Russisch-Zentralasien

[330] Russisch-Zentralasien (hierzu Karte »Russische Eroberungen in Zentralasien«), Bezeichnung für das große russische, im N. vom europäischen Rußland und Sibirien, im O. von der Mongolei, im S. von Afghanistan und Persien, im W. vom Kaspischen Meer begrenzte Gebiet, welches das Steppengeneralgouvernement, das Generalgouvernement Turkistan und die selbständigen Provinzen Uralsk und Turgai (s. die Einzelartikel) umfaßt, zusammen 3,551,308 qkm, davon 71,863 qkm Seen, mit (1897) 7,721,684 Einw. (22 auf 1 qkm).

Geschichte. Nachdem die Russen Sibirien erobert hatten, begannen sie ihre Blicke auch auf Zentralasien zu richten. Die seit Ende des 16. Jahrh. am Ural angesiedelten Kosaken machten wiederholt Raubzüge zu dem ihnen als goldreich gepriesenen Chiwa, wurden aber stets zurückgewiesen. Als jedoch 1700 der Chan von Chiwa sich zum russischen Untertanen erklärte, entsandte Peter d. Gr., um einen Handelsweg nach Indien zu bahnen, 1714 eine Abteilung, die aber, da der Chan jenes Verhältnis nicht mehr anerkannte, niedergemacht wurde. Doch unterwarfen sich die Kirgiskaisaken, 1732 auch die Kirgisen der Mittlern und Kleinen Horde, so daß das Gebiet zwischen Ural und Balchaschsee russisch wurde. Inzwischen hatten die Bewohner von Chiwa wiederholt die russischen Außenposten beunruhigt und den Karawanenverkehr nach Turkistan gestört. Auch die Anlage von befestigten Plätzen innerhalb des Gebietes der Kleinen und Mittlern Horde änderte daran nichts; 1824 wurde die erste, von Rußland nach Bochara abgesandte Karawane ausgeraubt. General Perowskij, den Nikolaus I. 1839 mit 4500 Mann, 22 Geschützen und einem Train von 2012 Pferden, 10,400 Kamelen und 2000 kirgisischen Führern entsandte, wurde durch Wassermangel, Kälte und Schneestürme zum Rückzug gezwungen und erreichte 8. Juni 1840 Orenburg nach einem Verlust von 1500 Mann. Ein Kirgisen aufstand konnte erst 1842 niedergeworfen werden. Zu den frühern Forts Embinsk an der Emba und Al-Bulat auf dem Ust-Urt-Plateau kamen nun die Posten Uralskoje am Irgis, Orensburgskoje am Turgai und, nachdem 1847 auch die Große Horde die Oberherrschaft Rußlands anerkannt hatte, Kopal südöstlich[330] vom Balchaschsee sowie Raimskoje an der Mündung des Sir Darja. Der Chan von Chiwa legte jetzt ebenfalls Forts am Sir Darja an und fiel wiederholt in russisches Gebiet ein. Aber schon 1850 wurden Kosch-Kurgan und 1853 Ak-Metsched (das jetzige Perowsk) von den Russen genommen, die 1853 von Kopal über den Ili vordrangen und überall bis zum Thianschan Kosakenansiedelungen errichteten, zu deren Schutz sie die Forts Wjernoje und Kostek anlegten. Damit war Rußland im Besitz einer 350 km langen, gut befestigten Strecke des Sir Darja. Der Krimkrieg verzögerte weitere Unternehmungen. Aber 1861 wurden die Festungen Tschulak und Jany Kurgan, 1864 auch Aulije-Ata, Turkistan-Hazret, endlich auch Tschimkent genommen, so daß 116,000 Quadratwerst Rußland einverleibt werden konnten. Das eroberte Land wurde 1865 zu dem Grenzbezirk Turkistan verbunden und in russische Verwaltung genommen, zugleich die Festungen Nias-Beg am Tschirtschik und Tschinas besetzt. Taschkent, das Oberst Tschernajew 1864 vergebens angegriffen hatte, fiel 28. Juni 1865. Als der Emir von Bochara 20. Mai 1866 bei Irdschar eine schwere Niederlage erlitt, fiel 24. Mai Chodschent; im Oktober wurden auch Uratjube und Dschisak besetzt, durch welche die Pässe des Kaschgar-Dawan nach dem Tale des Serafschan beherrscht werden. Damit war wieder ein Gebiet von 30,000 Quadratwerst gewonnen. Nun wurde, nachdem im Frühjahr Jany-Kurgau (2600 Quadratwerst) dem Emir von Bochara entrissen worden war, aus dem bisher unter dem Gouverneur von Orenburg stehenden Gebiete 11. Juni 1867 das Generalgouvernement Turkistan gebildet; die Hauptstadt Taschkent erhielt eine starke Zitadelle und Garnison. Der Emir von Bochara wurde 13. Mai 1868 bei Samarkand, das am folgenden Tage fiel, und 14. Juli bei Katta-Kurgan geschlagen; im Frieden gewann Rußland wiederum 12,500 Quadratwerst. Inzwischen hatte der Chan von Chiwa fortwährend Raubzüge unternommen, die auch nicht durch die Anlage von Forts am Unterlauf der Emba, auf der Halbinsel Mangischlak und an den Ausgängen des Ust-Urt-Plateaus verhindert werden konnten. So rückten 1873 drei Kolonnen (14,000 Mann) unter General v. Kauffmann von Dschisak und Kasalinsk, vom Embaposten und von der Kinderlibucht des Schwarzen Meeres, bez. von dem an ihrem Südende gelegenen Tschikisliar aus. General Werewkin besetzte 8. Mai 1873 Kungrad, vereinigte sich 12. Mai bei Chodschaili mit der von der Kinderlibucht eingetroffenen Kolonne, schlug 27. Mai bei Schatyrtut 3000 Chiwesen und beschoß die Stadt Chiwa, worauf der Chan entfloh. Kauffmann hatte den Amu Darja bei Akamysch überschritten, die Festung Hesarasp genommen und vereinigte sich mit Werewkin vor Chiwa, das am 29. Mai gestürmt wurde. Im Frieden wurde der Chan wieder eingesetzt; doch mußte er alles Land auf dem rechten Ufer des Amu Darja abtreten, das zum größten Teil Bochara überwiesen wurde, Kriegskosten zahlen und die Sklaverei abschaffen. Auf dem Rußland vorbehaltenen kleinen Gebiet wurde die Festung Petro-Alerandrowsk erbaut. Innere Unruhen im Chanat Chokand veranlaßten die Russen 1875 zur Einnahme der Hauptstadt und 8. Febr. 1876 zur Einverleibung des ganzen Chanats als Provinz Ferghana in das Generalgouvernement Turkistan. Vom Kreis Kuldscha, den Rußland infolge des Dunganenaufstandes 26. Juli 1871 besetzt hatte, behielt es nach dem Vertrag mit China vom 14. Febr. 1881 nur den westlichen, 11,288 qkm großen Teil, der zur Provinz Semiretschinsk geschlagen wurde. Die räuberischen Einfälle der Tekke-Turkmenen, namentlich in den längs der Ostküste des Kaspischen Meeres sich hinziehenden, 285,000 Quadratwerst großen transkaspischen Militärbezirk, veranlaßten seit 1874 mehrere Expeditionen, die indes erfolglos blieben, bis Skobelew 1880–81 die Tekke-Turkmenen niederwarf (s. Achal Tekke), worauf sogleich die Weiterführung der Transkaspischen Bahn in Angriff genommen wurde. 1884 unterwarfen sich auch die Turkmenen von Merw. In Sarachs faßten die Russen ebenfalls festen Fuß, und als die Afghanen Ende Juni 1884 Pendsch-Deh besetzten, wurden sie 30. März 1885 von Komarow geschlagen und Pendsch-Deh unter russische Verwaltung gestellt. Eine englisch-russische Militärkommission setzte die Grenzlinie fest, die Rußland im Besitz aller Eroberungen ließ. Doch in seinem Vordringen gegen Indien zu ließ es sich nicht aufhalten: 1891–93 wurden auf dem Pamir mehrere Militärstationen errichtet. Im Juni 1901 wurde die seit 30. Okt. 1898 im Bau begriffene eiserne Eisenbahnbrücke über den Amu Darja bei Tschardshuj dem Verkehr übergeben. Aber die russischen Fortschritte, über die noch 1902 England beweglich klagte, wurden durch den unglücklichen Krieg mit Japan (1904–05) jäh unterbunden. Vgl. Haymerle, Ultima Thule. England und Rußland in Zentralasien (Wien 1885); Lansdell, Russian Central Asia (Lond. 1885, 2 Bde.; deutsch von Wobeser, Leipz. 1885, 3 Bde.); Stumm, Russia in Central Asia (Lond. 1885); Curzon, Russia in Central Asia (das. 1889); »Russia's march towards India, by an Indian officer« (das. 1893, 2 Bde.); Jaworskij, Mittelasien (russ., Odessa 1893); Ewarnitzky, Reiseführer durch Mittelasien von Baku bis Taschkent (russ., Taschkent 1893); Albrecht, Russisch-Zentralasien, Reisebilder (Hamb. 1896); Krahmer, Rußland in Mittelasien (2. Aufl., Leipz. 1900); Graf Yorck von Wartenburg, Das Vordringen der russischen Macht in Asien (2. Aufl., Berl. 1900); Skrine, The expansion of Russia 1815–1900 (Cambridge 1903); G. F. Wright, Asiatic Russia (Lond. 1903, 2 Bde.); Rohrbach, Die russische Weltmacht in Mittel- und Westasien (Leipz. 1904).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 17. Leipzig 1909, S. 330-331.
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