[612] Französische Literatur. I. Altfranzösische Literatur (bis etwa 1515). 1) Älteste Zeit (bis 1150). Aus der Zusammenfassung alter epischer Volksgesänge gingen im 9. und 10. Jahrh. förmliche Epen (Chansons de geste) hervor, die bes. Karl d. Gr. und seinen Kreis behandeln; danach wurden von den Klerikern Lieder kirchlichen Inhalts gedichtet. Von altfranz. Heldenliedern ist nur das »Rolandslied« erhalten; seit dem 12. Jahrh. beteiligten sich auch die Normannen an der Pflege der franz. Dichtung (Reimchroniken u. a). – 2) Blütezeit (1150 – 1230), Zeit der ritterlichen und höfischen Dichtkunst. Während die Südfranzosen die älteste mittelalterliche Kunstlyrik ausbildeten (s. Troubadours), pflegten die nordfranz. Kunstdichter (trouvères) bes. die volksmäßige Epik, Heldensagen, Reimchroniken und abenteuerliche Mären (lais, romans d'aventure). Den Übergang bildete die Behandlung antiker Sagenstoffe (Alexandersage, Bearbeitungen von Statius' Thebais, von Virgils Äneide, die Eroberung Trojas von Benoit de Sainte-More), sodann die Behandlung bretonischer Stoffe (Gral- und Artusromane, »Roman de Brut« von Wace, 1155; Hauptdichter Chrétien de Troyes), biblischer und orient. Sagen (Judas Makkabäus, »Baarlaam und Josaphat«, »Flore und Blancheflor« etc.) sowie lokaler franz. Sagen (»Partenopeus de Blois«, »Roman de la Violet te« von Gerbert de Montreuil.) Die volkstümliche Heldendichtung verjüngte die ältern Gesänge und behandelte Kriege gegen Reichsfeinde (Sagenkreis von Guillaume d'Orange), einheimische Fehden und orient. Kämpfe (Kreuzzüge und ihre Helden); ferner Tiersage (»Roman du Renard«) und andere Fabeln nach Äsop etc. Kleinere novellenartige Verserzählungen sind die Contes oder Lais (Marie de France) und die dem bürgerlichen Leben entnommenen, oft derben Fabliaux. Hierzu kommen religiös-didaktische und satir.-lehrhafte Dichtungen, wie das Tierbuch und »Le Besant Dieu« von Guillaume le Clerc, der satir. Zeitspiegel des Guiot von Provins u.a., und die Anfänge der Memoirenliteratur durch Villehardouin. Bekanntester nordfranz. Lyriker der Kastellan von Coucy. Auch die Anfänge der nordfranz. Dramatik fallen in diese Zeit. – 3) Übergangszeit (13., 14. und 15. Jahrh.). Mit dem Erstarken des Königtums und mit dem Emporkommen des Bürgerstandes schwinden die Ideale des Rittertums, die Poesie wird verstandesmäßig; ältere Chansons de geste und Romans werden in Spruchgedichte, Dits, umgeformt, die Romane des bretonischen Sagenkreises in Prosa aufgelöst, die Epen des fränk.-karolingischen Sagenkreises zu Volksbüchern (»Schöne Magelone«, »Melusine« etc.), die Fabliaux und Contes in den Novellen prosaisch bearbeitet (Antoine de la Sale, »Les cent nouvelles nouvelles«), auch das allegorische Epos tritt auf den Plan (der »Roman de la Rose« von Guillaume de Lorris und Jean de Meung). Die Lyrik ist in den Händen bürgerlicher Minnesänger (Adam de la Halle) und der Gelegenheitsdichter des Hofs (Machaut, Alain Chartier, Christine de Pisan u.a.), seit Mitte des 15. Jahrh. treten bes. zünftige Meistersänger (Rhétoriciens) der burgund. Schule hervor. Volksmäßige Dichter sind Olivier Basselin in seinen patriotischen Liedern und der witzige François Villon. Die beliebteste poet. Form ist jetzt die Ballade (Eustache Deschamps, Bouciquaut). Volksmäßigen Charakter trägt auch die dramat. Poesie. Neben den biblischen Mystères und den legendarischen Miracles des vorigen Zeitraums entwickeln sich nun die allegorischen Moralités, die satir. Sotties und die komischen Farces (bes. berühmt »Maistre Pierre Pathelin«, um 1470). Ausgezeichnete Prosawerke sind die Chronik von Froissard, die Memoiren von Joinville und von Phil. de Comines.
II. Neufranzösische Literatur. 1) Von Franz I. bis Ludwig XIV. (1515-1643). Mit dem Aufkommen der Renaissance und des Humanismus unter Franz I. und am Hofe der Margareta von Navarra, die selbst dichtete (Novellensammlung »Heptameron«), beginnt die Abwendung der Literatur von ihrer volkstümlichen nationalen Grundlage und die Hinwendung zu höfisch gelehrtem Wesen und zu den Alten (Marot [1495-1544] und die Dichter der sog. Plejade [Ronsard, Jodelle, Baïf, Du Bellay etc.]). Malherbe (gest. 1628) verlangt dagegen rein franz. Ausdruck und Stil und regelt den Versbau. Der Begründer des neuen franz. Theaters ist Jodelle (mit der Tragödie »Cléopâtre«, 1552; sein »Eugène« erstes Beispiel einer Nachbildung des antiken Lustspiels), unter ihren Nachfolgern bes. Rob. Garnier und der fruchtbare Hardy zu nennen. Den Ritterroman pflegte jetzt bes. Herberay des Essarts (»Amadis«); Rabelais schuf den satir. Roman (»Gargantua und Pantagruel«), sein Geist wirkt fort in dem Satiriker d'Aubigné und M. Regnier; berühmt ist die von mehrern verfaßte polit. »Satire Ménippée«; den Schäferroman führte Honoré d'Ursé (»Astrée«) ein. Die didaktische Prosa ist ausgezeichnet vertreten durch den Skeptiker Montaigne (»Essais«), neben ihm durch Charron, Jean Bodin, den Begründer der wissenschaftlichen Politik, den Reformator Calvin u.a. Als Historiker und Memoirenschreiber sind zu nennen: J. A. de Thou, d'Aubigné, Blaise de Montluc, Castelnau, Brantôme, Sully. Eine neue Prosagattung wurde von Balzac und Voiture in den galanten Briefen ausgebildet. – 2) Klassische Periode. Zeitalter Ludwigs XIV. (1643-1715). In dieser »goldenen Zeit« wurde die franz. Sprache Weltsprache, die F. L. als klassisch anerkannt und in England, Deutschland, Italien und Spanien tonangebend, erreichte den höchsten Grad der Korrektheit, aber an die Stelle echter Leidenschaft und natürlichen Empfindens trat vielfach geistreiche Reflexion und falsches Pathos. Das Drama hatte das Übergewicht. Pierre Corneille, der Vater des klassischen franz. Theaters, zeichnete sich im Erhabenen und Heroischen, sein großer Nebenbuhler Racine im Rührenden aus; neben ihnen sind als Trauerspieldichter noch Thomas Corneille und Ant. de la Fosse zu nennen. Meister des Lustspiels ist Molière, der Schöpfer der franz. Sitten-und Charakterkomödie, seine Nachfolger Boursault, Regnard, Dancourt, [612] Operndichter Quinault. Der lange für unanfechtbar gehaltene ästhetische Gesetzgeber dieser Periode (»Art poétique«) und eifrigste Verfechter des Klassizismus ist Boileau, der in seinen Satiren und Episteln Muster der Korrektheit aufstellte. Die lyrische Poesie konnte in dieser Zeit nicht gedeihen, ihr bester Repräsentant ist J. Bapt. Rousseau, im Idyll wurde Antoinette Deshoulières bewundert. Die erzählend-didaktische Dichtung belebte Lafontaine in seinen ausgezeichneten Fabeln aufs neue. Auf den histor.-sentimentalen Roman der Madeleine de Scudèry folgten die mehr modernen Schöpfungen der Gräfin Lafayette und das schlüpfrige Werk des Grafen Rabutin de Bussy; Scarron eröffnete den komischen Roman, den Lesage (»Gil Blas«) zur Höhe seiner Entwicklung brachte; Fénélon schrieb den polit. Roman »Télémaque«. Feenmärchen schrieben Perrault u.a. Muster des Briefstils lieferten die Marquise de Sévigné, Frau von Staël u.a., ausgezeichnete Charakteristiken La Bruyère, Muster der Beredsamkeit (bes. Trauerreden) Bossuet, Bourdaloue, Fléchier, hervorragende Memoirenschreiber waren der Kardinal von Retz, der Herzog von Larochefoucauld, der scharf urteilende Herzog von Saint-Simon, populäre philos. Schriftsteller Descartes und Pascal. – 3) Das Philosophische Jahrhundert (bis zur Revolution; 1715-89). Auf allen Gebieten literar. Tätigkeit zeigt sich der Einfluß der engl. Denker und Dichter. Die Geringschätzung der traditionellen religiösen und moralischen Ideen, die Kritik, die philos. Skepsis, die sensualistischen und materialistischen Anschauungen und der Atheismus (s. Enzyklopädisten) gaben der Literatur des 18. Jahrh. ihre Signatur; statt des Hofs wirkten die literar. Salons (bes. der Mad. de Geoffrin, de l'Espinasse, Dudeffand) auf sie ein. Den allgemeinsten Einfluß übte Voltaire aus, der von größter Univeralität in seinen Leistungen war, nächst ihm Jean Jacques Rousseau durch seine Staats- und Erziehungsromane. Durch Voltaire und Montesquieu wurde die Geschichtsforschung zu einer philos. Geschichtsanschauung vertieft; Condorcet, Mably, Barthélemy, Raynal arbeiteten in diesem Geiste. Die akademische Beredsamkeit feierte in D'Alembert, Thomas, Guilbert ihre Blütezeit. Auf dem Gebiete des Romans sind, nächst Voltaire, Rousseau und Diderot, im sentimentalen Genre Florian, Marmontel und B. de Saint-Pierre (»Paul et Virginie«) zu erwähnen; den engl. Familienroman führte Prévôt d'Exiles (»Manon Lescaut«) ein, den frivolen bes. der jüngere Crébillon (»Le sopha«). Das bürgerliche Schauspiel und die Comédie larmoyante wurde durch Destouches, La Chaussée und Sedaine ausgebildet, auch von Voltaire (»Enfant prodigue«) und Diderot (dieser zuerst in Prosa; »Fils naturel«, »Père de famille«) bearbeitet. Das eigentliche Lustspiel wurde von Marivaux, Collé u.a. gepflegt, bes. berühmt machte sich Beaumarchais (»Barbier de Séville«, »Mariage de Figaro«). Voltaires geistreiche, zum Teil schlüpfrige poet. Erzählungen (»Henriade«, »Pucelle«) wurden nachgeahmt von Gresset (»Vert-Vert«) u.a. Als Fabeldichter erwarben sich Florian und Aubert einen Namen. – 4) Neueste Zeit (seit 1789). In der Revolutionszeit erreichte die polit. Beredsamkeit ihren Höhepunkt (Mirabeau, Mounier, Clermont-Tonnerre, Sieyès, Cazalès u.a.), die Literatur flüchtete sich in die Journale und Flugschriften. Als eigentliche Revolutionsdichter sind zu nennen Lebrun-Pindare, Rouget de l'Isle als Dichter der Marseillaise, Marie Jos. Chénier wegen seiner »Hymne à l'Être suprême« und als Dramatiker. Das erste Kaiserreich begünstigte die Anknüpfung an den Klassizismus. Doch bahnten Andrè Chènier, Mad. de Staël, Chateaubriand und Nodier bereits die neuen Ideen an, die unter der Reaktion der Restaurationszeit als die romantische Richtung hervortraten. Deren eigentlicher Stifter und langjähriges Haupt war Victor Hugo. Um ihn scharten sich Emile und Ant. Deschamps, Sainte-Beuve, Alfred de Musset, Alfred de Vigny. Zu den Dichtern der klassischen Schule, die in diese Periode hineinragen, gehören der Lyriker Désaugiers, die Dramatiker Chénier, Lemercier, Pierre Lebrun. Die hervorragendsten Dramatiker der romantischen Schule, die mit ausschweifender Phantasie alle Regeln über den Haufen warfen und mit den grellsten Mitteln wirkten, waren V. Hugo und Alex. Dumas der Ältere. Delavigne und Vigny hielten sich mehr in der Mitte zwischen beiden Schulen; Ponsard versuchte später in seinen Dramen eine Verschmelzung beider. Scribe verfaßte bürgerliche Sittenkomödien und histor. Intrigenstücke. Lamartine schlug einen süßlichen katholisierenden Ton an, während die Mißgriffe der Bourbons in Béranger, dem populärsten und nationalsten Liederdichter Frankreichs, die volkstümliche Lyrik wieder wachriefen, und die Korruption der höhern Stände in Aug. Barbier ihren satir. Dichter fand. Die meisten der genannten hervorragenden Dichter haben sich auch dem Roman zugewendet, der als die universelle poet. Form eine höhere Bedeutung gewann; zu nennen sind bes. Balzac, Sue, Soulié, George Sand; ferner Merimée, Souvestre, Reybaud, Karr, Sandeau, de Kock u.a. In der Geschichtschreibung traten drei Schulen hervor: die systematische oder rationelle (Guizot, Michelet), die beschreibende oder erzählende (Barante, Aug. Thierry, Ségur), die fatalistische (Mignet, Thiers). In Théophil Gautier und Théod. de Banville hatte die romantische Lyrik noch hervorragende Vertreter, aber in deren Nachfolgern, den sog. Parnassiens (Sully-Prud'homme, Leconte de Lisle, Coppée u.a.), artete sie zum Teil ganz in künstliche Reimereien aus, während andere, wie Ch. Baudelaire, dem unter dem zweiten Kaiserreich aufkommenden strengen Realismus und konsequenten Naturalismus huldigen; von den Lyrikern der dritten Republik sind zu nennen: A. France, P. Déroulède, J. M. de Hérédia, A. Theuriet, P. Bourget, Richepin, dessen Naturalismus die sog. Dekadenten und Symbolisten, wie P. Verlaine, Steph. Mallarmé, das Sinnlich-Übersinnliche entgegenstellen. Mit Dumas' des Jüngern »Dame aux Camélias« (1852) und »Demi-Monde« (1855) trat die realistische Tendenz im Drama auf und brachte eine vollständige Umwälzung hervor; solche stark wirkende, naturgetreu dramatisierte Sittenbilder schufen ferner Augier, Barrière, Feuillet, A. Dumas (Sohn) und bes. erfolgreich Sardou. Das Versdrama höhern Stils wurde erst durch Rostand teilweise wieder belebt, das alte Vaudeville von Labiche, Meilhac, Halévy, Gondinet und Pailleron, die Posse von A. Bisson u.a. dem veränderten Geschmack angepaßt, das Liederspiel durch possenhafte Operetten ersetzt. Der realistische Roman knüpfte an Balzac an; bes. Aufsehen erregten Flaubert mit »Madame Bovary« (1857) und Feydeau mit »Fanny« (1858). Andere hervorragende Romanschriftsteller verschiedener Richtungen sind: Alex. Dumas, Sandeau, Feuillet, Cherbuliez, About, J. Verne, Claretie, Erckmann-Chatrian, die Brüder Goncourt, Ohnet etc., der berühmteste Daudet. Immer mehr wurde es dabei üblich, dieselben Stoffe zugleich als Roman wie als Bühnenstück zu bearbeiten. Zola endlich hat in seinen durch außerordentliches Schilderungstalent und weitgehende Detailmalerei hervorragenden Romanzyklen »Les Rougon-Macquart«, »Les trois villes« und »Les quatre évangiles« ein treues Bild seiner Zeit und ihrer Tendenzen gegeben; neben und mit ihm sind bes. A. Daudet, Guy de Maupassant, P. Bourget, P. Hervieu, Gyp (Gräfin Martel-Mirabeau), F. Fabre, A. France, J. Lemaître, C. Mendès als Schilderer des modernen Gesellschafts- und des intimen menschlichen Seelenlebens zu nennen; einer mehr idealen Richtung gehören an J. H. Rosny, Marcel Prévost, H. Rabusson, Loti, M. Barrès u.a. Von neuern Historikern sind noch zu nennen: Louis Blanc, Henri Martin, Taine, Renan, Monod, Lavisse, Sorel, Chuquet, Hanotaux u.a., im Fache der literar. Kritik: Sainte-Beuve, Gautier, Prévost-Paradol, Weiß, Scherer, Sarcey, F. Brunetière u.a. Von vielen Staatsmännern, Militärs, Dichtern etc. erschienen interessante Memoiren.
Vgl. die Literaturgeschichten von Albert (neue Aufl. 1895), Faguet (2 Bde., 1900), Engel (6. Aufl. 1905), Suchier und Birch-Hirschfeld (1900), P. de Julleville (1896 fg.) und die »Histoire littéraire de la France« (Bd. 1-33, 1733-1893). Altfranz. Zeit von Paris (1890 u. 1895), Gautier (1878-92); 17. Jahrh. von Lotheißen (2. Aufl. 1897); 18. Jahrh. von Hettner (5. Aufl. 1894); 19. Jahrh. von Brandes (5. Aufl. 1897).
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