Romanische Sprache

[300] Romanische Sprache, diejenige Sprache romanischen Stammes, welche in einem Theile des alten Rhätien, in dem heutigen Canton Graubündten, gesprochen wird, in einzelnen Zügen sich theils der Provençalischen od. Französischen, theils der Italienischen sich nähert, in ihrem ganzen Bau aber sonst ein eigenthümliches Gepräge trägt. Da schon in altdeutscher Zeit jener Landstrich den Namen Churewala führte, so nennt man diese Sprache auch Churwälsch; die Benennung Rhätoromanisch, welche häufig in Deutschland gebraucht wird, ist nirgends volksthümlich; im Lande selbst heißt die Sprache Rumonsch. Als eine ebenbürtige Schwester der sechs Romanischen Schriftsprachen kann sie nicht gelten, theils weil sie durch fremde bes. deutsche Einwirkungen verdunkelt, nicht zu völliger Selbständigkeit gelangt, theils weil auf ihrem Boden keine eigentliche Schriftsprache erwachsen ist. Man schreibt u. druckt nur in den Mundarten u. zwar nach einer willkürlichen u. verworrenen Orthographie. Es fehlt ihr ein veredeltes Idiom, was über den Dialekten steht; das was als Schriftsprache gilt, geht mit den Mundarten Hand in Hand u. ändert sich mit ihnen. Die beiden Hauptmundarten sind: a) die vorzugsweise Romanisch, Rumonisch od. Churwälsche genannte Sprache am obern Rhein im Gebiet des Grauen u. des Gotteshausbundes, mit einigen dialektischen Schattirungen; b) das sogenannte Ladinische (Latein) im Engadin (Thal des obern Inn), welches von dem vorigen merklich verschieden ist, sich selbst aber wieder in zwei wenig abweichende Dialekte, den des Oberengadin u. des Unterengadin, theilt; vgl. Böttiger, Rhätoromanska språkets dialecter (Upsala 1853). Alle Buchstaben werden ausgesprochen; ch lautet wie tj, gi wie dj, gl u. lg mouitlirt, ebenso gn, u zuweilen wie ü. Die R. S. hat einen Artikel, Masc. ilg, Fem. la. Die Declination wird durch Präpositionen gebildet, z.B. Nom. ilg frar der Bruder, Gen. dilg frar, Dat. a ilg frar, Acc. wie Nom., Plur. Nom. ils frars etc. Außerdem gibt es noch einen unbestimmten u. Theilungsartikel, wie im Französischen. Die meisten Hauptwörter nehmen im Plural ein s an, einige wenige nur a, z.B. ilg member das Glied, Plur. la membra. Die Beiwörter werden theils vor, theils nach den Hauptwörtern gesetzt, ziemlich nach denselben Regeln wie im Französischen. Die Comparation wird durch pli mehr, ilg pli am meisten, bezeichnet. Die Zahlwörter sind 1 un, 2 dus, 3 treis, 4 quater, 5 tschunc, 6 sis, 7 set, 8 oig, 9 nov, 10 diesch. Die Declination der persönlichen Fürwörter jou ich, ti du, el er, ella sie, ist unregelmäßig, z.B. Gen. da mei, da tei, dad el (ella) etc. Die Possessiva stehn gewöhnlich mit dem Artikel, z.B. ilg mieu amig mein Freund. Das Verbum hat nur zwei einfache Tempora, Präsens u. Imperfectum, z.B. jou laud ich lobe, jou ludava ich lobte; das Perfectum u. Plusquamperfectum werden durch das Participium präterit mit dem Hülfswort esser sein od. haver haben, gebildet: jou hai ludau ich habe gelobt, jou veva ludau ich hatte gelobt. Das Futurum wird durch vegnir kommen mit dem Infinitiv umschrieben: jou veng a ludar ich werde loben. Es gibt vier Conjugationen nach dem Lateinischen, deren erste im Infinitiv auf ar, die zweite auf er (lang), die dritte auf er (kurz), die vierte auf ir endigt. Das Passivum wird durch vegnir mit dem Participium präteritum gebildet, welchem letzteren jedoch in diesem Falle im Masculinum ein s, im Femininum ein a (da etc.) angehängt wird, z.B. jou veng ludaus (ludada) ich werde gelobt. Obgleich die Grammatik diesem nach durchaus romanisch ist, so ist doch der Wortvorrath vielfach mit fremden, bes. germanischen Elementen durchsetzt. Der Anfang des Vaterunsers lautet: bab noss, ilg qual eis enten tschiel, soing vegnig faig tion num, d.h. Vater unser, der welcher bist im Himmel, heilig werde gemacht dein Name. Vieles Interesse bietet diese Sprache in etymologischer Beziehung, da die alten Rhätier etruskischen Stammes waren u. unter Augustus dem Römischen Reiche unterworfen wurden. Einige Jahrhunderte später besetzten Alemannen den westlichen, Bojoaren den östlichen Theil Rhätiens; während im Osten (Vorarlberg) die R. S. unterging, lebte sie im Westen fort. Etruskische Reste haben sich bes. in Localnamen, theilweise auch in Appellativen erhalten; vgl. Strub, Über die Urbewohner Rhätiens (1843) u. Zur Rhäthischen Ethnologie (1854). Das deutsche Element ist beträchtlich, zum großen Theil aber, wie die Formen bezeugen, erst in späterer Zeit eingedrungen.

Eine eigentliche Literatur in dieser R. S. gibt es nicht. Eine große Anzahl von alten Sprachdenkmälern ging im Mai 1799 bei dem Brande der Benedictinerabtei Disentis zu Grunde. Mit den reformatorischen Bestrebungen (von Joh. Travers, den Brüdern Thomas u. Ulrich Campbell) gegen die Mitte des 16. Jahrh. zeigte sich auch in Graubündten eine größere geistige Regsamkeit. Es entstanden historische Lieder (z.B. von Johann Travers), welche zum Theil noch im Munde des Volks leben; zu Süß, Ardetz u. anderwärts kamen zahlreiche theils geistliche, theils historische Schauspiele, darunter ein Wilhelm Tell, zur Aufführung, wo gegen die sonstige Sitte der Zeit die Frauenrollen auch durch Frauen dargestellt wurden. Ein solches Stück waren die zehn Stufen des menschlichen Lebens von Stuppan (1564 aufgeführt). Den Auszug eines Mysterium Die klugen u. die thörichten Jungfrauen, sowie ein älteres Gedicht La nolla leyzon hat Kannegießer in den Gedichten der Troubadours (Tüb. 1852) übersetzt. Das älteste gedruckte Buch ist ein Katechismus von Gallitius, in Ladinischer Mundart, der 1551 erschien. Ulrich Campbells Übertragung der Psalmen nebst einer Anzahl geistlicher Lieder erschien 1562; die bedeutendste Leistung aber war Jakob Viveroni's Übersetzung des N. T. (Bas. 1560), welcher später eine andere von Gritti folgte. Was sonst noch in Druck erschien, meist Andachts- u. Gebetbücher, ist unbedeutend. Dahin gehört die Philomela, ein geistliches Liederbuch des Pfarrers Johannes Martinus ex Martinis. Das jetzt gebräuchliche Gesangbuch (von 1765 u. 1840) besteht nur aus Liedern des Pfarrers Joh. Bapt. Trizzoni. In neuerer Zeit erschienen die Religiusas meditazinns cun oraziuns (Chur 1832) von dem Deutschen Wetzel, die Liturgie des Pfarrers Sandri u. biblische Geschichten[300] von Heinrich u. Lechner. Seit 1855 erscheint zu Chur Dumengiaseira, eine kleine Vierteljahrsschrift meist religiösen Inhalts, welche von den Pfarrern Vital in Pontresina u. Lechner in Celerina redigirt wird. Vgl. Witte, Alpinisches u. Transalpinisches, Berl. 1858; Planta, Geschichte der R. S., Chur 1776; Conradi's Grammatik, Zür. 1820, u. Wörterbuch, Zürich 1823; Carisch, Formenlehre, Chur 1852, u. Wörterbuch, Chur 1852.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 14. Altenburg 1862, S. 300-301.
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