Juristentag

[389] Juristentag, eine freie Vereinigung deutscher und österreichischer Juristen, die, zuerst 1860 durch die Juristische Gesellschaft in Berlin infolge eines von Franz v. Holtzendorff (s. d. 2) gestellten Antrags nach Berlin berufen, seitdem in meistenteils jährlichen, zuweilen auch längern Zwischenräumen zusammentritt und den Charakter einer Wanderversammlung angenommen hat. Ihr Zweck ist: eine Vereinigung für den lebendigen Meinungsaustausch unter den deutschen Juristen zu bilden, auf den Gebieten des Privatrechts, des Strafrechts und des Prozesses den Forderungen nach einheitlicher Entwickelung immer größere Anerkennung zu verschaffen, die Hindernisse, die dieser Entwickelung entgegenstehen, zu bezeichnen und sich über Vorschläge zu verständigen, die geeignet sind, die Rechtseinheit zu fördern. Zur Mitgliedschaft im J. sind nur Sachverständige (Professoren[389] und Doktoren der Rechte, Richter, Staatsanwalte, rechtsgelehrte Verwaltungsbeamte, Advokaten, Notare und die Aspiranten dieser Berufsarten) berechtigt. Politische, kirchliche und staatsrechtliche Fragen bilden für ihn keinen Gegenstand der Verhandlung; zum Zwecke der Beratung werden jeweils folgende vier Abteilungen gebildet: 1) für Privatrecht, insbes. Obligationen- und Pfandrecht, juristisches Studium und praktische Ausbildung; 2) für Handels-, Wechsel-, See- und internationales Recht; 3) für Strafrecht, Strafprozeß und Gefängniswesen; 4) für Gerichtsverfassung und Zivilprozeß. Diese Abteilungen beraten gesondert und lassen alsdann in den Plenarversammlungen ihre Beschlüsse durch Referenten vortragen, woselbst eine neue Diskussion und Beschlußfassung beantragt werden kann. Die Leitung der Geschäfte besorgt eine »ständige Deputation«. Die Verhandlungen des Juristentags, denen jeweils ein Bericht über die Entwickelung der Gesetzgebung seit der letzten Versammlung einverleibt wird, die Gutachten, Mitgliederverzeichnisse werden von der ständigen Deputation herausgegeben. Unter dem Präsidium angesehenster Juristen ist der J. bisher 27mal zusammengetreten (1860 Berlin, 1861 Dresden, 1862 Wien, 1863 Mainz, 1864 Braunschweig, 1867 München, 1868 Hamburg, 1869 Heidelberg, 1871 Stuttgart, 1872 Frankfurt a. M., 1873 Hannover, 1875 Nürnberg, 1876 Salzburg, 1878 Jena, 1880 Leipzig, 1882 Kassel, 1884 Würzburg, 1886 Wiesbaden, 1888 Stettin, 1889 Straßburg i. Elf., 1891 Köln, 1893 Augsburg, 1895 Bremen, 1898 Posen, 1900 Bamberg, 1902 Berlin und 1904 Innsbruck) und hat hierbei der deutschen Rechtseinheit erheblichen Vorschub geleistet, besonders auch, zur Überwindung des Partikularismus viel beigetragen. Seine Arbeiten, Gutachten und Beratungen hatten für viele Gesetzgebungsfragen, die nachmals an den norddeutschen und deutschen Reichstag gelangten, die Bedeutung eines juristischen Vorparlaments. Gegenwärtig sind auf den Juristentagen die Anwalte in überwiegender Mehrzahl vorhanden und deshalb ist auch deren Ansicht bei den Beschlüssen des Juristentags ausschlaggebend. Auch auf das Ausland gewann das Beispiel des Juristentags Einfluß. Nach seinem Vorgang organisierten sich größere. periodisch wiederkehrende Versammlungen von Juristen in der Schweiz, in den Niederlanden, in den skandinavischen Ländern, in Italien. Vgl. die »Verhandlungen« des deutschen Juristentags (Berl., seit 1860); Thomsen, Gesamtbericht über die Tätigkeit des deutschen Juristentags in den 25 Jahren seines Bestehens 1860–1885 (das. 1885); Stenglein, Geschichte des deutschen Juristentages (in der »Deutschen Juristenzeitung«, 1902, S. 401 ff.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 10. Leipzig 1907, S. 389-390.
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