Niembsch von Strehlenau

[673] Niembsch von Strehlenau, Nikolaus, gewöhnlich nur mit seinem Dichternamen Nikolaus Lenau genannt, ausgezeichneter Dichter, geb. 15. Aug. 1802 zu Csatád in Ungarn, gest. 22. Aug. 1850 in Oberdöbling bei Wien, studierte in Wien die Rechte und wendete sich dann der Medizin zu, ohne jedoch praktischer Arzt zu werden. Von frühauf eine zu gleicher Zeit feurige und melancholisch gestimmte Natur, deren poetische Ideale mit der Wirklichkeit in Konflikt gerieten, der Bewegung und Gärung der Zeit mit hoffendem Blick zugewandt und doch zu elegischer Trauer über den verlornen Frieden harmloser Tage gestimmt, leidenschaftlich und wiederum von krankhafter Weichheit des Gefühls, sprach Lenau die wechselnden Stimmungen seines Innern in lyrischen und lyrisch-epischen Dichtungen aus. Die Herausgabe seiner »Gedichte« (Stuttg. 1831) führte ihn nach Stuttgart, wo er im Kreise der schwäbischen Dichter große Sympathien gewann und sich besonders eng an Justinus Kerner, Schwab und K. Mayer anschloß. Doch konnten zunächst weder die neuen Freunde noch die Aussichten auf literarischen Ruhm Lenau bewegen, von der Reise nach Amerika abzustehen; er hoffte in den Urwäldern die Befriedigung zu finden, die er daheim selbst in der Einsamkeit der Alpen nicht fand. 1832 kaufte er sich in den Vereinigten Staaten etwas Land, das er an einen seiner Reisegefährten verpachtete, und bereiste zu Pferde den Westen der Union. Der Eindruck der amerikanischen Zustände konnte aber auf die tieflyrische Natur Lenaus nur abstoßend sein; amerikamüde kehrte er nach einigen Monaten nach Europa zurück, wo inzwischen seine durch ausgeprägte Eigenart ausgezeichneten, farbenreichen und stimmungsvollen Gedichte ihre erste Verbreitung gewonnen hatten. Die Bilder aus seiner ungarischen Heimat verliehen namentlich den kleinern epischen Dichtungen ihren unwiderstehlichen Reiz, und die Mischung kräftiger Züge der Wirklichkeit und elegischer Grundstimmung kam auch den erzählenden Dichtungen ohne ungarischen Hintergrund zugute, die neben zahlreichen lyrischen Gedichten in der ersten Zeit nach der Rückkehr aus Amerika entstanden. Das Jahrzehnt zwischen 1833 und 1843 verbrachte Lenau abwechselnd in Wien und in Schwaben. Seine erste größere Dichtung: »Faust« (Stuttg. 1836; für die Bühne eingerichtet von Gramm ing, Münch. 1869), weder eine eigentliche epische noch eine dramatische Dichtung, sondern eine Reihe skeptisch beleuchteter Lebensbilder, vermehrte den Ruf, dessen er sich bereits erfreute. In Lenau selbst aber nagte, trotz allen poetischen Gelingens, eine schmerzliche Unbefriedigung, die auch in der wachsenden Schwermut seiner Dichtungen zutage trat. Vielfache Herzenserlebnisse, Erschütterungen und Enttäuschungen, die Rastlosigkeit eines beständigen Reiselebens und der nie ruhende Widerspruch seiner persönlichen Neigungen und seiner Geistesziele steigerten die nervöse Reizbarkeit des Dichters Schritt für Schritt. Außer den »Neuern Gedichten« (Stuttg. 1838, 2. vermehrte Auflage 1840) erschienen die größern Dichtungen: »Savonarola« (das. 1837, 5. Aufl. 1866; vgl. Castle im »Euphorion«, Bd. 3 u. 4, Bamb. 1896–97) und »Die Albigenser« (Stuttg. 1842, 4. Aufl. 1873), die beide alle Vorzüge des Lenauschen Talents: die Glut und Farbenpracht der Schilderung, den Schwung echter Begeisterung, in einer Reihe glänzender Situationen und Bilder aufweisen, aber beide mehr geniale Fragmente als geschlossene Kunstwerke sind. Im »Savonarola« hielt Lenau wenigstens noch die einheitliche Form fest, in den »freien Gesängen« der »Albigenser« verzichtete er auch auf diese und erzielte darum nur fragmentarische Eindrücke. Sein letztbegonnenes Gedicht: »Don Juan« (im »Nachlaß« erschienen), schloß sich in der Kompositionsweise völlig dem »Faust« an. Seine Vollendung war Lenau leider nicht beschieden. Im Sommer 1844 überraschte der Dichter seine Freunde durch die Nachricht von seiner glücklichen Verlobung (mit Marie Behrens, Tochter eines Frankfurter Senators); wenige Monate später aber ward er im Hause seines Freundes, des Hofrats Reinbeck in Stuttgart, vom Wahnsinn ergriffen. Lenau wurde nach der Irrenanstalt Oberdöbling bei Wien gebracht, wo ihn erst nach sechs Jahren der Tod von seinen Leiden erlöste. In seiner Geburtsstadt Csatád wurde ihm 1905 ein Denkmal errichtet, und auch in Eßlingen wurde 1904 eine Büste von ihm aufgestellt. Seine »Gedichte« (Vereinigung der beiden obigen Sammlungen) sind seitdem in zahlreichen Auflagen erschienen; sonst ist von seinen Publikationen noch der »Frühlingsalmanach« (Stuttg. 1835–36, 2. Jahrg.) zu erwähnen. Seinen dichterischen »Nachlaß« (Stuttg. 1851) und seine »Sämtlichen Werke« (das. 1855, 4 Bde.; illustrierte Ausg. 1881, 2 Bde.) gab Anastasius Grün, dem Dichter im Leben eng befreundet, heraus. Von den neuern Ausgaben sind die vom Bibliographischen Institut in Leipzig veranstaltete (mit Biographie, Anmerkungen etc., 1882, 2 Bde.), die Hempelsche (Berl. 1883, 2 Bde.) und als die beste die von Castle für Hesses Klassikerausgaben besorgte (Leipz. 1900, 2 Bde.) zu nennen. Von Briefen Lenaus erschienen: »Lenaus Briefe an einen Freund« (hrsg. von K. Mayer, Stuttg. 1853); »Lenau und Sophie Löwenthal. Tagebuch und Briefe des Dichters etc.« (hrsg. von Frankl, das. 1892); »Lenaus Briefe an Emilie von Reinbeck und deren Gatten Georg von Reinbeck« (hrsg. von Schlossar, das. 1896). Vgl. Anton Schurz (Gatte von Lenaus Schwester Therese), Lenaus Leben, großenteils aus des Dichters eignen Briefen (Stuttg. 1855, 2 Bde.); Emma Niendorf, Lenau in Schwa ben (Leipz. 1853); Frankl, Zur Biographie N. Lenaus (2. Aufl., Wien 1885); Mulfinger, Lenau in AmerikaAmericana Germanica«, Bd. 1, New York 1897); Roustan, Lenau et son temps (Par. 1898); Saly-Stern, La vie d'un poète [673] Essai sur Lenau (das. 1902); Ernst, Leuaus Frauengestalten (Stuttg. 1902); v. Klenze, The treatment of nature in the works of Lenau (Chicago 1902); Faggi, Lenau e Leopardi (Palermo 1898); L. Reynaud, N. Lenau, poète lyrique (Par. 1905), sowie die kleinern Schriften und Vorträge von Witt (Marb. 1893), Sintenis (Hamb. 1899), GeskyLenau als Naturdichter«, Leipz. 1902), Prem (Graz 1903).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 673-674.
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