Wiesbaden

[615] Wiesbaden (hierzu der Stadtplan), Hauptstadt des gleichnamigen Regierungsbezirks und Stadtkreis in der preuß. Provinz Hessen-Nassau, bis 1866 Haupt- und Residenzstadt des Herzogtums Nassau, in schöner, durch mildes Klima ausgezeichneter Gegend, am Südfuß des Taunus, 5 km vom Rhein entfernt, 116 m ü. M., ist namentlich in ihren neueren Teilen regelmäßig gebaut und besitzt eine große Anzahl prächtiger Gebäude.

Wappen von Wiesbaden.
Wappen von Wiesbaden.

Von den zu gottesdienstlichen Zwecken bestimmten Bauwerken in der Stadt (3 evangelische und 2 kath. Kirchen und 2 Synagogen) sind bemerkenswert: die neue evang. Kirche (im romanischgotischen Stil, 1853–62 von Boos erbaut), mit drei Schiffen, schönen Altargemälden und Statuen von Hopfgarten, trefflicher Orgel und Glockenspiel; die neue Bergkirche (1877–79 nach Plänen des Baumeisters Otzen unter Leitung Grisebachs errichtet); die neue evang. Ringkirche (1892–94 von Otzen erbaut); die kath. Bonifatiuskirche (1844–49 von Hoffmann im romanisch-gotischen Stil erbaut); die kath. Mariahilfkirche (1893–95 vom Dombaumeister Meckel errichtet); die englische Kirche (1865); die neue altkath. Kirche (1900 erbaut); die Synagoge auf dem sogen. Michelsberg, ein maurischer Kuppelbau (1869). Von andern Gebäuden sind zu nennen: das königliche, früher herzogliche Schloß (1837–40 erbaut); das neue Rathaus (1884–88 nach Plänen Hauberrissers im deutschen Renaissancestil ausgeführt); das Museum mit Gemäldegalerie; das Altertumsmuseum; das Naturalienkabinett und die Landesbibliothek (mit über 150,000 Bänden); das Palais Pauline (1842 im Stil der Alhambra erbaut, jetzt Stadtbesitz); das im florentinischen Stil erbaute Regierungsgebäude; das neue, prachtvolle, 1892–94 von Fellner und Helmer erbaute Hoftheater (s. Tafel »Theaterbau I«); das neue Justizgebäude (1894–97, s. Tafel »Gerichtsgebäude I«, Fig. 7); das Staatsarchiv; das Landeshaus (1905–07) etc. Ferner sind zu nennen: das neue, prächtige Kurhaus mit einem von sechs ionischen Säulen getragenen Portikus und prachtvollen Sälen (1904 bis 1907 von Professor v. Thiersch-München erbaut), dahinter die bis zur Wasserheilanstalt Dietenmühle und zur Burgruine Sonnenberg sich erstreckenden Kuranlagen, mit großem Teich und einer 36 m hohen Fontäne sowie mit den Denkmälern des Kurdirektors Heyl (1907) und Gustav Freytags (1905). Vor dem Kurhaus liegt der auf beiden Seiten von Kolonnaden flankierte Blumengarten mit zwei Teichen und der von Prachthotels eingefaßte Kaiser Friedrich-Platz mit dem Denkmal des Kaisers Friedrich (1897, modelliert von Uphues), seitlich, neben der Alten Kolonnade, das Denkmal des Dichters Bodenstedt, an der Hauptquelle, dem Kochbrunnen, die große Trinkhalle, in der Nähe derselben, auf dem Kranzplatz, eine schöne Hygieiagruppe. Seitlich der Wilhelmstraße die Anlagen des sogen. Warmen Dammes mit dem Denkmal Kaiser Wilhelms I. (1894, modelliert von Schilling) u. dem Schillerdenkmal (1905, modelliert von Uphues), nahebei das Bismarckdenkmal (1898, modelliert von Herter). Auf dem Luisenplatz das Waterloodenkmal (1865), ein Obelisk, zum Andenken an die in der Schlacht bei Waterloo gefallenen Nassauer. Sehenswert ist auch die alte römische, sogen. Heidenmauer mit dem Römertor. Unmittelbar nördlich der Stadt erhebt sich der an seiner Südseite mit Weinbergen bedeckte, sonst bewaldete Neroberg mit Anlagen, Restaurationsgebäude und Aussichtsturm, wohin eine Drahtseilbahn führt. Am Abhang des Berges steht die russisch-orthodoxe Kapelle (1855) mit dem Grab und schönen Sarkophag der 1845 verstorbenen Herzogin Elisabeth. Vor dem Neroberge zieht sich das Nerotal hin, im vordern Teile mit Anlagen, in denen das Kriegerdenkmal steht. Auch das nordwestlich gelegene Dambachtal ist mit Anlagen versehen, in denen das Freseniusdenkmal (1904) Ausstellung gefunden hat. Die Zahl der Einwohner belief sich 1905 mit der Garnison (2 Bataillone Infanterie Nr. 80 und eine Abteilung Feldartillerie Nr. 27) auf 100,953 Seelen, davon 32,801 Katholiken und 2656 Juden.

Die Bedeutung von W. beruht auf den dortigen Mineralquellen, die 1907 von 180,000 Kurgästen besucht wurden. Die hier entspringenden Thermalquellen wurden schon von den Römern benutzt, doch erwarb sich W. als Kurort erst seit dem 16. Jahrh. einen Ruf, der seitdem immer zugenommen hat, besonders auch, nachdem es wegen seines milden Klimas als Winteraufenthalt und behufs der Abhaltung von Winterkuren so besucht wird, daß die Frequenz der Wintersaison derjenigen der Sommersaison kaum nachsteht. Die zahlreichen Quellen, die an Gehalt nur wenig und nur an Temperatur (40–69°) verschieden sind, gehören zu den alkalischen Kochsalzthermen; man zählt ihrer im ganzen 23, von denen die bedeutendste, der Kochbrunnen (69°), ferner die Schützenhofquelle (50°) und der Adlerbrunnen (64°) offen zutage treten (Zusammensetzung s. Tabelle »Mineralwässer VIII b« im 13. Bd.). Sämtliche Quellen geben zusammen 1,4 cbm Wasser in der Minute. Der Kochbrunnen allein wirft täglich 45,5 dz Kochsalz aus. Außer den Thermalquellen besitzt W. im NW. der Stadt noch drei ärztlich nicht benutzte Mineralquellen von 9,4–20°. Die Thermen von W. werden zum Baden (auch in Form von Duschen und Dampfbädern) wie zur Trinkkur benutzt und haben sich als treffliches Heilmittel bewährt bei Katarrhen des Magens und[615] des Verdauungskanals, ferner bei Rheumatismen, bei Hämorrhoiden, bei Gicht (jedoch erst nach dem Verschwinden aller Entzündungssymptome), endlich bei verschiedenen Hautkrankheiten, Sexualleiden, alten Geschwüren und Neuralgien.

In W. befinden sich auch mehrere gymnastische und elektrotherapeutische Heilanstalten, ein großes Sanatorium (Augusta Viktoria-Bad), berühmte Augenheilanstalten, 2 Wasserheilanstalten (Nerotal und Dietenmühle), eine Militärheilanstalt (Wilhelmsheilanstalt) etc. Ebenso wird W. behufs der Trauben- und Milchkur stark besucht. Die Industrie ist wenig bedeutend. Der Handel, nur bedeutend in Wein, für den die Stadt weltberühmte Großhandlungen besitzt, wird unterstützt durch eine Handelskammer und eine Reichsbankstelle (Umsatz 1906: 801,8 Mill. Mk.), durch die Nassauische Landesbank und andre Bankinstitute. Dem Verkehr in der Stadt dient eine elektrische Straßenbahn. Für den Eisenbahnverkehr ist die Stadt mit dem neuen Hauptbahnhof (1904–06 erbaut) Knotenpunkt der Staatsbahnlinien Kurve-W., W.-Biebrich, W.-Dotzheim, W.-Erbenheim und W.-Niedernhausen sowie der Kleinbahnen W.-Sonnenberg, W.-Biebrich, W.-Mainz, W.-Dotzheim und W.-Schierstein. An Bildung s- und andern ähnlichen Anstalten befinden sich in W. ein chemisches Laboratorium (Freseniussche akademische Anstalt) mit agrikulturchemischer Versuchsstation, ein königliches Gymnasium, ein königliches Realgymnasium, ein städtisches Reformrealgymnasium, eine städtische Oberrealschule, 2 Musikkonservatorien, eine Gewerbeschule, eine Landwirtschaftsschule (zu Hof Geisberg), eine Blindenanstalt, eine Rettungsanstalt, mehrere Waisenhäuser und zahlreiche andre Wohltätigkeitsanstalten. Die Stadt ist Sitz einer königlichen Regierung, eines Konsistoriums, eines königlichen Polizeipräsidiums, der Landesdirektion für den Regbez. W., eines Landratsamts (für den Landkreis W.), eines Landgerichts, einer Forstinspektion, eines Bergreviers und eines Steueramts, verschiedener Eisenbahnamtsstellen etc. Die städtischen Behörden zählen 16 Magistratsmitglieder und 48 Stadtverordnete. In der Umgegend sind zu nennen: die Ruine Sonnenberg, teilweise restauriert, mit Restauration und hübschen Spaziergängen; das ehemalige Kloster Klarenthal, jetzt Domanialpachthof mit Restauration; weiterhin der Schläferskopf (455 m) und die Hohe Wurzel (618 m), Berge des Taunus, beide mit Turm und prächtiger Aussicht; ferner die Platte (500 m), Jagdschloß auf der Höhe des Taunus, mit Jagdtrophäen, Hirschgeweihen, Wandgemälden und prachtvoller Aussicht. – Zum Landgerichtsbezirk W. gehören die 16 Amtsgerichte zu: Braubach, Eltville, Hochheim a. M., Höchst a. M., Idstein, Kamberg, Katzenelnbogen, Königstein i. T., Langenschwalbach, Nastätten, Niederlahnstein, Rüdesheim, St. Goarshausen, Usingen, Wehen und W.

W. ist aus einem Kastell entstanden, das die Römer um 11 v. Chr. am Kreuzungspunkt von drei Heerstraßen anlegten. Der heilkräftigen Quellen halber erwuchs bald eine Ansiedelung, die nach der Völkerschaft der Mattiaker (s. d.) Aquae Mattiacae hieß. Reste des Kastells wurden 1838 auf der Höhe des Heidenbergs und der Röderstraße bloßgelegt. Seit dem 11. Jahrh. dem Geschlechte der Grafen von Nassau gehörig, fiel W. 1255 an die Walramsche Linie, kam 1355 an den alten Idsteiner, 1605 an den Saarbrücker Zweig und 1659 an die Linie Nassau-Usingen. 1744 wurde der Sitz der Regierung von Usingen hierher verlegt, und 1815 ward W. die Hauptstadt des Herzogtums Nassau. Vgl. Pagenstecher, W. in medizinisch-topographischer Beziehung (Wiesbad. 1870); Pfeiffer, Balneologische Studien über W. (das. 1883), W. als Kurort (5. Aufl., das. 1899) und Die Trinkkur in W. (2. Aufl., das. 1893); O. Ziemssen, Wiesbadener Kurerfolge (Leipz. 1885); Mordhorst, W. als Terrainkurort (Wiesbad. 1886); Magdeburg, Die Thermen zu W. (2. Ausg., das. 1894); Kalle und Mangold, Die Wohlfahrtseinrichtungen Wiesbadens (das. 1902); Blumenfeld, Das Klima von W. (das. 1907); Katzenstein, W. und seine Heilfaktoren (das. 1908); Heyl, W. und seine Umgebungen (27. Aufl., das. 1908); Normann, Neuer illustrierter Fremdenführer durch W. (4. Aufl., das. 1908); Böttcher, Wiesbaden (das. 1908); Otto, Geschichte der Stadt W. (das. 1877); Roth, Geschichte und historische Topographie der Stadt W. (das. 1883).

Der Regierungsbezirk W. zählte 1905 auf 5618 qkm (102,03 QM.) 1,114,819 Einw. (198 auf 1 qkm), davon 646,244 Evangelische, 426,544 Katholiken und 32,521 Juden, und umfaßt die 18 Kreise:

Tabelle

Über die sechs Reichstagswahlkreise des Regierungsbezirks W. s. Karte »Reichstagswahlen«. Vgl. »Statistische Beschreibung des Regierungsbezirks W.« (Wiesbaden 1876–83, 6 Tle.); »Staats- und Kommunal-Adreß-Handbuch für den Regierungsbezirk W.« (das., jährlich); »Beschreibung der Bergreviere W. und Diez« (Bonn 1893); Kirstein und Gerland, Handbuch des Grundbesitzes im Regierungsbezirk W. (Berl. 1896); »Bau- und Kunstdenkmäler des Regierungsbezirks W.« (Frankf. 1902 ff.); Jacobi, Geographie des Regierungsbezirks W. (2. Aufl., Wiesbad. 1907).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 615-616.
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