[740] Tradition (v. lat. Traditio, Übergabe) 1) Handlung, wodurch der Besitz einer körperlichen Sache in der Absicht auf einen Andern übertragen wird, demselben ein dingliches Recht daran zu geben, s. Übergabe; 2) Überlieferung; bes. 3) die der geschriebenen Geschichte entgegengesetzte u. durch mündliche Überlieferung auf die Nachwelt fortgepflanzte Erzählung von Thatsachen, Begebenheiten etc.; 4) die christlichen Religionslehren, welche nicht in der Bibel ausdrücklich verzeichnet sind, sich aber durch mündliche Überlieferung in der Kirche erhalten u. fortgepflanzt haben. Schon in der alten Kirche suchte man die Häretiker nicht blos mit den Lehren der Schrift, sondern mit solchen mündlich fortgepflanzten, den Bischöfen von den Aposteln überlieferten Lehren zu bekämpfen, u. das Apostolische Symbolum entstand aus einer solchen T., welche sehr bald zu hohem Ansehen gelangte, u. bei der man sich auf die Übereinstimmung der rechtgläubigen Kirchenväter, wie auf die von einem Bischof auf den andern überge. henden Gaben des Heiligen Geistes berief. Das Concil zu Trident schrieb den T-en gleiches Ansehen, wie der Heiligen Schrift zu, u. man sah sie als eine göttliche Norm des Glaubens u. Lebens u. als eine nothwendige Ergänzung u. Erläuterung der Heiligen Schrift an. Die T-en finden sich nach der katholischen Lehre in den Schriften der Kirchenväter (Testes traditionum). In der Protestantischen Kirche wurde in den ersten Zeiten der Reformation die Lehre von der T. deshalb weniger bekämpft, weil man sich katholischer Seits nicht auf dieselben berief, sondern die Angriffe auf den katholischen Lehrbegriff durch die Schrift u. die Auctorität der Kirche zurückzuweisen suchte, so daß keine Veranlassung vorlag die Lehre von der T. in den Symbolischen Büchern besonders zu besprechen. Dagegen hält der symbolische Lehrbegriff an der Auctorität der Heiligen Schrift allenthalben fest u. verwirft deshalb alle Menschensatzungen (Traditiones humanae), theils solche, welche sich auf Gegenstände des Cultus u. von der Kirche gebotene gute Werke beziehen, sofern sie mit der Bibellehre u. mit der Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben nicht übereinstimmen, wogegen anderer Seits dieselben, wenn sie der Schrift nicht widersprechen, als zur Zucht u. Ordnung gehörend beibehalten werden können; theils solche von den Concilien u. der Kirche festgestellte Dogmen, welche sich nicht aus der Heiligen Schrift erweisen lassen, indem das Ansehen der Heiligen Schrift als letzter Instanz allenthalben festgehalten u. die Auctorität der Kirche derselben untergeordnet wird. Die Theologen der Römisch-Katholischen Kirche betrachten die T. zunächst als ein Mittel zur Feststellung des wahren Sinnes der Heiligen Schrift, wodurch allein der Veränderlichkeit der gelehrten Schriftauslegung u. den Abweichungen der Häretiker begegnet werden kann; sodann aber sehen sie in ihr eine Vervollständigung des Glaubensmaterials, indem sie Lehren enthält, welche die Schrift nur andeutet, od. auch gar nicht erwähnt, z.B. die beständige Jungfrauschaft der Maria, die Kindertaufe, das Fegefeuer etc. Sie begründen die Lehre von der T. vorzüglich damit, daß im Neuen Testament auf die apostolische Predigt eben so viel Gewicht gelegt werde, als auf die apostolische Schrift, welche durch die mündliche Predigt ergänzt wird; daß sich die Nothwendigkeit der T. aus einzelnen Stellen der Schrift erweisen läßt, z.B. 1 Kor. 11, 34. 2 Thess. 2,15; daß sich die ältesten Kirchenlehrer immer auf dieselbe berufen;[740] daß in sämmtlichen christlichen Kirchen Lehren u. Gebräuche gelten, welche sich nicht durch die Schrift begründen lassen (z.B. die Kindertaufe, die Feier des Sonntags statt des Sabbaths), u. daß aus dem Wesen einer kirchlichen Gemeinschaft der Werth der T. von selbst hervorgehe. Während früher in dieser Weise die T. von Bellarmin, Bossuet, Gallura näher begründet wurde, geschah dies neuerlich bes. durch Möhler, indem nach seiner Ansicht die T., gegenüber der subjectiven Überzeugung von den Lehren der Schrift in jedem Individuum, die objectiv christliche Lehre zugleich als den Glauben der Gesammtheit vermittelt. Dabei unterscheidet er, um den Traditionsbegriff von allem Accidentiellen u. Subjectiven frei zu machen, die Form der T., welche sich im Laufe der Zeit verändert, von dem Inhalt der T., welcher bleibt, u. bezeichnet mit den Anhängern seiner Schule die T. als den in der Kirche in steter Entwickelung sich fortbewegenden wissenschaftlichreligiösen Geist, durch welchen sie die Dogmatik in jeder Zeitperiode eigenthümlich gestalte.