[932] Unschuldig Angeklagte und unschuldig Verurteilte für die Nachteile zu entschädigen, die ihnen durch die Untersuchungshaft oder durch die Vollstreckung eines irrigen Richterspruchs erwachsen sind, wird als eine Forderung der ausgleichenden Gerechtigkeit nach der jetzt herrschenden Ansicht bezeichnet. Doch ist die gesetzgeberische Formulierung dieses Entschädigungsanspruchs sehr schwierig. In Frankreich wurde die Frage schon im 18. Jahrh. vielfach erörtert, und in Preußen bestimmte schon 1776 eine Kabinettsorder Friedrichs d. Gr., daß der nachgewiesenen Unschuld das erlittene Ungemach vergütet werden solle. Im englischen Parlament trat Bentham für die Entschädigung unschuldig Verurteilter ein, und die Erörterungen der italienischen Rechtswissenschaft über diese Entschädigungsfrage führten zur Aufnahme diesbezüglicher Bestimmungen in das Strafgesetzbuch von Toskana und in die Strafgesetzgebung des Königreichs beider Sizilien. In einigen Schweizer Kantonen ist unschuldig Verurteilten eine Entschädigung für die erlittene Hast gesetzlich zugebilligt, ebenso hatten Baden und Württemberg in ihren frühern Strafprozeßordnungen die Entschädigung unschuldig Verurteilter festgelegt. In Deutschland wurde die Sache zunächst mit Anknüpfung an die Untersuchungshaft wieder aufgenommen durch den Kriminalisten Heinze, der in seiner Abhandlung »Das Recht der Untersuchungshaft« (Leipz. 1865) für eine Entschädigung unschuldig Verurteilter bezüglich des durch die Untersuchungshaft erlittenen Nachteils eintrat, und durch die deutschen Juristentage von 1873, 1874, 1876 und 1882, die sich vor allem mit der Entschädigung unschuldig Verurteilter befaßten. Im deutschen Reichstag wurde die Entschädigungsfrage das erstemal im Jahre 1875 zur Sprache gebracht, aber erst 26. Nov. 1897 brachte der Reichskanzler den Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Entschädigung der im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochenen Personen ein, aus dem dann das Gesetz vom 20. Mai 1898, betreffend die Entschädigung der im Wiederaufnahme verfahren freigesprochenen Personen, hervorging. S. hierüber Näheres im Artikel »Entschädigung unschuldig Verurteilter« (Bd. 5). Infolge wiederholter Anträge im Reichtstag, auch die Entschädigung für unschuldig erlittene Untersuchungshaft zu regeln, legte 28 Jan. 1904 der Reichskanzler dem Reichstag einen diesbezüglichen Entwurf vor, der zu dem Gesetze vom 14. Juli 1904, betreffend die Entschädigung für unschuldig erlittene Untersuchungshaft, führte. Das Gesetz lehnt sich im wesentlichen an die Grundsätze und vielfach auch im Wortlaut an das eben erwähnte Gesetz vom 20. Mai 1898 an. Entschädigung für Untersuchungshaft ist aus der Staatskasse zu gewähren Personen, die freigesprochen oder außer Verfolgung gesetzt wurden, wenn das Verfahren ihre Unschuld ergeben oder dargetan hat, daß gegen sie ein begründeter Verdacht nicht vorliegt. Ebenso haben diejenigen, denen gegenüber der Verhaftete unterhaltspflichtig war, Anspruch auf Entschädigung (§ 1). Ausgeschlossen ist die Entschädigung, wenn der Verhaftete die Untersuchungshaft vorsätzlich herbeigeführt oder grobfahrlässig verschuldet hat; sie kann aber auch noch aus einer Reihe anderer Gründe, die in der ethischen Bewertung des Verhafteten ihren Grund haben, ausgeschlossen werden (§ 2). Zu ersetzen ist der durch die Untersuchungshaft entstandene Schaden, Unterhaltsberechtigten der ihnen durch die Verhaftung des Unterhaltspflichtigen entzogene Unterhalt (§ 3). Die Entschädigung zahlt der Staat, der in erster Instanz mit der betr. Strafsache befaßt war, in einzelnen Fällen auch die Reichskasse (§ 7). Über die Frage, ob eine Entschädigung zu zahlen ist, hat das Gericht gleichzeitig mit dem freisprechenden Urteil Beschluß zu fassen (§ 4). Innerhalb sechs Monaten nach Zustellung dieses Beschlusses hat der Freigesprochene seinen Entschädigungsanspruch geltend zu machen. Gegen dessen Entscheidung ist die Berufung auf dem Rechtsweg zulässig (§ 6). Würde zu ungunsten des Freigesprochenen Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt, so kann die Entscheidung über die Entschädigung ausgesetzt werden (§ 8). Das Gesetz findet auch auf die im militärgerichtlichen Verfahren (§ 10) sowie auf die durch Konsulargerichte (§ 11) freigesprochenen Personen Anwendung. Auf Angehörige auswärtiger Staaten findet dieses Gesetz im Gegensatz zu dem über Entschädigung der im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochenen Personen nur bei verbürgter Gegenseitigkeit Anwendung (§ 12), eine solche besteht aber zurzeit mit keinem auswärtigen Staat. Alle Wünsche des deutschen Volkes sind durch dies Gesetz sowie durch das vom 20. Mai 1898 allerdings nicht befriedigt worden; so besteht auch heute noch keine Entschädigung für die Verhafteten, die durch staatsanwaltschaftlichen Beschluß außer Verfolgung gesetzt wurden, für die unschuldig Angeklagten, für die durch Beschlagnahme und Durchsuchung Geschädigten, für die durch Sicherheitsleistung mit Untersuchungshaft Verschonten und vor allem für die, deren Untersuchungshaft länger dauerte als die ihnen zuerkannte Strafe. Im Auslande haben ähnliche Gesetze: Schweden (12. März 1886), Norwegen (1. Juli 1887), Dänemark (5. April 1888), Ungarn (10. Dez. 1896). Vgl. v. Schwarze, Die Entschädigung für unschuldig erlittene Untersuchungshaft (Leipz. 1883); Kähler, Die Entschädigung für Strafe und Untersuchungshaft (Halle 1904) und die Kommentare zu dem Gesetz vom 14. Juli 1904 von Romen (Berl. 1904), Burlage (das. 1905), Lessing (Leipz. 1905) und Krause (Hannov. 1906).