Maulspitzen

Hier hilft kein Maulspitzen, es muss gepfiffen sein (werden).Klix, 40; Frischbier2, 2582.

In Ostfriesland: Hier helpt kîn Mûlspitzen, der moet fleitet worden. Keine halbe Massregel, es muss ganz gethan sein. Der Volkswitz erzählt von den Felings [530] (s. Lust 65), sie seien nur so lange ehrliche Handelsleute gewesen, als man ihnen scharf auf die Finger gesehen habe. Schlechtes Ellenmass, doppelter Preis und falsche Rechnung seien bei ihnen an der Tagesordnung. Die Ostfriesen aber hätten diese Kniffe erkannt; es habe nicht selten so ein spitzbübischer Handelsmann im Thurm (Ortsgefängniss) einige Wochen unfreiwillige Musse erhalten. Auch zum Hängen und Köpfen sei es schon gekommen. Als einst mehrere Felnks ('n hêle Tucht) beisammen waren, erzählten sie sich von den Criminalerlebnissen in ihrem Geschäft, wobei sie in stufenweiser Herzählung bis zum Galgen gelangten. Da fiel es ihnen ein, einmal an sich selbst zu erproben, wie das Hängen wol schmecken möge; und sie kamen überein, Mann für Mann in geordneter Reihenfolge das Hängen zu versuchen. Man hatte einen Strick zur Hand und wählte den ersten Baum zum Querholz. Der erste Feling legte sich das Tau um den Hals; ehe er aber in die Höhe gezogen wurde, ward noch ausgemacht, sobald der Hängende einen pfeifenden Laut von sich gäbe (nach andern, einen Pfiff mit dem Munde thue), wolle man ihn losschneiden. Der erste Galgenbruder wurde nun aufgezogen und festgemacht. Der Strick schnürte sich gleich anfangs so fest um die Kehle, dass er nicht im Stande war, ein Zeichen mit dem Munde zu geben; er streckte im Sterben nur die Zunge aus dem Halse heraus. Die Untenstehenden aber, die glaubten dem Genossen geschähe noch lange kein Leides, freuten sich der Gesichter, welche der Probehängende schnitt und lachten aus vollem Halse dazu. Und obgleich sie endlich merken mochten, dass dem Zappelnden zu viel geschähe, beharrten sie doch bei der gemachten Verabredung und riefen: »Hier helpt kîn Mûlspitzen, der moet fleitet worden.« Es erfolgte aber nach langem vergeblichen Harren kein Pfeifen; man bekam nur einen Erhängten vom Baume herab. Dies Probehängen soll bei Lübbersfehn geschehen sein, wo man den Baum zeigt, der als Galgen gedient hat. Man erzählt die Entstehung des obigen Sprichworts aber auch in folgender Weise: Die Felnks sind am Kornfelde beschäftigt; als sie das erste Fuder beladen haben, fehlt ihnen der Bindebaum (= Punterbôm), der auf der obersten Schicht festgebunden wird, um beim Schwanken des Wagens das Wackeln und Herunterfallen des Getreides zu hindern. In Ermangelung eines geeignetern Gegenstandes wählten sie nun den längsten Mann unter sich aus, legten ihn kunstgerecht über das Korn hin, Kopf und Füsse desselben festschnürend. Um ihm aber keinen Schaden an seinem Leibe zu thun, schärften sie ihm ein, sobald als es mit dem Schnüren über's Mass gehe, müsse er pfeifen (= fleiten). Der arme Kerl fühlt den Strick immer enger und enger sich zuziehen, will gern pfeifen und kann schon nicht mehr, zieht aber die Lippen krampfhaft zusammen und rollt mit den Augen. »Süh«, rufen die Untenstehenden, »wat kiddelt (kitzelt) em dat!« Dem menschlichen Bindebaum war aber durchaus nicht kitzlich zu Muthe; er macht verzweifelte Anstrengungen, einen Pfiff zu Stande zu bringen, aber erfolglos. Die Kameraden lachen und sagen: »Mûlspitzen gelt nich, musst fleiten«; und als der Mann kein Lebenszeichen mehr von sich gibt, meinen sie: »He is d'r all to wennt.« (Ostfries. Jahrbuch, I, 50.)

Lat.: Non verbis, at factis opus est. (Binder II, 2250; Faselius, 175; Wiegand, 1149.)


Quelle:
Karl Friedrich Wilhelm Wander (Hrsg.): Deutsches Sprichwörter-Lexikon, Band 5. Leipzig 1880.
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