Rückenmark

[216] Rückenmark (Medulla spinalis), bei den Wirbeltieren die im knöchernen Kanal der Wirbelsäule gelegene Fortsetzung des Gehirns, die mit diesem zusammen das Zentralnervensystem bildet. Während es bei den niedern Wirbeltieren das Gehirn an Masse weit übertrifft, bleibt es bei den höhern hinter ihm ebensosehr zurück. Da die vom R. ausgehenden Nerven um so stärker sind, je größer der von ihnen zu versorgende Körperteil wird, so sind immer (mit Ausnahme der Fische) die Nerven für die vier Extremitäten besonders umfangreich, und daher schwillt auch das sonst gleichmäßige R. in der Brust- und Lenden geg end bedeutend an. Gewöhnlich erstreckt es sich durch alle Wirbel hindurch, doch endigt es auch mitunter (so bei einigen Fischen, Amphibien, manchen Säugetieren) schon früher, und dann laufen die Nerven für die hintern Körperteile eine Strecke weit im Wirbelkanal nebeneinander her (Pferdeschweif, Cauda equina). Die Ganglienzellen liegen im Innern des Rückenmarks und bilden eine rundliche graue Substanz mit vier Fortsätzen (sogen. Hörnern; vgl. Tafel »Skelett III«, Fig. 6), von denen die Nerven (s. unten) entspringen;[216] der Rest wird von weißen Nervenfasern (der sogen. weißen Substanz) eingenommen. Von deren Verbindung mit den Ganglienzellen weiß man, daß die von den Nerven aus in das R. eintretenden Fasern teils auf derselben Seite, teils erst nach Hinübertritt auf die andre Seite in Ganglienzellen enden oder bis zum Gehirn verlaufen. Da das R. gleich dem Gehirn beim Embryo als eine von der Haut aus sich bildende Rinne entsteht, die sich erst allmählich zu einem Rohr schließt, so bleibt im Innern desselben ein Hohlraum, der Zentralkanal, dessen Wandung mit Flimmerzellen ausgekleidet ist. – Beim Menschen (s. Tafel »Nerven I«, Fig. 4; II, Fig. 2, Tafel »Skelett III«, Fig. 6: Durchschnitt durch das R.) bildet das R. einen Strang von der Dicke eines kleinen Fingers, der nach oben zu in das verlängerte Mark (s. Gehirn, S. 467) übergeht und nach unten schon in der Höhe des ersten Lendenwirbels endet. Am R. verlaufen der Länge nach mehrere Furchen und teilen die weiße Substanz in Stränge, die wieder in feinere zerfallen. An der Vorderseite des verlängerten Marks zu beiden Seiten der Mittelfurche liegen die Pyramidenstränge (Funiculi pyramidales), die in der sogen. Pyramidenkreuzung (Decussatio pyramidum) nach abwärts verlaufen. Seitlich von den Pyramiden liegt jederseits eine länglichrunde Vorragung, die Olive. Am Hinterstrang medial zur Seite der hintern Mittelfurche liegen die Gollschen oder zarten Stränge (Funiculi graciles) und seitlich davon die Burdachschen oder Keilstränge; ihnen schließen sich weiter seitlich die Rolandschen Stränge an. So unterscheidet man vom Hinterstrang den Burdachschen (Funiculus cuneatus) und den Gollschen Strang (Funiculus gracilis). Die drei das R. umgebenden Häute sind die Fortsetzungen der drei Hirnhäute und heißen daher, von außen nach innen gerechnet, die harte Rückenmarkshaut (dura mater spinalis), die Spinnwebenhaut (arachnoidea spinalis) und die weiche Rückenmarkshaut (pia mater spinalis). Der Raum zwischen den beiden letztern ist mit Lymphe erfüllt. Die Gefäße zur Ernährung des Rückenmarks stammen von der vordern Spinalarterie, lösen sich im R. selbst in Geflechte und Kapillarnetze auf und gehen in die zwei Spinalvenen über. – Die vom R. entspringenden Nerven (Spinalnerven) haben ganz allgemein je zwei Wurzeln, eine obere (beim Menschen hintere) und eine untere (vordere), die auch motorische, resp. sensible heißen. Die Nervenfasern aus der motorischen Wurzel nämlich verlaufen zu den Muskeln und veranlassen diese zu Bewegungen, die aus den sensibeln hingegen dienen zur Übertragung der Reize von fast der ganzen Oberfläche des Körpers zum R. (Bellsches Gesetz, aufgestellt 1811 von Charles Bell). Beide Wurzeln jedes Nervs vereinigen sich kurz nach dem Austritt aus dem Wirbelkanal, zuvor jedoch schwillt die sensible zu einem kleinen Ganglion an (s. Tafel »Skelett III«, Fig. 6). Im weitern Verlauf des Nervs gehen beiderlei Fasern bis in das zu versorgende Gebiet hinein zusammen und trennen sich erst dort; bei Amphioxus und den Petromyzonten verlaufen sie überhaupt von Anfang an getrennt. Auch mit dem sympathischen Nervensystem verbinden sie sich in besonderer Weise (s. Sympathikus). Beim Menschen unterscheidet man 31 Paar Nerven; diejenigen für die Arme und Beine verzweigen sich zu starken Geflechten (s. Tafel »Nerven II«, Fig. 1).

Das mittlere Gewicht des Rückenmarks beträgt bei der Geburt 3–3,4 g und wächst im weitern Verlaufe der Entwickelung bis ungefähr zum sechsfachen (17–18 g); besonders in den ersten Jahren ist das Wachstum äußerst stark. Die mittlere Länge des Rückenmarks beträgt beim Neugebornen 14 cm und steigt bis zu gut dem Dreifachen des Anfangswertes (45, bez. 43,7 cm) an. Bei männlichen Individuen ist auf allen Altersstufen das R. durchschnittlich schwerer und länger als beim weiblichen Geschlecht. Im Verhältnis zum Gehirn ist das R. des Knaben von Geburt an leichter als das der Mädchen. Im Verlaufe des Lebens wird das R. im Verhältnis zum Gehirn immer schwerer. In der Tierreihe besitzt der Mensch im Verhältnis zum Gehirn das leichteste R. Sein Rückenmarksgewicht macht 8 Proz. des Hirngewichts aus, beim Anthropoiden beträgt das Rückenmarksgewicht 6 Proz., beim Hunde 23, beim Pferde 41, bei der Kuh 47, bei der Henne 56 Proz. des Hirngewichts. Beim Menschen macht die Rückgratshöhle 8 Proz. der Schädelhöhle aus, beim Orang-Utan 19–22 Proz., beim Wolf bereits 80, beim Pferde 112, bei der Kuh 147 und beim Krokodil 720 Proz.

Das R. wirkt nicht nur durch die Leitung der Bewegungs- und Empfindungsimpulse als Vermittler zwischen Gehirn und Rückenmarksnerven, sondern ist auch bis zu einem gewissen Grad ein selbständiges Zentralorgan. Wird bei einem geköpften Frosch die Haut z. B. mittels sehr verdünnter Schwefelsäure gereizt, so beginnt das Tier alsbald die betupfte Stelle mit seinen Gliedmaßen zu bestreichen, um die reizende Substanz zu entfernen. Welche Stelle der Haut man auch reizt, und wie auch die Reize beschaffen sein mögen, stets pflegen die Bewegungen einen durchaus geordneten Eindruck zu machen und sich auf Abwehr der Reize oder auf Fluchtversuche zu erstrecken. Die Bewegungen erfolgen mit solcher Gesetzmäßigkeit und passen sich in so hohem Grade der Art und dem Orte der Reizung an, daß Pflüger sie auf die Existenz einer besondern Rückenmarksseele zurückgeführt hat. Spontane Bewegungen, aus deren Vorkommen wir allein auf das Vorhandensein einer Seele zu schließen berechtigt sind, werden aber an geköpften Tieren nicht wahrgenommen. Bewegungen der beschriebenen Art, die ohne Vermittelung des Bewußtseins zustande kommen, gehören in die Klasse der Reflexerscheinungen (s. d.). Entfernt man das Gehirn und zerstört auch das R., so werden keine Reflexbewegungen mehr beobachtet. In derselben Weise ist auch beiden Säugetieren und beim Menschen das R. selbständig tätig. So werden neben zahlreichen andern Bewegungserscheinungen durch das vom Gehirn und den obern Teilen des Rückenmarks abgetrennte Lendenmark noch zahlreiche Reflexakte, die zum Begattungsakt (Erektion und Ejakulation), zur Geburt (Wehen) und zur Entfernung der Exkremente dienen, vermittelt. Im R. konnten außerdem vasomotorische Zentren, welche die Wandungen der Blutgefäße dauernd in einem mäßigen Kontraktionszustand (Gefäßtonus) halten, nachgewiesen werden, ferner Atmungs- und Schweißzentren und andre Zentralapparate. Die Leitungsbahnen des Rückenmarks stellen die einzige Verbindung zwischen dem Gehirn einerseits und den Muskeln und der empfindenden Hautoberfläche anderseits dar. Ist die Leitung durch das R. an einer Stelle unterbrochen, so fehlt daher denjenigen Körperteilen, die von den unterhalb der Unterbrechungsstelle entspringenden Rückenmarksnerven versorgt werden, die Fähigkeit zur willkürlichen Bewegung und zur bewußten Empfindung. Im einzelnen sind die Leitungswege sehr verwickelt. In der weißen Substanz haben wir im allgemeinen das Leitungsorgan, in der[217] grauen außerdem die Zentralapparate zu suchen. Man unterscheidet zwischen langen (zur Verbindung nervöser Zentren des Gehirns und des verlängerten Marks mit solchen des Rückenmarks) und kurzen Leitungsbahnen (zur Verbindung verschiedener Teile des Rückenmarks untereinander). Die Leitung der willkürlichen Bewegungsimpulse erfolgt hauptsächlich durch die Pyramidenbahnen; diese kommen vom Gehirn her, treten durch die Pyramidenkreuzung in das R. ein und mit denjenigen Nervenzellen in Verbindung, aus denen die zu den Muskeln verlaufenden Bewegungsnerven hervorgehen. Hinsichtlich der Lage der sensibeln Bahnen sind die Angaben noch widersprechend. So viel ist indes sicher, daß sich an der Leitung der Empfindungen die Seiten- und die Hinterstränge des Rückenmarks beteiligen. Letztern schreibt man die Vermittelung des Muskelgefühls zu, während man die den Schmerz nach dem Gehirn leitenden Bahnen zum Teil in die graue Substanz, zum Teil in die Seitenstränge verlegt.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 17. Leipzig 1909, S. 216-218.
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