[899] Ungarische Sprache. Die Sprache der Magyaren gehört zu der finnisch-ugrischen Abteilung der großen Uralaltaischen Sprachenfamilie (s. d.). Ihre Verwandtschaft mit den Ostjakischen und Wogulischen am Uralgebirge sowie auch mit der zweitbedeutendsten Sprache dieser ganzen Gruppe, dem Finnischen, ist so unverkennbar, daß sie schon vor dem Aufblühen der modernen Sprachwissenschaft in frühern Jahrhunderten von einzelnen Gelehrten bemerkt wurde; wissenschaftlich nachgewiesen wurde ste aber erst in den letzten Jahrzehnten. Die wichtigsten Eigentümlichkeiten, die das Ungarische mit den uralaltaischen und speziell mit den finnisch-ugrischen Sprachen teilt, sind die Vokalharmonie (s. d.) und das Prinzip der Agglutination. Die Agglutination, d. h. die lose Anfügung einer beliebig großen Menge von Beugungssilben an den Wortstamm, der unverändert an der Spitze des Wortes stehen bleibt, bewirkt, daß die magyarische Sprache wie das Finnische, Türkische etc. einen besonders für das Verbum außerordentlich großen Reichtum an grammatischen Formen besitzt. Das Verbum hat z. B. für den Gebrauch mit Beziehung auf ein bestimmtes Objekt eine besondere Verbalform, Weit geringer ist dagegen ihr Wortreichtum. Für die Gegenstände des Kulturlebens sind naturgemäß Lehnwörter eingeführt, doch besteht neuerdings das Bestreben, sie durch magyarische Neubildungen zu ersetzen. Dem Magyarisierungssystem, das seit 1867 besteht, entsprechend, breitet sich das Magyarische stetig aus und ist heute die Hauptsprache der in Ungarn wohnenden Nationen. Die Schrift ist die lateinische. Lange Vokale werden durch Akzente (á, é etc.) bezeichnet; ew und eö in Namen sind ältere Formen des einfachen ö-Lautes. Für die konsonantischen Laute reichen die Buchstaben des lateinischen Alphabets nicht aus, weshalb man zu Zusammensetzungen seine Zuflucht genommen hat. q, w und x hat man überhaupt nicht mit verwendet; y vertritt in ältern Familiennamen häufig die Stelle des i. Im ganzen hat die Sprache 24 konsonantische Laute, die in folgender Weise bezeichnet werden: b, cs (spr. tsch), cz (spr. tz, jetzt auch einfach c), d, f, g, gy (spr. dj), h, j, k, l (spr. lj), ly, m, n, ny, p, r, s (spr. sch), sz (spr. ss), t (spr. tj), ty, v, z (spr. s), zs (weiches sch, wie franz. j). In den Lauten gy, ny, ly, ty ist das y nicht selbständiger Vokal, sondern bildet als j mit dem vorhergehenden Konsonanten eine lautliche Einheit; gy ist ungefähr wie dj zu sprechen (daher »Madjaren«, nicht »Madscharen«!). Im Anfang einer Silbe verträgt die u. S. in der Regel nie mehr als einen Konsonanten; in Wörtern mit zwei Anfangskonsonanten, die sie aus fremden Sprachen aufgenommen hat, hilft sie sich daher durch Vorsetzung oder Einschiebung eines Vokals, z. B. asztal (slaw. stol), der Tisch; király (slaw. kral), der König. Die älteste ungarische Grammatik ist die von Joannes Silvester Pannonius (Sárvár-Ujszigeth 1539). Neuere Werke für den ersten Unterricht sind die (deutsch verfaßten) Grammatiken von Mailáth, Töpler, M. Ballagi (früher Bloch), Franz Ney, Görg, die sämtlich zahlreiche Auflagen erlebten. Für den Selbstunterricht bestimmt ist der »Praktische Lehrgang« von Görg (6. Aufl., Wien 1905). Die erste wissenschaftliche Grammatik der ungarischen Sprache schrieb jedoch (in lateinischer Sprache) gerade vor 100 Jahren Nikolaus Révai; eine solche in deutscher Sprache verfaßte M. Riedl (Wien 1858), der auch eine systematische Grammatik in ungarischer Sprache zu schreiben begann, von der jedoch bloß die Lautlehre (»Magyar hangtan«) erschien. Eine auf den modernen sprachwissenschaftlichen Prinzipien fußende, groß angelegte ungarische Grammatik gibt Siegmund Simonyi heraus (»Tüzetes magyar nyelvtan« [»Ausführliche ungarische Sprachlehre«]), von der bisher der erste Band erschienen ist. Wörterbücher lieferten Richter (Wien 1836, 2 Bde.), Fogarassy (Pest 1836, 2 Bde.), J. T. Schuster (Wien 1838), Ballagi (in zahlreichen Auflagen), Fr. Hoffmann (deutsch-ungarisch,[899] Leipz. 1897), Simonyi und Balassa (Budap. 18991902, 2 Bde.), Béla Kelemen (1904). Ein ungarisches und deutsches technisches Wörterbuch gab Acsády heraus (Wien 1901, 2 Tle.). Den ganzen ungarischen Wortschatz streng wissenschaftlich darzustellen, war das Bestreben der Ungarischen Gelehrten Gesellschaft, deren großes ungarisches Wörterbuch, von G. Czuczor und J. Fogarassy redigiert (18621874, 6 Bde.), vollendet vorliegt. In den letzten Jahren sind im Verlag der ungarischen Akademie der Wissenschaften das sprachgeschichtliche Wörterbuch (3 Bde. und 1 Ergänzungsband) und das Dialektwörterbuch erschienen; ersteres unter Redaktion von Gabriel Szarvas und Siegmund Simonyi, letzteres von Josef Szinnyei jun. Die Letztgenannten gelten nach dem Tode von Paul Hunfalvy (s. d.) und Joseph Budenz (s. d.) als Hauptvertreter der magyarischen Sprachwissenschaft. Vgl. Simonyi, Die ungarische Sprache. Geschichte und Charakteristik (magyar., Budap. 1890, 2 Bde.; deutsche Ausg., Straßb. 1907). Wichtiges Quellenmaterial geben die »Altungarischen Sprachdenkmäler« (1838 ff., 6 Bde.) und die »Sammlung von Sprachdenkmälern« (1872 ff., 14 Bde.). Wichtige Beiträge zur ungarischen Sprachwissenschaft lieferten noch Bernhard Munkácsi, J. Zolnai, Koloman Szily, Albert Lehr u. a.
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