Gotische Sprache

[169] Gotische Sprache, die Sprache derjenigen Völker, die im 2. Jahrh. n. Chr. an der Weichsel bis gegen die Donau wohnten und der großen Verbindung der Goten angehörten oder diesen verwandt waren. Die g. S. bildete einen Hauptzweig der Germanischen Sprachen (s. d.). (Das schwedische Gotland darf nicht mit den Goten in Zusammenhang gebracht werden, beide Völkernamen sind in ihrer Form ursprünglich verschieden; in gotischer Sprache würde die skandinavische Völkerschaft Gautôs heißen, während Gutans der Name der Goten war.) Die Spaltung des großen Gotenstammes in mehrere Völkerschaften (Ost- und Westgoten, Gepiden) können wir sprachlich nicht genauer verfolgen, da unsre zusammenhängenden Überlieferungen allein auf die Westgoten zurückgehen; doe dialektischen Verschiedenheiten müssen aper sehr geringfügig gewesen sein, da die westgotische Bibelübersetzung ohne weiteres auch bei den Ostgoten in Italien in Gebrauch genommen wurde. Die nicht sehr umfangreichen Überreste der gotischen Sprache, die wir noch besitzen, sind für die Sprachforschung eia höchst wertvoller Schatz, denn von keiner andern germanischen Sprache sind gleich alte Quellen vorhanden. So liegt zwischen den ältesten Denkmälern unserer hochdeutschen Sprache und den gotischen Denkmälern ein Zwischenraum von nahezu 400 Jahren. Die wichtigsten Reste sind die Bruchstücke der gotischen Bibelübersetzung des Ulfilas (gest. 381/382 n. Chr.). Sie bestehen in bedeutenden Fragmenten der vier Evangelien, die der »Codex argenteus« (jetzt in Upsala) enthält, in Bruchstücken der Paulinischen Briefe an die Römer, die Korinther, Galater, Epheser, Philipper, Kolosser, Thessalonicher, an Timotheus, Titus und Philemon. Aus dem Alten Testament sind nur spärliche Bruchstücke des Buches Nehemia übriggeblieben. Außerdem sind noch Bruchstücke einer Auslegung des Evangeliums Johannis, einige Urkunden aus den Zeiten Theoderichs d. Gr., das Bruchstück eines gotischen Kalenders und einige unzusammenhängende Zeilen und Namen vorhanden. Zwar berichten die griechischen Schriftsteller, daß Ulfilas das gotische Alphabet erfunden habe; doch wissen wir jetzt, daß diese Tätigkeit des Ulfilas nur darin bestand, daß er das griechische Alphabet der gotischen Sprache anpaßte, indem er fehlende Zeichen aus dem Runenalphabet, z. T. auch aus der lateinischen Schrift, herübernahm.[169]

Die gotischen Schriftzeichen sind folgende:

Tabelle

Zur Aussprache dieser Zeichen ist noch zu bemerken: das z wird wie das tönende s oder z des Französischen, z. B. in jaser, zéro, gesprochen; þ hat die Aussprache des englischen th, wobei die Zungenspitze von unten an die obere Zahnreihe gepreßt wird; x, das nur in Fremdwörtern, nicht in echt gotischen erscheint, klingt wie ch; ƕ ist eine enge Vereinigung von h und w. Die Verbindung ei ist nicht diphthongisch zu sprechen, sondern bezeichnet einfaches langes i. Die Verbindungen ai und au haben doppelten Lautwert: sie vezeichnenDiphthonge in den Wörtern, die im eigentlichen Deutschen ebenfalls Diphthonge oder lange Vokale enthalten, z. B. ains = ein, haitan = heißen, sair, der Schmerz, vgl. sehr; daupjan = taufen, dauþus = Tod; wenn dagegen in den übrigen deutschen Mundarten kurze Vokale entsprechen, so wird ai als e, an als o gesprochen, z. B. airþa = Erde, wairpan = werfen, haurn = Horn, auhsa = Ochse. Immerhin beweist die Große des Werkes, da die Bibel wohl ganz übersetzt worden ist, sodann der Umstand, daß man selbst Erklärungen der biblischen Schriften in gotischer Sprache besaß, und besonders auch die Pracht, mit welcher der »Silberne Kodex« geschrieben ist, daß die Goten schon eine Literatur hatten und die Kunst zu lesen sich nicht auf wenige Individuen beschränkte. Doch waltete ein unglückliches Los über dieser so schonen Sprache. In Italien verschwand sie nach dem Fall der Goten bis auf die geringen Spuren, die sie in Eigennamen zurückgelassen hat (vgl. Wrede, Über die Sprache der Ostgoten in Italien, Straßb. 1891); in Spanien scheint sie bei den Westgoten durch die überwiegende einheimische Bevölkerung schon lange vor der Eroberung des Landes durch die Araber gänzlich unterdrückt worden zu sein, so daß auch hier nur noch einige Namen Zeugnis-von ihr ablegen. Dagegen haben sich in der Krim Überreste einer schon früh dahin versprengten Gotenabteilung bis in die neuere Zeit erhalten. Diese sogen. Gothi Tetraxitae oder Krimgoten hatten noch bis ins 16. Jahrh. ihre Sprache bewahrt, von der uns durch die damals gemachten Aufzeichnungen des Ogier Ghiselin de Busbecq (s. d.) beachtenswerte Reste überliefert sind. Die Krimgoten sind später tatarisiert worden, und ihre Nachkommen wurden im 18. Jahrh. unter Suworows Leitung in die Gegend des Asowschen Meeres verpflanzt. Ausführliche Nachweisungen darüber gab Maßmann im 1. Band von Haupts »Zeitschrift für deutsches Altertum« (1841). Vgl. Tomaschek, Die Goten in Taurien (Wien 1881); F. Braun, Die letzten Schicksale der Krimgoten (Petersb. 1890); R. Loewe, Die Reste der Germanen am Schwarzen Meere (Halle 1896).

Die g. S. zeigt eine große Durchsichtigkeit der Laut- und Formenlehre. An Formenreichtum kommt ihr keine andre germanische Sprache gleich. Sie hat z. B. im Verbum und Pronomen noch den Dualis; in der Verbalflexion ist das Mediopassiv in genauer Übereinstimmung mit dem Griechischen erhalten, freilich nur im Präsens. Der Reichtum an Bildungssilben, der das Gotische vor dem Althochdeutschen und noch mehr natürlich vor dem Neuhochdeutschen auszeichnet, tritt uns klar vor Augen, wenn wir z. B. das gotische habaidêdeima vergleichen mit dem identischen althochdeutschen habêtîm, neuhochdeutsch »(wir) hätten«. In manchem freilich ist das Gotische im Nachteil gegen andre germanische Sprachen, es fehlt ihm z. B. der Instrumentalis, den das Althochdeutsche noch besitzt. Die gotische Syntax zeigt sich in Ulfilas' Bibelübersetzung teilweise durch die griechische beeinflußt, und so gilt es bei ihrer Betrachtung, das germanische Element von den griechischen Einwirkungen zu sondern, ehe man darauf das Gebäude der historischen Syntax der germanischen Sprachen gründen kann. Die Kenntnis der gotischen Sprache in neuerer Zeit datiert vom Bekanntwerden des »Codex argenteus« in der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. Der erste, der der gotischen Sprache ein gründlicheres Studium widmete, war der Niederländer Franz Junius. Außer seiner Ausgabe des »Codex argenteus« (1665) lieferte er auch schon grammatische und lexikalische Arbeiten über das Gotische. Auch die gotische Grammatik wurde durch die eingehende Behandlung, die ihr Grimm in seiner »Deutschen Grammatik« zuteil werden ließ, auf einen ganz neuen Standpunkt gestellt. Von spätern Werken sind zu nennen: die ausführliche gotische Grammatik von Gabelentz und Löbe (Bd. 2, Abtlg. 2 ihrer Ausgabe des Ulfilas, Leipz. 1846) sowie die mehr sprachvergleichende Behandlung in dem Buch von Leo Meyer: »Die gotische Sprache« (Berl. 1869). Das ausführlichste Wörterbuch der gotischen Sprache lieferte Ernst SchulzeGotisches Glossar«, Magdeb. 1848); in sprachvergleichender Hinsicht ist zu empfehlen: Uhlenbeck, Etymologisches Wörterbuch der gotischen Sprache (2. Aufl., Amsterd. 1900). Zur Einführung in das Studium des Gotischen eignet sich besonders die Ausgabe des Ulfilas von Stamm (10. Aufl. von Heyne und Wrede, Paderb. 1903), die auch eine kurze Grammatik und ein Wörterbuch der gotischen Sprache enthält, und die »Gotische Grammatik« von W. Braune (5. Aufl., Halle 1900).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 8. Leipzig 1907, S. 169-170.
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