Gerichte

[194] Gerichte, von Richten, d.h. Rechtsprechen, sind vom Staate mit Handhabung der Rechtspflege beauftragte Behörden. Die Hauptbedingung, an welche die Existenz eines jeden Staates unzertrennlich geknüpft ist, besteht darin, daß innerhalb der Grenzen desselben Niemandem gestattet wird, sein wirkliches oder vermeintliches Recht sich selbst zu verschaffen. Ausnahmen hiervon finden in außerordentlichen Fällen (s. Nothrecht) und insofern statt, als sie vom Staate durch ausdrückliche Gesetze erlaubt worden sind. (Vgl. Pfändung.) Hieraus folgt zugleich, daß alle Gerichtsbarkeit, d.h. die Befugniß zur Ausübung der Rechtspflege, ein unveräußerliches Recht des Staatsoberhauptes ist und entweder von diesem selbst, oder durch besondere von ihm hierzu beauftragte Behörden ausgeübt werden muß. Wenn daher noch heutzutage eine erbliche, dem Grund und Boden anhängende (Patrimonial-) Gerichtsbarkeit vorkommt, so besteht dieselbe nur durch die stillschweigende Genehmigung (Connivenz) und unter der fortwährenden Oberaufsicht des Staatsoberhaupts, welches stets das Recht hat, sie aufzuheben. In fast allen Staaten, in denen Patrimonial-Gerichtsbarkeit besteht, ist in neuerer Zeit die Aufhebung derselben in Anregung gekommen und es ist gewiß, daß das ganze Gerichtswesen durch Concentrirung in der festen, unparteiischen Hand des Staats vereinfacht werden und somit an gleichmäßiger Ausbildung gewinnen muß. Man theilt übrigens die Gerichtsbarkeit nach der Größe ihres Umfangs in eine beschränkte (limitirte) und unbeschränkte; in eine alleinige und gemeinschaftliche, welche letztere von Mehren zusammen ausgeübt wird; endlich in eine ordentliche und außerordentliche. Diese hat nur für besondere Fälle statt und wird von der Regierung selbst übertragen. Sie heißt deshalb auch commissarische Gerichtsbarkeit. – Die Gerichte werden nach der Verschiedenheit und dem Umfange der ihnen vom Staate übertragenen Functionen in geistliche und weltliche, sowie in Civil-und Criminal- und in Ober- und Untergerichte eingetheilt. Die ersten beiden Classen bedürfen keiner Erklärung. Civilgerichte nennt man sowol diejenigen, welchen die Bestätigung (Confirmation) der zwischen Privatpersonen verhandelten nicht streitigen Rechtsgeschäfte obliegt (voluntaire oder freiwillige Gerichtsbarkeit ausüben), als auch diejenigen Gerichte, welche sich mit der Leitung, Entscheidung und Vollstreckung der zwischen den Parteien streitigen Rechte beschäftigen (contentiöse oder streitige Gerichtsbarkeit handhaben). Eine eigne Art der Civilgerichte sind die Friedensgerichte (s.d.). Da die Entscheidung streitiger Rechtsfragen nicht selten wegen Dunkelheit oder gänzlicher Ermangelung specieller Gesetze auf einer Rechtsüberzeugung des Richters, Auslegung und Anwendung der Gesetze und Rechtsgrundsätze beruht, also häufig mit großen Schwierigkeiten verbunden ist und Zweifel dagegen gestattet, so hat man schon in frühern Jahrhunderten den Parteien erlaubt, ihre Processe nach der ersten Entscheidung entweder demselben oder auch einem andern höhern Gerichte zur nochmaligen Entscheidung vorzulegen. Gerichte der letztern Art nennt man, im Gegensatze gegen die erstern, Obergerichte. Auch führen sie in manchen Ländern wegen der an sie eingewendeten Berufung den Namen Appellations-, Oberappellationsgerichte, oder Gerichte zweiter, dritter Instanz. Nach der deutschen Bundesacte sollen in jedem deutschen Bundesstaate drei solcher Instanzen stattfinden, d.h. den Parteien erlaubt sein, ihre Processe drei einander untergeordneten und mit richterlicher Gewalt vom Staate bekleideten Behörden zur Entscheidung vorzulegen. Das in dritter Instanz eingeholte Erkenntniß (Urtel, Sentenz) entscheidet, wenn von ihm keine Berufung an eine noch höhere Behörde gestattet wird, definitiv. Das muthwillige und ungegründete (frivole) Appelliren an eine höhere Instanz wird in manchen Staaten bestraft und in geringfügigen Rechtssachen (d.i. Processen, deren Streitobject eine kleine, gesetzlich festgestellte Summe nicht überschreitet) entweder gar nicht, oder doch nur beschränkt zugelassen. In Preußen ist die höchste Instanz für Civilsachen das geheime Obertribunal in Berlin, in Sachsen seit 1834 das Oberappellationsgericht zu Dresden. In Sachsen und einigen andern Staaten Deutschlands ist übrigens den Untergerichten nachgelassen, die Acten, wenn sie nicht selbst entscheiden wollen, an besonders hierzu bestellte Spruch-Collegien zum »Verspruch Rechtens« zu verschicken, d.h. ein Erkenntniß von denselben einzuholen. Sobald ein Obergericht in einer Sache als zweite oder dritte Instanz entschieden hat, schickt es die Acten an die erste Instanz, d.i. das Untergericht, vor welchem der Proceß geführt worden ist, zurück. Diesem liegt nun ob, für Vollstreckung des Urtels zu sorgen, sobald es rechtskräftig geworden ist. Hierzu ist ein zehntägiger Zeitraum erfoderlich. Ist das betreffende Urtel während desselben von seiner Rechtskraft durch Einwendung eines gesetzlich erlaubten Rechtsmittels nicht entbunden worden, so müssen sich seinem Ausspruch die Parteien unbedingt unterwerfen.

Die Criminalgerichte beschäftigen sich mit der Untersuchung und Bestrafung der Verbrecher. Auch sie werden in Unter- und Obergerichte eingetheilt. Die letztern nennt man auch Hals- oder peinliche Gerichte, früher auch Königsbann, die Oberacht, die Fraiß, das Zentgericht, das Malefizrecht. Vor den Untergerichten dürfen nur kleinere Vergehungen (in der Regel solche, für welche die Gesetze nur eine kurze Gefängnißstrafe festgesetzt haben) untersucht und deren Thäter zur Strafe gezogen werden. Die wegen größerer Verbrechen einzuleitenden Criminaluntersuchungen müssen an die vorgesetzten Obergerichte zur Fortstellung abgegeben werden. Das gerichtliche Verfahren in Criminalsachen geschieht entweder in der Form des Anklageprocesses oder des Untersuchungsprocesses. Das Wesen des erstern besteht im Allgemeinen darin, daß der Criminalrichter nicht von Amtswegen, sondern nur auf eine mündlich oder schriftlich bei ihm angebrachte Klage die Untersuchung einleitet. Dagegen hat der Richter nach dem Untersuchungsprocesse von Amtswegen und ohne vorgängige Anklage die Criminaluntersuchung zu beginnen, sobald er von der Begehung eines Verbrechens glaubwürdige Kenntniß [194] erhalten hat. Auch liegt ihm ob, sowol die Verdachtsgründe, welche der zur Untersuchung gezogene Verbrecher gegen sich hat, als alle die Milderungs- und Entschuldigungsgründe, welche für denselben sprechen, mit gleicher Sorgfalt aufzusuchen. (Vergl. Criminalrecht und Geschworenengerichte.)

Gerichtsstand (forum) nennt man das Gericht, vor welchem Jemand in einer bestimmten Sache Recht zu nehmen hat oder nehmen darf Man theilt ihn zuvörderst in einen unwillkürlichen und willkürlichen, je nachdem man in einer Rechtsangelegenheit sich an ein bestimmtes Gericht wenden muß, oder sich an jedes beliebige Gericht wenden darf. Das Letztere ist in der Regel bei allen Handlungen der freiwilligen Gerichtsbarkeit gestattet, z.B. bei Recognitionen, Testamentsniederlegungen, Contractsconfirmationen u. dgl. m. Die wichtigste Eintheilung des unwillkürlichen oder nothwendigen Gerichtsstandes ist die in den allgemeinen, dem in der Regel Jeder unterworfen ist (hierher gehört besonders das Gericht des Ortes, an welchem man geboren ist und wo man seinen Wohnsitz hat) und den exemten oder privilegirten. Einen privilegirten Gerichtsstand genießt man entweder wegen gesetzlicher Vorzüge, die man persönlich hat, oder wegen einer besondern Eigenschaft der Sache, die man vor Gericht zu verhandeln hat. Eines solchen persönlichen Vorzugsrechts erfreuen sich außer den Mitgliedern des regierenden Hauses, die Gesandten (s.d.) fremder Mächte, ferner in den meisten Staaten die hoffähigen (s. Hof) und schriftsässigen (s.d.) Personen, die Geistlichen und höhern Beamten. Unter die rechtlichen Angelegenheiten, welche nach den meisten deutschen Gesetzgebungen, ihrer besondern Natur wegen, dem allgemeinen Gerichtsstande entzogen werden, gehören unter Anderm die Ehesachen, die gewöhnlich von den Consistorien (geistlichen Gerichten) erörtert und entschieden werden. Übrigens gilt in Civilsachen im Allgemeinen die Regel, daß Niemand seiner ordentlichen Obrigkeit, d.h. seinem competenten Gerichte, entzogen werden darf. In Criminalsachen hat aber jeder Richter, wenigstens jeder inländische, das Recht und die Pflicht auf sich, jeden Verbrecher, dessen er in seinem Gerichtsbezirke habhaft werden kann, zur Untersuchung zu ziehen und nöthigenfalls zu verhaften. Damit ein Gericht seine Functionen mit der erfoderlichen Wirksamkeit versehen kann, ist vor Allem nöthig, daß die Personen, deren gleichzeitige Gegenwart zu Herstellung eines vollständigen Gerichts gesetzlich erfoderlich ist, an Gerichtsstelle, d.h. an dem Orte, wo das Gericht seine Sitzungen hält, beisammen sind. Ist dies der Fall, so sagt man: die Gerichtsbank ist gehörig besetzt. Nach gemeinem Rechte muß jedes Gericht wenigstens aus zwei Personen bestehen. Diese sind der Richter und der Gerichtsschreiber (Actuarius). Der Richter hat das Ganze zu leiten und das Urtel zu sprechen. Die Pflicht des Gerichtsschreibers ist, Alles, was vor Gericht verhandelt wird, niederzuschreiben und in die Acten zu bringen. Ist der Richter und der Actuarius in Einer Person vereinigt, wie dies bei kleinern Patrimonialgerichten oft der Fall ist, so verlangt man in vielen Ländern, z.B. in Sachsen, noch die Anwesenheit von Gerichtsbeisitzern oder sogenannten Schöppen. Auch wird deren Hinzuziehung nicht selten für besonders wichtige Fälle vorgeschrieben, z.B. bei wichtigen Criminaluntersuchungen. Der Vorsteher des Gerichts, der Richter, heißt, wenn dieses ein kön. Untergericht ist, in manchen Gegenden Amtmann, Gerichtsamtmann, bei den Patrimonialgerichten der Städte gewöhnlich Stadtrichter, außerdem Gerichtsdirector, Gerichtshalter oder Gerichtsverwalter, im Gegensatze zu dem Gerichtsherrn, d.i. dem Eigenthümer des betreffenden Patrimonialgerichts. Die Vorsteher der obern und höchsten Gerichte führen gewöhnlich den Titel Präsidenten, und die unter ihnen stehenden Gerichtsschreiber den Titel Secretaire. Die übrigen bei einem Gericht angestellten Personen heißen nach den ihnen obliegenden Geschäften Gerichtskanzlisten, Copisten, Gerichtsboten, Gerichtsdiener, Gerichtsfrohne u.s.w. – Gerichtsfolge nennt man die Dienste, welche in policeilichen und peinlichen Fällen zu Aufsuchung, Arretirung, Bewachung und Transportirung der Landstreicher und Verbrecher auf Verlangen des Richters von den Gerichtsunterthanen geleistet werden müssen. Auch nennt mm die letztern selbst die Gerichtsfolge, insofern sie eben die erwähnten Dienste verrichten.

Gerichtsgebrauch oder Gerichtsbrauch heißen die rechtlichen Grundsätze, welche ein Gericht angenommen hat und mit Consequenz befolgt. Der Gerichtsbrauch ist ein formeller, insofern er sich auf das gerichtliche Verfahren bezieht, ein materieller, wenn er Einfluß auf die Entscheidung selbst hat. Ein Gericht darf und soll sogar in der Regel den eimmal angenommenen Gerichtsbrauch so lange beobachten, bis derselbe nicht durch ausdrückliche Gesetze abgeschafft wird. Gerichtshandelsbücher oder Gerichtshandelsprotokolle sind die Bücher, in welche die vom Gericht confirmirten Verträge der Privatpersonen, die von ihm ertheilten Consense, z.B. die Einwilligung zu Aufnahme. hypothekarischer Schulden, ferner die an Gerichtsstelle von Privatpersonen geleisteten Quittungen und Verzichte u.s.w. eingetragen werden. Gerichtskosten oder Gerichtsgebühren (Judicialien) sind die durch Verfügungen und Verhandlungen eines Gerichts erwachsenen Kosten. Ein Gericht hat das Recht, seine Kosten von dem Zahlungspflichtigen, wenn sie sonst das gesetzliche Maß nicht überschreiten, im Weigerungsfalle sofort durch Anwendung executivischer Zwangsmaßregeln, z.B. durch Auspfändung, beizutreiben. Gerichtsnutzungen nennt man die pecuniairen Vortheile, welche mit dem Besitze einer Gerichtsbarkeit verbunden sind. Hierher gehört z.B. das Recht des Gerichtsherrn, die Strafgelder von seinen Gerichtsunterthanen für sich einzuziehen. Unter Gerichtsordnung versteht man denjenigen Theil der Gesetzgebung eines Staates, welcher die bei Organisation der Gerichte und die bei dem gerichtlichen Verfahren zu beobachtenden Vorschriften enthält. Fälschlich, wiewol nicht selten, wird dies Wort gleichbedeutend mit Proceßordnung (s.d.) gebraucht. Gerichtssprengel oder Gerichtsbezirk ist der örtliche Umfang der Gerichtsbarkeit. Das Gericht darf ihn eigenmächtig nicht überschreiten und muß dessen Verletzung von einem andern Gerichte bei Vermeidung eigner Verantwortlichkeit seiner Oberbehörde anzeigen. Will ein Gericht auf einem fremden Gerichtsbezirke etwas vollziehen, so muß es den Richter des letztern hierzu in Anspruch nehmen (requiriren). Gerichtstage nennt man die Tage, [195] an welchen die Gerichte ihre Sitzungen halten. Doch kommt diese Benennung in der Regel nur bei kleinern Patrimonialgerichten vor, welche bei dem geringern Umfange ihrer Geschäfte nur von Zeit zu Zeit einmal Sitzungen halten. – Gerichtliche Arzneikunde ist der Theil der Arzneikunde, welchen der Richter erlernen muß, um in vorkommenden Fällen einen richtigen Fundbericht entwerfen zu können, z.B. über die Tödtlichkeit der an einem Leichnam entdeckten Wunden. Nun pflegen zwar, besonders in größern Gerichten, hierzu gewöhnlich eigne Gerichtsärzte verpflichtet zu werden, allein wenn diese nicht gleich zu haben sind und Gefahr im Verzuge ist, so ist es nöthig, daß der Richter deren Stelle einigermaßen vertreten kann.

Es wurde bereits bemerkt, daß die Gerichte sich eigentlich nur mit dem Rechtsprechen zu beschäftigen haben. In dieser Beziehung bilden sie die dritte der drei Staatsgewalten; diese sind nämlich die Regierungsgewalt, gesetzgebende Gewalt und die richterliche Gewalt. Die erstere dieser Gewalten, auch die vollziehende genannt, hat zwar das ausschließliche Recht, neue Gesetze zu beantragen und die Verfassung der Gerichte zu ordnen, sie darf aber nie eigenmächtig in den Gang gerichtlicher Verhandlungen eingreifen, so lange diese sich in den gesetzlichen Grenzen bewegen. Sie führt daher zwar die fortwährende Oberaufsicht darüber, daß die Gerichte die ihnen obliegenden Functionen gehörig erfüllen, aber sie hat durchaus kein Recht, sich in die gesetzmäßigen Entscheidungen (Rechtssprüche) der Gerichte zu mischen. Vor den Justizminister gehören die Klagen wegen verweigerter oder vernachlässigter Justiz, aber keineswegs kommt ihm die Abänderung oder Bestätigung gerichtlicher Urtel zu. Erlaubt sich die Regierung dergleichen willkürliche Eingriffe in die Gerichtsverfassung, so nennt man dies Cabinetsjustiz. Sie ist stets ein Kennzeichen despotischer Regierungsformen. Ein wesentliches Mittel zu Herstellung der erfoderlichen Unabhängigkeit der richterlichen Gewalt besteht darin, daß der Regierung nicht gestattet wird, die einmal von ihr angestellten Gerichtsbeamten willkürlich wieder abzusetzen. Man nennt dies mit einem schlecht lat. Worte die Inamovibilität der Richter, welche in den meisten civilisirten Staaten Europas eingeführt ist. Diese Selbständigkeit der Gerichte ist schon deshalb sehr nothwendig, weil diese auch über die von den Unterthanen gegen die Regierung selbst im gesetzlichen Wege erhobenen Klagen, sowie über die Strafbarkeit der von den Unterthanen gegen die Regierung begangenen Verbrechen zu entscheiden haben. – Alle gerichtlichen Entscheidungen sind auf die bestehenden Gesetze zu gründen. Von diesen abzugehen ist dem Richter in keinem Falle gestattet, auch dann nicht, wenn die Bestimmungen der Gesetze nur Formalitäten betreffen oder seiner individuellen Überzeugung widersprechen. Thut es der Richter dennoch, so maßt er sich eine ihm ganz fremde gesetzgebende Gewalt an und bleibt für die Überschreitung seiner Grenzen verantwortlich. In England und Frankreich sind zu Prüfung und Verwerfung der gerichtlichen Entscheidungen in dieser Beziehung besondere Behörden eingesetzt. Sie führen in Frankreich den Namen Cassationshöfe. In Deutschland hat man dafür die sogenannten Nichtigkeitsklagen, mittels welcher den Unterthanen erlaubt wird, die Beschwerden gegen eine gerichtliche Entscheidung vor einer höhern Behörde anzubringen. – Ebenso streng wie von der gesetzgebenden sollte eigentlich die richterliche Gewalt auch von der vollziehenden oder Regierungsgewalt geschieden sein, wie dies auch in Frankreich und England größtentheils der Fall ist. So werden z.B. in diesen Staaten die Criminalurtel nie von dem Gericht, welches sie gegeben hat, sondern stets von besondern Regierungsbeamten vollstreckt, welche in Frankreich Kronanwälte, in England Sheriffs heißen. In Deutschland dagegen sind die Gerichte größtentheils auch mit executiver Gewalt bekleidet, jedoch fast durchgängig mit der Beschränkung, daß in wichtigern Criminalfällen die Straferkenntnisse nicht ohne vorgängige bevollmächtigende Verordnung der Regierung von den Gerichten vollzogen werden dürfen.

Was endlich die Staats- oder völkerrechtlichen Grenzen der Gerichtsbarkeit, also das Verhältniß der Gerichte verschiedener Staaten zueinander betrifft, so gilt hierüber, wenn die Staaten nicht unter sich dieses Verhältniß durch besondere Verträge geordnet und festgestellt haben, im Allgemeinen die Regel, daß kein Gericht im Auslande irgend eine Gewalt auszuüben befugt ist. Hiernach ist ein inländisches Gericht nicht verbunden, die Entscheidungen auswärtiger Gerichte anzuerkennen oder den Verordnungen derselben Folge zu leisten. Die in Civilsachen gegen Engländer von ausländischen Gerichten gegebenen Entscheidungen werden in England von den Behörden nur dann vollstreckt, wenn dies ohne Eingriffe in das Grundeigenthum und ohne Beraubung der persönlichen Freiheit des Verurtheilten geschehen kann. In Frankreich findet die Vollziehung eines im Auslande gesprochenen Urtels gegen einen Franzosen nur nach vorgängiger Revision des ganzen Processes statt. Das Verhältniß der Civilgerichtsbarkeit der deutschen Staaten sowol untereinander, als gegen das Ausland, ist, da wir hierüber bis jetzt noch keine ausreichende allgemeine Gesetzgebung haben, schwankend. In Criminalsachen hat jeder Staat das Recht und die Verbindlichkeit, die in seinem Gebiet begangenen Verbrechen, sowol an Inländern als an Ausländern, zu bestrafen, ob nach den inländischen Gesetzen oder nach den Gesetzen des Landes, dem der Verbrecher angehört, ist willkürlich. Man wählt gewöhnlich die in der Heimat des Verbrechers geltenden Gesetze nur dann, wenn sie milder sind, als die inländischen. Ebenso hat jeder Staat das Recht, seine Unterthanen, die im Auslande ein Verbrechen begangen haben, nach ihrer Rückkehr zur Untersuchung und Strafe zu ziehen, denn durch das bloße Verweilen im Auslande hört man nicht auf, Staatsbürger seiner Heimat zu bleiben. Wird ein Verbrecher flüchtig, so kann ein auswärtiger Staat, unter dessen Schutz er sich begeben, zur Auslieferung desselben rechtlich nicht gezwungen werden. Die deutschen Bundesstaaten liefern sich zufolge besonderer Übereinkunft die Verbrecher gegenseitig aus. Dies ist auch um so nothwendiger, als in kleinen Staaten das Austreten in ein fremdes Staatsgebiet mit wenig Schwierigkeiten verbunden ist, und daher, wenn jene Vereinigung nicht stattfände, das straflose Verletzen der Criminalgesetze in Deutschland sehr begünstigt sein würde. Überhaupt ist die Erhaltung und Verbesserung der sittlichen Ordnung der gemeinschaftliche Zweck aller civilisirten Staaten, der nur dann erreicht werden kann, wenn Verbrecher nirgend mehr eine Freistätte für ihre Schandthaten finden.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 194-197.
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