Brüdergemeine

[330] Brüdergemeine (evangelische) oder Brüderunität, eine unter Begünstigung des Grafen Nic. Ludw. von Zinzendorf (s.d.) von böhm. und mährischen Brüdern (s.d.) gestiftete Religionsgesellschaft, deren erste Mitglieder wegen Religionsverfolgungen ihr Vaterland verlassen hatten und sich 1722 auf des Grafen Gute Berthelsdorf bei Zittau in der Oberlausitz an der Mittagsseite des Hutberges ansiedelten. Sie nannten ihre Colonie seit 1724 Herrnhut, wovon die Gesellschaft auch den Namen Herrnhuter erhalten hat, wiewol sie selbst sich lieber Brüdergemeine nennt, zu welcher der Graf die zunehmende Anzahl der Auswanderer mit Zugrundlegung der allgemeinen christlichen Religionswahrheiten 1727 in Form einer freiwilligen Übereinkunft vereinigte und ihnen eine der alten mähr. Brüderkirche nachgebildete Kirchenverfassung gab. Die Mitglieder derselben wollen indeß nicht für eine besondere Religionspartei gehalten sein, sondern setzen ihre Eigenthümlichkeit mehr in ihre genaue Verbindung zur Gottseligkeit und haben auf ergangene Anfragen von Regierungen sich ausdrücklich für Verwandte des augsburg. Bekenntnisses erklärt. Von den Mitgliedern der jetzt zahlreichen Gemeinde sind jedoch nur wenige Nachkommen jener ersten Auswanderer, indem diesen sehr bald die Aufnahme neuer Ankömmlinge aus Böhmen und Mähren verboten wurde. Um den Zutritt anderer protestantischen Glaubensverwandten zu erleichtern, wurden daher drei Tropen oder Arten des Lehrbegriffs aufgestellt: nämlich der mährische, zu welchem die von jenen Auswanderern abstammenden und alle weder aus der lutherischen noch aus der reformirten Kirche beigetretenen Mitglieder gehören, der lutherische und der reformirte, deren Verschiedenheit jedoch im Innern der Gemeinde verschwindet. Das Unterscheidende ihrer religiösen Ansicht besteht hauptsächlich darin, daß sie die Religion mehr empfinden und genießen, als mit dem Verstande aufzufassen suchen und in ihrer sinnlich überschwenglichen Auffassung der Idee des Mittleramtes Christi, in dem sie auch allein die Gottheit anbeten und dem sie alle Werke der sinnlichen und übersinnlichen Welt zuschreiben. Die Bibel ist zwar auch ihre Quelle der Offenbarung, allein sie glauben, der Heiland setze dieselbe in ihrer Gemeine, die sie für die einzige echt christliche halten, noch immer fort. Was irgend Wichtiges von ihnen vorgenommen wird, geschieht in seinem Namen, und in allen zweifelhaften Fällen bedienen sie sich des Looses, das ihnen als Erklärung seines Willens gilt; selbst bei Verheirathungen war es sonst bindend, allein seit 1819 ist der Zwang dazu wenigstens aufgehoben. Genauer als alle Andere glauben sie die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders aus freier, göttlicher Gnade durch den Glauben an das Blut Christi bestimmt zu haben und daher ist auch ihre Lehre die Blut- und Kreuztheologie genannt worden. Sie nennen sich selbst ein besonderes Volk der Gnadenwahl unter dem unmittelbaren Schutze Christi, als dessen Statthalter in ihren Augen das jedesmalige Haupt der Gemeine gilt, und unter der Leitung des heiligen Geistes, und wollen eine Familie Gottes, eine lebendige Gemeine Jesu darstellen. Dabei hängen sie aber an den Bildern, die das N. T. von Christus gebraucht und führen stets das Blut, die Wunden, die Nägelmale, die geöffnete Seite Christi, den Leichengeruch, das Lamm, das der Welt Sünde trägt, den Bräutigam Christum, die himmlische Braut Christi (die Kirche) im Munde; doch verschwindet diese süßliche Redeweise jetzt allmälig. [330] – Ihre Gemeineverfassung und Zucht ist musterhaft. Die Mitglieder der Gemeine sind nach Geschlecht, Alter und Lebensverhältniß in Chöre der Kinder, Knaben, Mädchen, ledigen Brüder, ledigen Schwestern, Eheleute, Witwer und Witwen abgetheilt, von denen jedes seinen Chorhelfer für Seelsorge und Sittenzucht und seinen Chordiener für äußere Angelegenheiten hat, und die ledigen Mitglieder wohnen meist in besondern Brüder- oder Schwesterhäusern. An der Spitze jeder Gemeine steht eine Gemeinedirection und die oberste Aufsicht führt die Ältesten-Conferenz. Zu den kirchlichen Beamten gehören: der Bischof, der aber blos das Ordinationsrecht hat, wenn er nicht zugleich Mitglied der leitenden Behörde ist; die Civilsenioren, welche die Verhältnisse der Gemeine zur Landesobrigkeit zu leiten haben; der Presbyter oder Prediger; die Diakonen oder Gehülfen der Prediger und die Diakonissen oder weiblichen Berather der Chöre. So lange Zinzendorf lebte, stand er mit dem Namen Ordinarius der ganzen Unität vor und aus den ihm beigegebenen Bischöfen und Ältesten bildete sich ein Collegium, welches unter dem Namen Unitätsältesten-Conferenz gegenwärtig die Angelegenheiten der ganzen Gesellschaft leitet und seit 1789 zu Berthelsdorf seinen Sitz hat. Zur Leitung der täglichen Andacht werden die Loosungen, d.h. biblische Denksprüche, unter die einzelnen Mitglieder vertheilt und täglich finden dreimal gottesdienstliche kurze Versammlungen, Sonntags auch Predigten statt. Bei einigen Versammlungen geben sich die Gemeineglieder einander den Friedenskuß; das Abendmahl, welches sie sehr heilig halten, genießen alle dazu Fähige in jedem Monate einmal, wobei die Stelle der Beichte eine Unterredung des Chorhelfers mit den einzelnen Communicanten vertritt. Vor dem Abendmahlsgenusse aber und auch öfter halten sie, nach dem Muster der apostolischen Agapen, Liebesmahle (s.d.) unter Gebet und Gesang bei Thee und Backwerk. Allemal der vierte Sonntag ist der Gemeintag, an welchem die Nachrichten des Wochenblatts über die sämmtliche Unität mitgetheilt werden. Ihre Todten beerdigen sie ohne Trauer in hellen Särgen unter Musik, weil dieselben nun der himmlischen Gemeine angehören, und am Ostermorgen bei Sonnenaufgang zieht die Gemeine mit Musik auf den Gottesacker, der bei ihnen einem Blumengarten gleicht, um daselbst die Auferstehung des Herrn und das Andenken der Verstorbenen zu feiern. Obgleich die geistige Ausbildung der Herrnhuter nicht sehrgroß ist und selbst ihre Prediger diese Auszeichnung mehr ihrem festen Glauben und religiösen Eifer als ihrer wissenschaftlichen Bildung verdanken, so sorgen sie doch rühmlich für die Erziehung der Jugend. Die Mädchenanstalt in Herrnhut, die Knabenanstalt in Niesky, die Kinderanstalten in Fulneck und die Pädagogien und Seminarien, die sie an andern Orten errichtet haben, sind musterhaft, wiewol jene freiere geistige Bildung und Erziehung, wodurch am besten für wahre Religiosität gesorgt wird, ihnen nicht angehört. In der Gemeine selbst wird strenge Sittenaufsicht gehalten und durch gleichförmige Kleidung dem Einflusse der Mode und der Eitelkeit gesteuert. Die Brüder gehen größtentheils grau und braun, die Schwestern tragen glatt anliegende Häubchen, deren Bänder bei den jungen Mädchen bis zu 18 Jahren feuerfarben, bei den ledigen Schwestern blaßroth, bei den Frauen blau und bei den Witwen weiß ist. Der Unsittlichkeit wird durch unablässige Arbeitsamkeit vorgebeugt, die sie zugleich in den Stand setzt, die bedeutenden Ausgaben für ihre Unternehmungen zu bestreiten. Nur unschuldige Gesellschaftsspiele sind bei ihnen geduldet, Karten und Würfel werden nirgend gefunden und Tanz und Romanlesen sind durchaus verboten. Überhaupt sind die evangelischen Brüder religiöse, gesittete, fleißige, geschickte und ruhige Leute, die sich auch durch Reinlichkeit und Ordnung auszeichnen.

Nach dem Beispiele ihres Stifters waren die Brüder von jeher mit dem aufopferndsten Eifer für die Ausbreitung ihrer Gemeine bemüht und schon 1732 veranstaltete der Graf von Zinzendorf mit Unterstützung der dän. Regierung eine Mission nach der Insel St.-Thomas, 1749 wurde sie in England durch eine Parlamentsacte als eine alte bischöfliche Kirche anerkannt und erhielt im folgenden Jahre auch durch ganz Sachsen völlige Religionsfreiheit und die Erlaubniß zur Stiftung eines theologischen Seminars in Barby. Als Zinzendorf 1760 starb, zählte die Gemeine schon 24,000 Mitglieder, deren Verfassung auf den später gehaltenen acht Synoden und durch des Bischofs Spangenberg (gest. 1792) Bemühungen noch bestimmter ward. Vorzüglich auf der Synode von 1818 wurden die Statuten der Gemeinen von Neuem durchgesehen und dann öffentlich bekannt gemacht. Jetzt zählt man in Europa 14,000 Mitglieder, die unter der Unitätsconferenz stehen, ohne die zerstreuten Anhänger, und in den Vereinigten Staaten 4000. Am bedeutendsten sind die Gemeinen in Herrnhut, Niesky bei Görlitz und Kleinwelke bei Bautzen, in Gnadenfrei bei Schweidnitz, Gnadenberg bei Bunzlau, Neusalz und Gnadenfeld bei Kosel in Schlesien, Neudietendorf bei Erfurt, Ebersdorf bei Lobenstein, Königsfeld in Baden, Christiansfeld in Schleswig und Zeyst bei Utrecht. Außerdem gibt es geduldete Herrnhutergemeinen in Basel, Amsterdam, Harlem, Kopenhagen, Stockholm, Berlin, Neuwied, Petersburg und Moskau. In Rußland, wo sie 1764 privilegirt wurden, bauten sie Sarepta, welches mit Tataren und Kalmücken bedeutenden Verkehr hat. In England sind ihre Hauptniederlassungen Fulneck in Yorkshire, Fairfield in Lancashire und Ockbrook in Derbyshire. Durch ihre evangelischen Missionen hat sie selbst in den entferntesten Gegenden, z.B. auf mehren westind. Inseln, unter den Indianern in Nordamerika, in Grönland, unter den Hottentotten und Kaffern Colonien gegründet, und die Zahl der durch diese zum Christenthum bekehrten Heiden wurde 1825 auf 34,000 angegeben. Die meisten Colonien befinden sich in Nordamerika, wo ihr Hauptort Bethlehem heißt, und auch Nazareth, Litiz in Pennsylvanien und Salem in Nordcarolina bedeutende Gemeineörter sind.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1837., S. 330-331.
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