Auswanderung

[157] Auswanderung heißt das freiwillige Aufgeben des Vaterlandes auf immer, um in einem andern Lande heimisch zu werden. Es unterscheidet sich demnach der Auswanderer wesentlich vom Verbannten, der gezwungen die Heimat verläßt, wie vom Emigranten, der in der Absicht auswandert, unter günstigen Umständen wieder zurückzukehren, und vom Colonisten, der zwar von der Regierung ausgesendet wird, um sich anderwärts anzusiedeln, ohne daß er deshalb aufhörte, Bürger seines frühern Vaterlandes zu sein. Von jeher gab es Menschen, welche ihr Vaterland verließen, um in der Fremde ihr Glück zu versuchen; doch alle Auswanderungen Einzelner dürfen auf ein allgemeines Interesse keinen Anspruch machen. Wenn dagegen Völker sich auf die Wanderschaft begeben oder wenn der Hang zum Auswandern bei einem Volke so vorherrschend wird, daß zahlreiche Familien ihren heimatlichen Heerd verlassen, um sich ein neues Vaterland zu suchen, so erhält ein solches Ereigniß welthistorische Bedeutung. Wir wollen hier weder von den Auswanderungen verschiedener Völkerschaften v. Chr. Geb., noch von der sogenannten Völkerwanderung im 4. Jahrh. n. Chr. und den Eroberungszügen der Saracenen, Normannen, alten Sachsen und anderer Völker reden, noch endlich von Denen, welche Aberglaube und Fanatismus auszuwandern nöthigten. Die Ursachen dieser Auswanderung kennt im 19. Jahrh. das gebildete Europa nicht mehr; wol aber sind andere an deren Stelle getreten, sodaß der Hang zum Auswandern auch in Deutschland bedeutend um sich greift.

Das Recht, auszuwandern, muß einem Jeden, der seine erbindlichkeiten gegen den Staat, welchem er bisher angehörte, erfüllt hat, zustehen. Auch können hierbei nur solche Verbindlichkeiten in Betracht kommen, deren Erfüllungszeit bereits gekommen ist. Wegen zukünftiger Militairpflichtigkeit dagegen kann rechtlicher Weise Keinem das Auswandern untersagt werden, so lange er die Jahre noch nicht erreicht hat, in welchen dieselbe eintritt. Mit Recht aber verlangt der Staat, daß der Auswanderer ausdrücklich auf das Heimatsrecht verzichte oder nachweise, daß er in einem andern Staate als Bürger aufgenommen werde, damit er nicht später zurückkehre und seinem Vaterlande zur Last falle. Auch muß in manchen Staaten der Auswanderer ein sogenanntes Abzugsgeld (s.d.) zahlen.

Die Hauptursachen der Auswanderungen sind: 1) Übervölkerung, welche dann vorhanden ist, wenn die Volkszahl zu der Größe des Landes in einem solchen Misverhältnisse steht, daß auch bei der besten und vollständigsten Benutzung der vorhandenen Hülfsquellen das Land seine Bewohner zu ernähren nicht mehr im Stande ist; 2) Nahrungslosigkeit, welche aus verwerflichen Staatseinrichtungen und falschen Regierungsmaßregeln, aus Verderbtheit und Arbeitsscheu des Volkes oder nicht abzuwendenden Zeitereignissen entsteht, und 3) allgemeines Misbehagen, welches oft mit der Nahrungslosigkeit dieselben Quellen hat und Hand in Hand geht, aber auch bei hinlänglichem Auskommen durch geistigen Druck, mannichfache Täuschungen und aus der Überzeugung erwächst, daß alles Hoffen auf eine bessere Zukunft vergeblich sei. Nur wenn die erste der angegebenen Ursachen vorhanden ist, sind die Auswanderungen zu befördern und planmäßig zu leiten; in allen übrigen Fällen aber muß man wo möglich die Ursachen zu entfernen suchen, welche die Auswanderungslust erzeugen. Wenn Nahrungslosigkeit in Folge nicht abzuwendender Zeitumstände entsteht, so bleibt, um das Auswandern zu verhindern, freilich nichts übrig, als daß die brotlos gewordenen Classen von den übrigen Staatsangehörigen so lange unterstützt werden, bis für sie wieder günstige Umstände eintreten oder Erwerbsquellen sich eröffnen. Im Übrigen aber wird der Auswanderungslust am Kräftigsten dadurch entgegengewirkt, daß von Seiten der Staaten die Fesseln, welche drückend auf Handel, Industrie und Gewerbe, besonders aber auf dem Landbau lasten, gelöst und freie Bewegung aller Glieder des Staats und freie Entwickelung aller Kräfte befördert werden. Kann der Arbeitende mit Sicherheit auf den Genuß der Früchte seiner Thätigkeit rechnen; findet eine verhältnißmäßig gleiche Vertheilung der Abgaben statt und werden dieselben nur zum Wohle des Staats und zu gemeinnützigen Zwecken verwendet; nimmt der Bürger im Staate eine solche Stellung ein, daß es ihm möglich wird, mit Rath und That das Gemeinwohl zu fördern; ist das Recht einer vernünftigen Rede- und Schreibfreiheit gesichert und Person und Eigenthum des Bürgers gegen alle Willkür und gesetzlose Verfolgung geschützt; tritt an die Stelle langjähriger Misbräuche eine einfachere, natur- und vernunftgemäßere Gestaltung der Verhältnisse; geht Das, was man schon längst für das Heilsamste erkannt hat, auch in die Gesetzgebung über und finden die Foderungen der Vernunft genügende Befriedigung, so wird froher Muth, Vertrauen und Vaterlandsliebe in die Herzen zurückkehren, Kopf und Hände werden munter die Arbeit fördern und keine Mühe und Anstrengung scheuen, glücklicher Erfolg wird die mit Liebe getriebene Arbeit krönen, Zufriedenheit ihren Sitz wieder unter den Völkern aufschlagen und alle Auswanderungslust von selbst schwinden.

In neuern Zeiten stieg wie in andern europ. Staaten, namentlich in Großbritannien, so auch in Deutschland, von Jahr zu Jahr die Zahl der Auswandernden. So zogen im J. 1833 über 30,000 Deutsche in die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Auch wanderten viele Deutsche nach Südamerika und nach Algier aus; allein die klimatischen Verhältnisse dieser Länder, sowie die Wildheit der Einwohner und deren Unduldsamkeit gegen alle Fremde ließen einen großen Theil derselben ihr Unternehmen mit dem Leben büßen und die meisten Andern es schwer bereuen. Nach den Steppen Rußlands dagegen, wohin seit 1815 insbesondere Elsasser, Schweizer, Rheinländer, Würtemberger und Badener durch Versprechungen der russ. Regierung zu gehen sich bewegen ließen, haben in der neuern Zeit die Auswanderungen nachgelassen. Überhaupt ist es nicht gerathen, in ein Land einzuwandern, welches in der Bildung noch hinter dem verlassenen Vaterlande zurück ist, da die Einwanderer [157] genöthigt sind, entweder auf ihrer Culturstufe stehen zu bleiben oder zu der der Urbewohner des Landes herabzusteigen und dann mit ihnen alle die Krisen zu bestehen, die im Vaterlande entweder sie oder ihre Vorfahren schon bestanden haben. Die Freistaaten Nordamerikas bieten jedenfalls für den deutschen Auswanderer die meisten Vortheile und Annehmlichkeiten dar. Erwerbsquellen gibt es in diesem jugendlichen Staate in Menge für Jeden, der arbeiten will und kann. Das Erworbene ist durch einen festen Rechtszustand gesichert und wird durch keine drückenden Abgaben geschmälert. Die Staatsverfassung schützt Jeden beim freien Gebrauche seiner Kräfte und Talente und jeder Bürger ist zur Theilnahme und Mitwirkung bei den öffentlichen Angelegenheiten berufen. Allein es fehlt diesem Lande der Hoffnungen auch nicht an Schattenseiten, die indeß weniger von Denen, welche die materielle Noth, als von den Auswanderern aus der gebildeten Classe, welche die Sehnsucht nach einem höhern Grade politischer Freiheit aus dem Vaterlande führt, zu berücksichtigen sind. Gesundheit des Körpers, Charakterstärke, Selbständigkeit der Gesinnung und Furchtlosigkeit sind im Allgemeinen die Eigenschaften, welche vorzugsweise der Auswanderer besitzen muß. Am Besten kommt der Bauer fort, welcher gewohnt ist, im Schweiße seines Angesichts sein Brot zu essen. Doch auch er bedarf nicht blos zur Reise, sondern auch zum Ankauf der Ländereien einer angemessenen Summe Geldes, ohne welche er sich keinen dauernden Wohlstand begründen kann und oft in schmähliche Knechtschaft zu verfallen Gefahr läuft. Für ihn eignen sich zu Niederlassungen namentlich die westl. Gegenden von Pennsylvanien und Neuyork, Obercanada, der nördl. Theil von Ohio, Indiania und Illinois und vorzugsweise das Michigangebiet. Das Klima ist dort dem deutschen nicht so unähnlich und Grund und Boden gut und billig. Das Michigangebiet schließt die schönsten Wiesen in sich und zahlreiche Staatsländereien, welche noch käuflich sind und von denen der Acker (40,000 Fuß) mit 11/4 Dollar (ungefähr 1 Thlr. 18 Gr.) bezahlt wird. An der bedeutenden Handelsstadt Neuyork, mit welcher es durch Wasserstraßen in Verbindung steht, hat es einen nicht zu fernen Markt für die erzeugten Producte und gewinnt mit jedem Jahre an Leben und Verkehr. Die Empfehlungen von Missouri, Arkansas, Kentuky, Alabama, Florida, Texas u.s.w. fließen meist aus trüben Quellen. Am Vortheilhaftesten wird es für den Einwanderer sein, wenn er Ländereien, welche bereits theilweise urbar gemacht sind, zu kaufen sucht; auch wird er wohlthun, sich zuvor nach dem Rechtstitel bei einem geschickten Anwalt des Districts zu erkundigen, damit er nicht betrogen werde. Weniger ängstlich braucht er beim Ankauf von Staatsländereien zu sein. Bauern und Handwerkern, welche kein Anlagecapital besitzen, sind die Seestädte vorzugsweise zu Aufenthaltsorten anzurathen, weil ihnen hier die meiste Gelegenheit gegeben ist, durch Hand- und Tagelohn in Fabriken, beim Anlegen von Eisenbahnen und beim Kanalbau ihr Brot zu verdienen. Unter den Handwerkern kommen Diejenigen am besten fort, welche für die nothwendigen Bedürfnisse des Lebens arbeiten, als Schneider, Schuhmacher, Tischler, Zimmerleute, Schmiede, Wagner, Gerber, Hutmacher, Sattler u.s.w. Schlosser- und ähnliche Waaren werden bis jetzt noch aus England eingeführt, weil sie sich im Lande selbst nicht so billig herstellen lassen, weshalb diese Profession nicht sehr in Aufnahme ist. Künstler, z.B. Maler und Bildhauer, stehen sich in Amerika, wo man überall auf Ersparung denkt und allen Luxus meidet, schlecht; gesucht dagegen sind Baumeister und Ingenieurs, sowie geschickte Zeichner, Lithographen, Kupferstecher u.s.w. Auch praktische Mechaniker und Chemiker finden bei dem raschen Fortschreiten des amerikan. Fabrikwesens leicht Beschäftigung; doch müssen sie der engl. Sprache mächtig und mit den Geschäftsverhältnissen einigermaßen bekannt sein. Bergbau, besonders auf Steinkohle, wird etwa 100 M. nördl. von Philadelphia getrieben und es kann dort, da es noch an Bergleuten fehlt, der fleißige Bergmann sein reichliches Auskommen finden. Mit dem Handel sich zu befassen, hat für den Ausländer viele Schwierigkeiten. Handlungsdiener finden blos in den Seestädten ein anständiges Unterkommen. Für Militairs, deutsche Rechtsgelehrte und Prediger ist in Amerika sehr wenig Aussicht. Ärzte finden in den Städten eine sehr einträgliche Praxis; auf dem Lande aber hat sie wegen der Zerstreutheit der Wohnungen viel Unbequemlichkeiten und wird durch eine Menge Quacksalber sehr beeinträchtigt. Auch Apotheker werden in großen Städten sehr gesucht. Gelehrte, welche die engl. Sprache gut verstehen und Unterricht in Sprachen, Naturwissenschaften und Mathematik ertheilen, finden durchgehend ihr reichliches Auskommen und oft sehr gute Anstellungen. Musik- und Zeichnenunterricht ist besonders in den Seestädten sehr gesucht. Ein vielseitig wissenschaftlich gebildeter Mann kann deshalb stets auf die eine oder andere Weise sein hinlängliches Auskommen finden. Liederliche, träge und lasterhafte Menschen können aber in Amerika ebenso wenig als in Europa den Folgen ihrer Lebensweise, der Schande und dem Mangel, entgehen.

Die Art und Weise, wie die Auswanderungen betrieben werden, ist sehr verschieden. Meist bildeten sich Gesellschaften, welche durch gemeinschaftliche Veranstaltungen ihren Zweck zu erreichen suchten, so die schweizer, rhein., hessische, giesener, mühlhauser, die sächs. Gesellschaft u.s.w. Die Gemeinschaft, in welche die Glieder treten, kann mehr oder weniger innig sein, ja bis zur gänzlichen Gütergemeinschaft steigen und sich auf das ganze Leben erstrecken. Doch sind die Beiträge, welche einige dieser Gesellschaften zur gemeinschaftlichen Kasse, aus welcher die Reisekosten, der Ankauf der Ländereien u.s.w. bestritten werden, in Anspruch nehmen, nicht unbedeutend. Eine zu große Gemeinschaft dürfte übrigens durchaus nicht als zweckmäßig erscheinen, denn gar zu leicht gibt sie zu Zwist und Uneinigkeit Veranlassung. Am Gerathensten möchte es sein, auf gemeinschaftliche Kosten nur einen zuverlässigen und der Sache kundigen Mann vorauszuschicken, welcher die Überfahrt zu besorgen, zum Empfange der Gesellschaft die nöthigen Veranstaltungen zu treffen und über die geeignetsten Orte zur Niederlassung Nachrichten an Ort und Stelle einzuziehen hat. Eine große Menge Geräthschaften und Sachen mitzunehmen, ist nicht rathsam; doch ist es vortheilhaft, sich mit dem nothwendigsten Hausgeräthe, Kleidungsstücken und Wäsche zu versehen, da diese Gegenstände, die man doch sogleich braucht, in Amerika ziemlich theuer sind. Dasselbe gilt auch von manchen Handwerkszeugen und metallenen Hausgeräthschaften. Ackergeräthe aber findet man in Amerika meist weit zweckmäßiger eingerichtet, als in Deutschland. Die geeignetsten Häfen zur Einschiffung deutscher Auswanderer nach Amerika sind [158] Havre, Amsterdam und Bremen; die besten Landungsplätze Neuyork, Philadelphia und Baltimore. Am Günstigsten zur Überfahrt ist die Zeit vom Apr. bis Jun., oder auch im Herbst, wenn die Äquinoctialstürme vorüber sind. In der Regel verdingen sich die Auswanderer auf dem Schiffe in die Kost, doch ist es dessenungeachtet gut, sich für den Nothfall noch mit einigen Lebensmitteln zu versehen. Nach der Landung in Amerika muß man suchen, so schnell als möglich an den Ort seiner Bestimmung zu kommen. Zuvor aber sichere man sich den Schutz der Gesetze dadurch, daß man vor einem Gericht die Erklärung niederlegt, in den Vereinigten Staaten Bürger werden zu wollen. Mit dem neuen Bürgerthume ziehe man die unbefangene und vorurtheilsfreie Denkweise des unabhängigen Amerikaners an, hüte sich aber wohl, die deutsche Genügsamkeit und Arbeitsamkeit, Redlichkeit und Treue abzulegen.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1837., S. 157-159.
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