[27] Diónysos, bei den Griechen der Gott der schwellenden Triebkraft der Natur, wie sie sich in den Bäumen und besonders im Weinstock zeigt, daher als erster Pflanzer desselben und Weinbereiter (Lenäos, »Kelterer«) angesehen. Sein Kult scheint thrakischen Ursprungs und von Thrakern in Mittelgriechenland am Parnaß, wo D. als Mitbesitzer von Delphi erscheint, und am Kithäron eingeführt zu sein. In der gewöhnlichen Sage gilt er als Sohn des Zeus und der thebanischen Königstochter Semele (s. d.); als diese, von Zeus' Blitz getroffen, das erst sechsmonatliche Kind gebar, barg es Zeus in seiner Hüfte bis zur Reise und gab es dann den Nymphen von Nysa (s. d.) oder Dodona zur Pflege. Herangewachsen, pflanzt D. den Weinstock und zieht mit seinem vom Wein begeisterten Gefolge (Thiasos), seinen Ammen und andern Nymphen, Satyrn, Silenen und sonstigen Dämonen umher,
[27] um seinen Kult und den Weinbau zu verbreiten, trotz seiner Jugend ein wunderstarker Gott, der seine Widersacher furchtbar straft; eine Reihe von Sagen läßt erkennen, daß der neue Kult an manchen Orten auf heftigen Widerstand stieß (s. Lykurgos und Pentheus). Nachdem er sich überall Anerkennung verschafft und neben Herakles in Löwengestalt den Göttern zum Gigantensiege verholfen, wurde er in den Olymp aufgenommen, in dem er bei Homer noch nicht erscheint.
Vom griechischen Festland aus verbreitete sich der Kult nach den weinreichen Inseln, unter denen er besonders auf Naxos blühte, der Vermählungsstätte des D. mit Ariadne, und überallhin, wo Griechen saßen, Italien, Ägypten und Asien. Späterer Zeit gehört die dem Alexanderzuge nachgebildete Vorstellung von seinem Siegeszuge durch Ägypten, Syrien, Indien bis zum Ganges auf einem von Löwen oder Tigern gezogenen Wagen mit seinem Thiasos als Heer. Mit seiner Auffassung als Vegetationsgott verbindet sich die eines Kulturgottes, der mit seinen Gaben nicht nur dem Körper Stärkung und der Seele Erheiterung und Befreiung von Sorgen bringt (daher der Beiname Lyäos, »Sorgenlöser«), sondern auch durch die von Baum- und Weinpflanzungen erforderte Pflege zu sorgsamer Arbeit anhält und zu froher Geselligkeit führt. Dem Wesen des Weingottes entsprechend trägt sein Kult einen ausgelassenen Charakter, der, wie die Sagen erkennen lassen, in alten Zeiten zum orgiastischen Taumel gesteigert war. Wie dies läßt auch der Umstand den fremden Ursprung erkennen, daß dem D. von Weibern gedient wurde und zwar zum Unterschied von den alten Olympiern zur Nachtzeit. Jahr um Jahr läßt die Sage die bis zur Raserei begeisterten Dienerinnen des Gottes, Bakchen, Thyiaden, Mänaden (Fig. 1) genannt, in Rehkalbfellen, mit Efeu und Schlangen im Haar, den Thyrsos und Fackeln schwingend, unter Geschrei und rauschender Musik zur Winterzeit durch Wälder und Berge ziehen und die geschlachteten Opfertiere, Rehkälber, Böcke, Stiere, zerreißen und das Fleisch roh verschlingen. Nach dem Geschrei und Lärm seiner Dienerinnen heißt der Gott selbst Bakchos (»Rufer«), Euios und Euan (von dem Rufe euoi), Bromios (»Lärmer«). In historischer Zeit ist ein Nachbild dieses Kults besonders das winterliche Nachtfest der delph ischen Thyiaden, die, während an dem im Allerheiligsten des Apollotempels gezeigten Grabe des D. ein geheimnisvolles Opfer gebracht wurde, auf dem Parnaß den »Liknitis weckten«, d.h. den in einer Schwinge als Wiege liegenden neugebornen Gott anriefen. Denn wie andre Vegetationsgötter läßt die Sage den D. gestorben sein, aber mit der Verjüngung der Vegetation wieder geboren werden. In dieser chthonischen Bedeutung erscheint D. als Jakchos auch in Attika in den ihm mit Demeter und Persephone gemeinsamen eleusinischen Mysterien und in der Sage von Zagreus (»der Zerrissene«), dem Sohne des Zeus und der Persephone (der Demeter), den als spielendes Kind die von der eifersüchtigen Hera angestifteten Titanen zerreißen und verzehren; nur das zuckende Herz rettet Athene und bringt es Zeus, der es verschlingt, worauf der jüngere oder thebanische D. erzeugt wird. Durchaus orgiastisch war der Kult des D. in seiner in Asien vollzogenen Verschmelzung mit den ausschweifenden der Kybele und des Sabos oder Sabazios. Fröhlicher und gemäßigt orgiastischer Art war der attische Zyklus der Dionysosfeste (Dionysien). Bei den kleinen oder ländlichen Dionysien, die von Gau zu Gau im Monat Poseideon (Dezember) beim Herannahen der Weinlese mit Prozessionen, Schmäusen, Gesängen, Schauspielen etc. gefeiert wurden, war eine besondere Ergötzlichkeit das Schlauchspringen (Askolia), wobei es galt, auf einem aufgeblasenen und mit Öl bestrichenen Schlauch aus der Haut eines geopferten Bockes mit einem Bein zu hüpfen. Die Lenäen, eine städtische Nachfeier des ländlichen Festes, benannt nach dem Lenaion, dem heiligen Bezirk des D., wurden im Gamelion (Januar) mit einem großen Schmaus auf Staatskosten und einer Prozession durch die Stadt begangen. Die Anthesterien wurden am 11., 12. und 13. Anthesterion (Februar) als Trinkfest gefeiert. Am ersten Tag (Pithoigia, »Faßöffnung«) kosteten Herren und Sklaven den neuen Wein; am zweiten (Choes, »Kannenfest«) trank man beim öffentlichen Schmaus unter Posaunenschall um die Wette, und am Abend fand die Vermählung der Basilissa, d.h. der Gemahlin des Archon Basileus, als Vertreterin des Landes, mit D. statt; am dritten Tag (Chytroi, »Töpfe«) weihte man den Seelen der Verstorbenen, die in dieser Festzeit umgehen sollten, Töpfe mit gekochten Sämereien. Die sechstägigen großen oder städtischen Dionysien wurden im Elaphebolion (März) als Frühlingsfest mit großer Pracht begangen. Den Glanzpunkt bildeten die dreitägigen Aufführungen neuer Tragödien, Satyrspiele und Komödien. Die D. und Ariadne geltenden, angeblich von Theseus nach seiner Rückkehr von Kreta gestifteten Oschophorien, eine Vorfeier der Weinlese im Pyanepsion (Oktober), bestanden in einem Wettlauf von 20 Epheben mit traubenbehangenen Ranken nach dem Tempel der Athene in Phaleron und einer Prozession zurück nach Athen. Wie D. selbst, so hieß auch sein alter Kultgesang Dithyrambus; indem dieser nicht nur selbst sich zur eignen Kunstgattung gestaltete, sondern auch aus ihm sich das Drama entwickelte, erhielt D. auch musische Bedeutung. Als ihren Schutzpatron verehrten ihn die Vereine der »Dionysischen Techniken« (s. d.). Die Römer stellten den D., den sie gewöhnlich Bacchus nennen, ihrem heimischen [28] Liber (s. d.) gleich. Wie in ganz Italien, so drang auch bei ihnen ein seit dem Peloponnesischen Krieg unter dem Einfluß des Kybele- und Sabazioskults entstandener Geheimdienst ein, die sogen. Bacchanalien (s. d.), der wegen seiner Greuel 168 v. Chr. blutig ausgerottet werden mußte. Die vornehmsten Opfertiere des D. sind Bock und Stier, beide Symbole der Zeugungskraft; als Stier wurde D. selbst in manchen Kulten vorgestellt. Gleichfalls ein Symbol der zeugenden Naturkraft ist der zum Dionysoskult gehörige Phallos. Die eine Schlange neben andern geheimnisvollen Symbolen enthaltende sogen. mystische Kiste (s. Cista) scheint aus dem D.-Sabazioskult zu stammen. Nach Asien weisen auch Löwe, Tiger und Panther als Begleiter des D. Unter den Pflanzen ist ihm heilig außer dem Weinstock namentlich der triebkräftige Efeu.
In den ältesten bildlichen Darstellungen erscheint D. in reifem Alter, mit langem Bart und Haar, in voller Gewandung (Fig. 2), wie ihn unter anderm die als Sardanapal bekannte Statue im Vatikan zeigt. Neben diesem Typus wurde seit dem 4. Jahrh. eine jugendliche Auffassung des D. vorherrschend (Fig. 3), die ihn als Jüngling von üppigen, weichen Formen, mit träumerischem Gesichtsausdruck, das langgelockte Haar durch eine Binde, Reben- oder Efeukranz gehalten, meist nackt oder mit leicht übergeworfenem Reh- oder Pantherfell bekleidet, ruhend oder behaglich angelehnt, Thyrsusstab, Trauben oder Becher haltend, häufig auch mit den Gestalten seines Gefolges, Mänaden, Satyrn, Silenen u.a. bildet.
Zu den schönsten Darstellungen des jugendlichen D. zählen zwei Marmorköpfe des kapitolinischen und des Leidener Museums. Zahlreiche Kunstwerke verherrlichen seine Taten und Schicksale, so das Lysikratesdenkmal seinen Triumph über frevlerische Seeräuber. Ein Lieblingsgegenstand römischer Sarkophage und Wandbilder ist der Hochzeitszug von D. und Ariadne, umgeben von dem schwärmenden Thiasos. Vgl. Brown, The great Dionysiak myth (Lond. 187778, 2 Bde.); Rapp, Beziehungen des Dionysoskultus zu Thrakien (Stuttg. 1882); Ribbeck, Anfänge und Entwickelung des Dionysoskultus in Attika (Kiel 1869); A. Mommsen, Feste der Stadt Athen (neue Bearbeitung, Leipz. 1898); Mittelhaus, De Baccho attico (Bresl. 1874).
Buchempfehlung
Der junge Naturforscher Heinrich stößt beim Sammeln von Steinen und Pflanzen auf eine verlassene Burg, die in der Gegend als Narrenburg bekannt ist, weil das zuletzt dort ansässige Geschlecht derer von Scharnast sich im Zank getrennt und die Burg aufgegeben hat. Heinrich verliebt sich in Anna, die Tochter seines Wirtes und findet Gefallen an der Gegend.
82 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro