Wohnungsfrage

[717] Wohnungsfrage, die Frage, wie die infolge des starken und raschen Anwachsens der Bevölkerung in Verbindung mit starker Erhöhung der Grundrente entstandenen Schwierigkeiten in der Befriedigung des Wohnungsbedürfnisses beseitigt werden können. Die W. ist wegen des großen Einflusses, den die Wohnung auf Gesundheit, Sittlichkeit und Familienleben ausübt, von hoher Bedeutung für die Gesamtheit. Sie ist eine allgemeine und eine besondere. Die erstere besteht darin, daß ganz allgemein in den Städten infolge der wachsenden Anhäufung der Bevölkerung und der steigenden Nachfrage nach Wohnungen die Wohnungspreise schneller steigen als das Einkommen und die Wohnungen nach der technischen und hygienischen Seite den modernen Anforderungen nicht entsprechen; die zweite betrifft die Wohnverhältnisse der untern Klassen, insbes. der arbeitenden Klassen, die einen unverhältnismäßig großen Teil ihres Einkommens auf das Wohnungsbedürfnis aufzuwenden, deren Wohnungen in gesundheitlicher und sittlicher Beziehung oft völlig unzureichend sind und die nicht selten unter einer richtigen Wohnungsnot zu leiden haben, d. h. überhaupt keine Wohnungen zu erschwingbaren Preisen bekommen können. Daß die Wohnungszustände, namentlich der untern Klassen, in hohem Maße reformbedürftig sind, haben amtliche und private Erhebungen der jüngsten Zeit unwiderleglich dargetan. Die Stockwerkzahl ist gestiegen, die Wohndichtigkeit hat mehr und mehr zugenommen, ebenso die Benutzung desselben Raumes zu Wohn-, Arbeits- u. Schlafzwecken, das Aftermiet- und Schlafgängerwesen, das Bewohnen von Kellerräumen. In Berlin, Breslau, Frankfurt a. M., Görlitz, Halle, Königsberg und Magdeburg hatten 1895 noch über 50 Proz., in Dresden, Hannover, Lübeck fast 50 Proz. aller Wohnungen nicht mehr als einen heizbaren Raum. Im selben Jahre lebten von 1000 Bewohnern in

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Die Bedeutung schlechter Wohnungszustände für die Sterblichkeit erhellt daraus, daß in Berlin 1885 die Zahl der Sterbefälle betrug in 0/00 der Bevölkerung in Wohnungen von

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und im Durchschnitt 20,1. In sittlicher Beziehung wirken Mangelhaftigkeit der Wohnung und große Wohndichtigkeit insofern schädlich, als sie den Sinn für[717] Reinlichkeit, Sparsamkeit, Ordnung untergraben und Streitigkeiten, geschlechtliche Laster und Wirtshausbesuch befördern. Deshalb hat die Gesamtheit das größte Interesse, an der Lösung der W. zu arbeiten. Ihre allgemeine Verbreitung haben die internationalen Wohnungskongresse, deren letzter im Juni 1902 in Düsseldorf stattfand, bekundet.

Das gründlichste Mittel zur Lösung der W., das auch schon häufig empfohlen wurde, wäre wohl eine gleichmäßigere Verteilung der Bevölkerung über das ganze Staatsgebiet unter Verlegung der Industrie etc. auf das platte Land; aber der Gedanke ist praktisch nicht, oder doch nur so allmählich durchführbar, daß einstweilen andre, wenn auch kleinere Reformen im Vordergrund stehen. Zu ihrer Verwirklichung müssen Staat, Gemeinde und freiwillige Tätigkeit zusammenwirken. Jedoch werden die Mittel, je nach der konkreten Natur der zu bekämpfenden Mißstände, verschieden sein müssen. Die Mangelhaftigkeit der Wohnungen nach der technischen Seite hin zu bekämpfen, ist Sache der öffentlichen Baupolizei (s. d.). Es sind allgemeine Vorschriften nötig, die sich auf Sicherheit der Anlage, Abhaltung von Gefahren für die Gesundheit, dann auf allgemeine, im Interesse des Verkehrs liegende Ordnungsverhältnisse beziehen. Allenfalls ist auch bei vorhandenen Wohnungen und Straßen ein Einschreiten erforderlich, indem eine im Gesamtinteresse liegende gleichmäßige Regelung an wohlerworbenen mannigfaltigen Einzelinteressen scheitert. Man hat deswegen auch gefordert, daß, wie dies in einzelnen Ländern schon der Fall, der Staatsgewalt oder auch den Gemeinden die Befugnis zur Enteignung von Häusern zugestanden werde, wenn aus Gründen der Gesundheit, Reinlichkeit etc. eine Abtragung erforderlich sei. Die Beseitigung von Mängeln schon bestehender Wohnungen und die Verhinderung der Überfüllung ist Aufgabe der Wohnungsinspektion (s. d.). Bezüglich der Beseitigung des eigentlichen Wohnungsmangels kommen Maßregeln in Betracht, durch die Staat und Gemeinden unmittelbar und mittelbar auf angemessene und billige Befriedigung des Wohnungsbedürfnisses und Erstellung brauchbarer Wohnungen für die mittlern und insbes. die untern Klassen hinwirken können. In erster Linie kommt hier die Fürsorge des Staates und der Gemeinden für ihre eigenen Beamten in Betracht, die, abgesehen von Wohnungsgeldzuschüssen für die höhern Beamten, in der Erbauung eigener Wohngebäude für die untern Beamten und Arbeiter sich äußert. So haben die preußische, bayrische, sächsische, württembergische Staatseisenbahnverwaltung, das preußische Kriegsministerium, das Reichsmarineamt etc. zahlreiche Wohnungen für die genannten Kategorien hergestellt. Die Städte Freiburg, Ulm, Straßburg i. E., Emden, Düsseldorf u. a., der Londoner Grafschaftsrat, die Stadt Bern haben ausgedehnte Wohnungsanlagen für die arbeitenden Klassen geschaffen. Allerdings erhebt sich im letztern Falle das Bedenken, daß dadurch die private Bautätigkeit, der wohl immer der Hauptanteil an der Befriedigung des Wohnungsbedürfnisses zufällt, und die gemeinnützige Tätigkeit von Vereinen, Gesellschaften und Genossenschaften (vgl. Genossenschaften, S. 575) beeinträchtigt wird. Immerhin kann der Gemeinde das Recht und die Pflicht, subsidiär einzutreten, wenn die übrigen Faktoren versagen, nicht bestritten werden. Häufig wird aber eine mehr mittelbare Unterstützung durch die öffentlichen Gewalten genügen, so die Förderung von Baugenossenschaften, Gewährung billiger Darlehen und zeitweiser Steuernachlaß für Neubauten, die bestimmten gestellten Anforderungen entsprechen, Bekämpfung der Bodenspekulation, Einrichtung geeigneter Fahrgelegenheiten zu niedrigen Tarifsätzen, die außerhalb der Zentren großer Städte zu wohnen gestatten, etc.; vgl. Arbeiterwohnungen.

Von der reichhaltigen Literatur über die W. führen wir außer den unter Artikel »Arbeiterwohnungen« genannten Schriften noch an: »Die W.«, herausgegeben vom Zentralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen (Berl. 1866); Lette, Die W. (2. Aufl., das. 1871); Laspeyres, Der Einfluß der Wohnung auf die Sittlichkeit (das. 1869); Wiß, Über die W. in Deutschland (das. 1872); Engel, Die moderne Wohnungsnot (Leipz. 1873); Assmann, Die Wohnungsnot in Berlin (Berl. 1873); Arminius, Die Großstädte in ihrer Wohnungsnot (Leipz. 1874); »Gutachten und Berichte«, in den Schriften des Vereins für Sozialpolitik (Bd. 30, 31 u. 33, das. 1886–1887) und »Neue Untersuchungen über die W. in Deutschland und im Ausland« (ebenda, Bd. 94–97, das. 1901); Aschrott, Die englische Wohnungsgesetzgebung (in Schmollers »Jahrbuch«, Bd. 9); Fuld, Die Wohnungsnot der ärmern Klassen (Hamb. 1889); Albrecht, Die Wohnungsnot in den Großstädten (Münch. 1891); Fuchs, W. im »Handwörterbuch der Staatswissenschaften« (2. Aufl., Bd. 7, Jena 1901); P. Voigt, Grundrente und W. in Berlin (1. Teil, Jena 1901); Bingner, W. und Wohnungspolitik in ihren Beziehungen zur allgemeinen Sozialreform (Berl. 1901); E. Jäger, Die W. (das. 1902–03, 2 Bde.); Wagner, Die Tätigkeit der Stadt Ulm auf dem Gebiete der Wohnungsfürsorge für Arbeiter und Bedienstete (Ulm 1903); v. Renauld, Beiträge zur Entwickelung der Grundrente und W. in München (Leipz. 1904); C. Schmidt, Die Aufgaben und die Tätigkeit der deutschen Invalidenversicherungsanstalten in der Arbeiterwohnungsfrage (Köln 1905); Mewes, Bodenwerte, Bau- und Bodenpolitik in Freiburg i. Br. 1863–1902 (Karlsr. 1905); A. Voigt und Geldner, Kleinhaus und Mietkaserne (Berl, 1905); Eberstadt, Das Wohnungswesen (aus dem »Handbuch der Hygiene«, Jena 1904); »Die Wohnungsfürsorge im Reiche und in den Bundesstaaten«, Denkschrift, bearbeitet im Reichsamt des Innern (Berl. 1904); Nußbaum, Die Hygiene des Wohnungswesens (in der Sammlung Göschen, Leipz. 1907); »Die W. und das Reich«, Sammlung von Abhandlungen, herausgegeben vom deutschen Verein für Wohnungsreform (Götting. 1900 ff.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 717-718.
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