[571] Finanzwesen. Das Wort Finanz stammt aus dem Latein des Mittelalters. Im 13. und 14. Jahrh. verstand man unter finatio, financia, auch wohl financia pecuniaria eine schuldige Geldleistung. Diese Ausdrücke werden gewöhnlich hergeleitet von finis, Ende, Abschluß, Zahlungstermin. Manche halten den Stamm des Wortes Finanz für germanisch; sie deuten entweder hin auf das englische fine, Geldbuße, Privilegientaxe etc. als frühere Haupteinnahmequellen, oder auf »finden« (schwedisch finna), »erfinderisch«, ränkevoll. Das Wort Finanzen hatte früher in der Tat eine schlimme Nebenbedeutung, wie denn C. Schottelius (»Von der teutschen Hauptsprach«, 1663) und Sebastian Brant in seinem »Narrenschiff« dasselbe als gleichbedeutend mit Untreue, Haß, Schinderei bezeichnen. Dies ist darin begründet, daß die Finanzverwaltungen oft den Charakter der Plusmacherei trugen, worunter nach Zinckens »Kameralistenbibliothek« »nichts als ausschweifende und in der Tat schädliche Erhöhungen der Intraden oder listige Erfindung neuer Abgaben« zu verstehen sind. Seit den Zeiten Ludwigs XIV. gewann das Wort eine andre Bedeutung: finance bedeutete eine Einnahme des Staates, les finances das Staatsvermögen, die Lage des Staatshaushalts. In diesem Sinne wird das Wort heute allgemein auf alle politischen Gemeinwesen (Staats-, Gemeindefinanzen) angewendet. Zur Erhaltung seiner Existenz und zur Durchführung seiner Aufgaben (Gewährung von Schutz, Aufrechthaltung der allgemeinen Ordnung, Förderung der Gesamtwohlfahrt) braucht der Staat Sachgüter und persönliche [571] Leistungen, die zusammen den Staatsbedarf ausmachen. Ein Teil desselben wird unentgeltlich gedeckt (Ehrenämter, Wehrpflicht etc.), für den größten Teil aber ist Vergütung nötig, die heute in Geld gewährt und, wo dies auch nicht der Fall, doch in Geld bemessen und verrechnet wird. Aufgabe der Finanzverwaltung (auch oft Staatshaushalt genannt) ist es nun, die für Erfüllung des Staatszweckes erforderlichen Geldmittel beizuschaffen, sie bis zur Verwendung bereit zu halten und zu ihrer Bestimmung überzuführen, während die Finanzwissenschaft die Grundsätze und Regeln systematisch darzustellen hat, die bei Aufbringung und Verwaltung dieser Mittel anzuwenden sind. Die Lehrbücher der Finanzwissenschaft handeln zwar auch von den Staatsausgaben. Dies geschieht jedoch nur so weit, als ein Eingehen auf die Technik nicht nötig ist und der Zusammenhang zwischen Einnahmen und Ausgaben Darstellung und Unterscheidung von Hauptkategorien der letztern erheischt. Die Finanzpolitik ist der Inbegriff der praktischen Bestrebungen nach der besten Einrichtung der Finanzen, als Wissenschaft ist sie die Lehre von einer solchen Ordnung der Finanzen. Diese Ordnung erfolgt auf Grund der Finanzgewalt oder der, Finanzhoheit, d. h. der Befugnis des Staates, selbständig seine Finanzverwaltung einzurichten und seine Finanzen zu ordnen. Sie wird erleichtert an der Hand der Finanzgeschichte und der Finanzstatistik, insbes. der vergleichenden Finanzstatistik, die sich mit der meist sehr schwierigen Gegenüberstellung wirklich vergleichbarer Tatsachen des Finanzwesens verschiedener Zeiten und Länder befaßt. Der Inbegriff der auf das F. bezüglichen Rechtssätze eines Landes ist dessen Finanzrecht, das in einen verfassungsrechtlichen und in einen verwaltungsrechtlichen Teil zerfällt. Der erstere begreift das Budgetrecht, die Ministerverantwortlichkeit, überhaupt die das Zustandekommen und die gesetzliche Gültigkeit des Budgets betreffenden Bestimmungen in sich, der letztere bezieht sich auf die Einrichtung der Behörden und auf das den einzelnen Bürger durch Einräumung eines Beschwerde- und Klagerechts gegen Willkür schützende Rechtsverhältnis zwischen diesem und der Finanzgewalt. In Streitigkeiten privatrechtlicher Natur, in denen der Staat in seiner Eigenschaft als Fiskus auftritt, entscheiden die Bestimmungen des allgemeinen bürgerlichen Rechts.
Die Wirtschaft des Staates unterscheidet sich auf dem Gebiete der Finanzverwaltung von derjenigen der Privaten einmal durch die Art des Erwerbs; eine größere Zahl privater Erwerbsarten ist für den Staat mit seiner Beamtenwirtschaft ungeeignet, während die heutige vornehmste Erwerbsart des Staates, die Steuer, die nach Bedarf aufgelegt wird, dem Privaten verschlossen ist. Dem Privaten sind in der Ansammlung von Vermögen keine rechtlichen Schranken gesetzt, der Staat dagegen soll im Interesse einer gerechten Lastenverteilung und wegen der Schwierigkeit wirtschaftlicher Verwertung Erwerbsvermögen nur in Fällen sammeln, in denen die private Ausbeutung von Erwerbsquellen nicht dem Gesamtinteresse entspricht. Der übliche Satz: beim Staat müsse sich die Einnahme nach den Ausgaben richten, beim Privaten sei es umgekehrt, hat nur eine beschränkte Gültigkeit, die sich insbes. auf die formelle Anordnung des Budgets bezieht, indem innerhalb der Grenzen der nach der Gesamtlage verfügbaren Mittel die Einnahmen nach den (nötigen) Ausgaben bestimmt werden. Zu deo Staatsausgaben im weitern Sinne gehören alle wirklichen Hinauszahlungen (Staatsausgaben im engern Sinn), alle unvergoltenen Leistungen für Staatszwecke (sogen. versteckte Einnahmen, bez. Ausgaben), ferner alle in der Staatsverwaltung selbst erzeugten und wieder verwandten, demgemäß auch zu verrechnenden Güter. Ost unterscheidet man produktive und unproduktive Ausgaben, indem unter jenen solche verstanden werden, die für Zwecke der Wirtschaftsförderung oder für Schaffung von Sachgütern gemacht werden, unter den unproduktiven solche, welche die Sachgütererzeugung wenigstens nicht direkt mehren. Doch können produktive Ausgaben recht unwirtschaftlich, unproduktive dagegen sehr wirtschaftlich sein. Wichtiger ist die Einteilung inordentliche und außerordentliche Ausgaben. Erstere sind solche, die dazu dienen, regelmäßig wiederkehrende Bedürfnisse zu befriedigen. Sie können ihrer Höhe nach gleichbleiben (ständige Ausgaben) oder schwanken (nicht ständige Ausgaben). Die außerordentlichen Ausgaben dienen zur Befriedigung von Bedürfnissen, die unperiodisch, meist überhaupt nur einmal auftreten, und zu deren Deckung demnach auch außerordentliche Mittel (außerordentliche Steuern, Verwendung des Staatsschatzes, Verkauf von Staatsgütern, Ausgabe von Papiergeld, Anleihen) erforderlich sind. Eine einzelne Ausgabe (Reparatur eines Gebäudes) kann vollständig den Charakter einer außerordentlichen tragen, während die Gesamtsumme (jährliche Ausbesserung bei allen Gebäuden) zu den ordentlichen Staatsausgaben zu rechnen ist. Wie bei den Ausgaben, so sind auch bei den Einnahmen des Staates die ordentlichen, die einer regelmäßigen Wiederholung fähig sind, und die außerordentlichen, die nur einmal fließen, zu unterscheiden. Die Einnahmequellen sind heute fast ausschließlich heimische. Ordentliche vom Ausland getragene Einnahmen kamen früher in Form von Tributen, Durchgangszollen etc. vor, heute im wesentlichen nur dann, wenn es gelingt, Einfuhrzölle auf das Ausland abzuwälzen. Man teilte diese Quellen bislang meist ein in: Domänen, Regalien, Gebühren und Steuern. Dann werden vielfach lediglich die Erwerbseinkünfte (Privaterwerb mit Zulassung, Beschränkung oder Ausschließung der freien Konkurrenz) den Gebühren und Steuern gegenübergestellt. Im allgemeinen kann man unterscheiden:
1) Auf privatrechtlichem Titel beruhende, von Dritten ohne Entgelt bezogene Einnahmen. Dieselben sind heute in den meisten Staaten von keiner Bedeutung mehr.
2) Einnahmen aus gewerblicher Tätigkeit und Staatsvermögen. Dieselben tragen z. T. einen privatwirtschaftlichen Charakter. Dies ist besonders dann der Fall, wenn der Erwerb des Staates ganz unter dem Einfluß der freien Konkurrenz steht (echte Domanialeinnahmen.) Die freie Konkurrenz kann aber auch durch Monopolisierung oder Regalisierung ausgeschlossen sein. Erfolgt die Monopolisierung lediglich im finanziellen Interesse, so ist die durch dieselbe bewirkte Mehreinnahmeals Steuer zu betrachten; liegen ihr aber anderweite Rücksichten zugrunde, ist die Einnahme Nebenzweck, so bildet, da hier staats- und privatwirtschaftlicher Charakter meist vermischt sind, die Einnahmequelle einen Übergang zu den
3) Vergütungen für echt staatswirtschaftliche Leistungen. Dieselben sind Gebühren, soweit sie die Kosten decken. Werden diese Leistungen als Mittel benutzt, um höhere Einnahmen zu erzielen, so gehört der Mehrbetrag zur folgenden Kategorie, nämlich zu den
4) Einnahmen aus Steuern. Hierzu kommen noch
5) verschiedene Einnahmen, die sich den vorgenannten Kategorien nicht unterordnen lassen, wie Einnahmen aus Schenkungen, herrenlosen Sachen, Strafgeldern, Tributen etc.
Ebensowenig, wie es je eine scharfe Grenze zwischen staats- und privatwirtschaftlichem Gebiet gibt, lassen[572] sich auch die verschiedenen Einnahmequellen des Staates streng voneinander scheiden.
Die Frage der besten Organisation des Finanzwesens, ob z. B. eine allgemeine Zentralverwaltungsstelle vor mehreren Direktionen für die einzelnen Hauptverwaltungszweige, ob das Kollegial- oder bureaukratische System den Vorzug verdiene, und welche Formen der Wechselwirkung zwischen den Finanzstellen unter sich und mit den übrigen Verwaltungsbehörden festzusetzen seien etc.: dies alles hängt von den besondern Verhältnissen des Staates, von seiner Größe, vom Umfang seines Domänenbesitzes, von der Beschaffenheit seiner Haupteinnahmequellen und Ausgaben, im allgemeinen endlich, wegen der Wechselwirkung zwischen dem F. und den übrigen Verwaltungszweigen, auch von der Organisation der letztern ab. Erfordernis eines guten Staatshaushalts ist ein wohlgeregeltes Kassenwesen. Damit die zu verwendenden Gelder stets in Bereitschaft seien und eine klare Übersicht über sämtliche Einnahmen und Ausgaben ermöglicht werde, muß eine General- oder Hauptkasse den gemeinschaftlichen Mittelpunkt sämtlicher Staatskassen bilden, so daß diese nur Abzweigungen jener bilden. Im Interesse von Ordnung und Kontrolle ist die Ausstellung eines für einen bestimmten Zeitraum (Finanzperiode) geltenden Finanzgesetzes (s.d.), eines Hauptfinanzplans und eines allgemeinen Voranschlags der in dem nächsten Finanz- oder Verwaltungszeitraum teils bestimmt, teils vermutlich zu erwartenden Staatseinnahmen und-Ausgaben (Budget, s.d.) erforderlich. Über die Finanzen der einzelnen Staaten geben die betreffenden Artikel Auskunft. Die erste ausführliche und methodische Behandlung der Finanzwissenschaft in Deutschland ist Justis »System des Finanzwesens« (Halle 1766); aus der neuern Literatur vgl. Malchus, Handbuch der Finanzwissenschaft u. Finanzverwaltung (Stuttg. 1830, 2 Bde.); Rau, Lehrbuch der politischen Ökonomie, Bd. 3; jetzt durch ein selbständiges Werk von Adolf Wagner ersetzt (bisher 4 Bde., Leipz. 18771901); L. v. Stein, Lehrbuch der Finanzwissenschaft (5. Aufl., das. 188586, 4 Bde.); Roscher, System der Finanzwissenschaft (4. Aufl., das. 1894; 5. Aufl., hrsg. von Gerlach, das. 1901); G. Cohn, System der Finanzwissenschaft (Stuttg. 1889); die einschlägigen Abteilungen in Schönbergs »Handbuch der politischen Ökonomie« (4. Aufl., Tübing. 189698); Umpfenbach, Lehrbuch der Finanzwissenschaft (2. Aufl., Stuttg. 1887); Eheberg, Finanzwissenschaft (7. Aufl., Leipz. 1903); Conrad, Grundriß zum Studium der Finanzwissenschaft (3. Aufl., Jena 1903); Vocke, Grundzüge der Finanzwissenschaft (Leipz. 1894); P. Leroy-Beaulieu, Traité de la science des finances (6. Aufl., Par. 1899, 2 Bde.); Garnier, Traité de finances (4. Aufl., das. 1882); Léon Say, Dictionnaire des finances (Nancy 188794, 2 Bde.); Méliot, Dictionnaire financier international (das. 1899); »Finanzarchiv« (hrsg. von Schanz, Stuttg. 1884ff.); Stammhammer, Bibliographie der Finanzwissenschaft (Jena 1903).
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