte die Rechte und trat 1643, einer unwiderstehlichen Neigung folgend, unter dem Namen »M.« in eine Schauspielergruppe, die sich l'Illustre Théâtre nannte, aber in Paris Fiasko machte und wegen schlechter Geschäfte 1645 in die Provinz ging. Hier schwang sich M. bald zum Direktor auf, durchstreifte mit seiner Truppe, die anfangs im Dienste des Herzogs von Epernon in Bordeaux, später des Prinzen von Conti, Gouverneurs von Languedoc, in Pézenas (wo ihm 1897 ein Denkmal, von Injalabert, errichtet wurde) stand, zwölf Jahre lang ganz Frankreich und kehrte 1658, an Erfahrungen reich, nach Paris zurück. In die Wanderzeit fallen, neben vielen unbedeutenden Stücken, seine beiden Lustspiele: »L'Étourdi« (Lyon 1655, nach dem »Inavvertito« des Barbieri) und »Le dépit amoureux« (1656). Bald erwarb sich die neue Truppe, die in Paris anfangs im Petit-Bourbon, dann seit 1661 im Palais-Royal spielte, die Gunst des Königs und Monsieurs, seines Bruders, dessen Truppe sie sich nannte, die des Publikums erst 1659 durch die »Précieuses ridicules«, eine Satire gegen die Unnatur und Ziererei der Sprache, die in den Zirkeln des Hôtel Rambouillet gesprochen wurde. Dadurch machte er sich viele Feinde, die in Verbindung mit den in ihrem Privilegium geschädigten Schauspielern des Hôtel de Bourgogne keine Gelegenheit vorübergehen ließen, um M. in Wort und Schrift anzugreifen. Auf »Sganarelle« (1660) und den mißglückten »Don Garcie« (1661) folgten in demselben Jahr »L'école des maris«, eine Nachahmung der »Adelphi« des Terenz, und »Les Fâcheux«. 1662 ging er eine Ehe ein mit Armande Béjart, der Schwester (nach andern Tochter) seiner Freundin Madeleine Béjart, die ihm durch ihr oberflächliches, kokettes Wesen sein ganzes Leben verbittert hat. Schon wenige Monate darauf war er in der Lage, in dem Lustspiel »L'école des femmes« seine verzweifelte Stimmung zu schildern. Auf die heftigen Angriffe seiner Feinde antwortete er mit der »Critique de l'École des femmes« und dem »Impromptu de Versailles«. Nach einigen Gelegenheitsstücken: »Le mariage forcé«, »La princesse d'Elide« (1664), »Don Juan, ou le Festin de Pierre«, »L'amour médecin« (1665), brachte er 1666 den »Misanthrope«, sein großartigstes und wahrstes Stück, auf die Bühne und, nachdem er wiederum einige kleinere Stücke für die Unterhaltung des Hofes verfaßt hatte (»Le médecin malgré lui«, »Le ballet des muses«, »Le Sicilien, ou l'Amour peintre«), 1667 den »Tartuffe« u. d. T.: »L'Imposteur«, aber nur mit Einer Vorstellung; erst 1669 gelang es ihm, nach Überwindung der äußersten Schwierigkeiten, das Stück drei Monate hindurch auf dem Repertoire zu erhalten; der Jubel des Publikums entschädigte ihn für die Exkommunikation und die offenen und versteckten Angriffe seiner Feinde. In der Zwischenzeit (1668) gingen der »Amphitryon« (nach Plautus), »George Dandin« und »L'Avare« über die Bretter; letzterer, nach Plautus und in Prosa geschrieben, von Goethe für »besonders groß und in hohem Grade tragisch« gehalten. Nun folgen wieder Unterhaltungsstücke für den Hof: »Monsieur de Pourceaugnac«, »Les amants magnifiques«, die Ballettkomödie »Le bourgeois gentilhomme«, »Les fourberies de Scapin«, »La comtesse d'Escarbagnas«; dann sein letztes Meisterwerk: »Les femmes savantes« (1672), wie die »Précieuses ridicules« gegen die Pedanterie und Unweiblichkeit der Frauen gerichtet. Die vierte Ausführung des »Malade imaginaire« war seine letzte Leistung. Seine durch Sorgen und Arbeit untergrabene Gesundheit erlag den Anstrengungen, als er in der Promotionsszene das Wort »Juro« aussprach; er bekam einen Blutsturz und verschied wenige Stunden darauf. Die Geistlichkeit versagte ihm ein ehrliches Begräbnis; in der Nacht und unter den Verwünschungen des fanatisierten Pöbels wurde er begraben. Erst 1817 brachte man seine (angeblichen) Gebeine auf den Père Lachaise. 1778 stellte die Akademie, deren Pforten dem Dichter verschlossen gewesen waren, seine Büste in ihrem Saal auf; eine andre, von Houdon (s. Tafel »Bildhauerkunst XII«, Fig. 1), fand 1775 im Foyer der Comédie-Française Platz, und 1844 wurde ihm, seinem Sterbehaus in der Rue de Richelieu gegenüber, ein Denkmal, die Fontaine Molière, errichtet. Mignard hat den Dichter zu verschiedenen Zeiten gemalt.

M. war von Haus aus ein vorzüglicher Schauspieler. Nicht nur die Rollen, die er für sich geschrieben, sondern auch andre, besonders die komischen, weniger die tragischen, spielte er unter dem Beifall des Publikums; schon sein Mienenspiel erregte stürmische Heiterkeit. Dabei war er eifrig und gewissenhaft, für gewöhnlich ernst, ja melancholisch; von seinen reichen Einnahmen machte er, zum Nutzen seiner Freunde und seiner Kunst, einen edlen Gebrauch. Vor allem aber ist M. Dichter, und wenn er schon in jenen Stücken, die er zur Augen- und Ohrenweide eines vergnügungssüchtigen Hofes schrieb, und in seinen Possen, in denen er seiner tollen Laune den Zügel schießen läßt, ungewöhnlichen Reichtum der Phantasie, seltene Leichtigkeit des Schaffens, tiefe Weisheit und unerschöpfliche Laune bekundet, so erheben ihn seine großen Charakterkomödien mit ihrer reinen Menschlichkeit und ewigen Wahrheit zu einem der ersten Dichter aller Zeiten. M. schafft selten frei; fast immer hat er Rahmen und Färbung seiner Stücke den Alten, den Italienern oder Spaniern entlehnt. Den Inhalt aber bilden die Torheiten und Lächerlichkeiten seiner Zeit; Falschheit und Unnatur, Heuchelei und Lüge verfolgt er mit glühendem Haß. Aber nicht Gestalten seiner Phantasie führt er uns vor, das Leben, das warme, wirkliche, pulsiert in seinen Werken; seine Blaustrümpfe und Marquis, sein Menschenfeind und Tartüff sind typisch geworden. Dazu ist[36] die Kunst, Verwickelungen zu erfinden (minder sie zu lösen), die Spannung des Zuschauers bis zum Schluß rege zu erhalten (z. B. in den »Femmes savantes«), bewunderungswürdig. Von gleicher Vortrefflichkeit ist sein Stil; klar und präzis, natürlich und doch überaus mannigfaltig, spricht er die Sprache der Stadt und des Landes, aller Klassen und aller Leidenschaften. Unter den zahlreichen Ausgaben von Molières Werken nennen wir nur die bedeutendsten: von Vivot und La Grange (1682, 8 Bde.), von Moland (2. Aufl. 1884, 12 Bde.) und besonders von Despois und Mesnard (1873–1900, 13 Bde.). Die letztere gibt im 10. Band eine ausführliche Biographie Molières, im 11. eine Bibliographie, im 12. und 13. ein Wörterbuch. Gute Schulausgaben einzelner Stücke besorgten Laun (fortgesetzt von Knörich, Leipz. 1873–1886, 14 Bde.) und Friische (Berl. 1879 ff.). Für die besten deutschen Übersetzungen der Werke Molières gelten mit Recht die des Grafen Wolf Baudissin, in fünffüßigen, reimlosen Jamben (Leipz. 1865–67, 4 Bde.), und die von L. Fulda (»Molières Meisterwerke«, 4. Aufl., Stuttg. 1904, 2 Bde.).

Aus der reichen Literatur über Molières Leben etc. vgl. »Régistre de Lagrange«, eine genaue Theaterchronik eines Schauspielers aus Molières Truppe (Faksimileabdruck, Par. 1876); Taschereau, Histoire de la vie et des écrits de M. (das. 1825, 4. Aufl. 1851); P. Lindau, M. (Leipz. 1872); Lotheißen, M., sein Leben und seine Werke (Frankf. 1880); Mahrenholtz, Molières Leben und Werke (Heilbr. 1881); Moland, M., sa vie et ses ouvrages (1886); Fournel, Les contemporains de M. (1863 bis 1866, 3 Bde.); P. Lacroix, Iconographie moliéresque (2. Aufl. 1876); Chardon, Nouveaux documents sur la vie de M. (1886–1905, 2 Bde.); Larroumet, La comédie de M., l'auteur et le milieu (1887); Ehrhard, Les comédies de M.en Allemagne (1888); Eloesser, Die älteste deutsche Übersetzung Molièrescher Lustspiele (Berl. 1893); H. Fritsche, M. – Studien, ein Namenbuch zu Molières Werken (2. Ausg., das. 1887); Monval, Chronologie Moliéresque (Par. 1897); H. Schneegans, Molière (Bd. 42 der »Geisteshelden«, Berl. 1902); Davignon, M. et la vie (Par. 1904); Martinenche, M. et le théâtre espagnol (das. 1905); Trollope, Life of M. (Lond. 1905); Mantzius, Molieretiden (Kopenh. 1904; franz. von Pellison, Par. 1908). Als besondere Organe für die Molière-Forschung dienten der »Molièriste« (Par. 1879–89) 1010 das »Molière-Museum« (hrsg. von Schweitzer, Wiesb. 1879–84).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 36-37.
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