[196] Evangelĭum (griech.), eigentlich »frohe Botschaft«, jetzt gewöhnliche Bezeichnung eines der vier schriftlichen Berichte, die das Neue Testament über Leben und Reden, Taten und Leiden Jesu von Nazareth als des Messias enthält, auch wohl für alle vier als Gesamtheit. Dem Gebrauch des Wortes im Neuen Testament liegt die Stelle Jes. 61,1 zu Grunde, der Jesus selbst den so glücklichen Ausdruck zur Bezeichnung des Inhalts und des Zweckes seines öffentlichen Auftretens entnommen hat (Luk. 4,18). So bildet das Wort seitdem überhaupt den bezeichnenden Titel für alles, was der Welt im Christentum dargeboten werden sollte. Es bedeutet die Freudenbotschaft von dem genahten Gottesreich (Mark. 1,15), aber in unsern Evangelien selbst bereits auch spezieller den Bericht von der Stiftung dieses Gottesreichs, vom Messias, seinem Auftreten und seinen Geschicken (Mark. 14,9), während Paulus unter E. die ihm eigentümliche Verkündigung von dem Heilswert des Kreuzestodes Jesu versteht (1. Kor. 15, 14). Dagegen heißen unsre schriftlichen Berichte noch zu Zeiten des um 150 schreibenden Märtyrers Justinus zwar auch bereits »Evangelien«, gewöhnlich aber nennt er sie »apostolische Denkwürdigkeiten«. Während aber er selbst und die christlichen Schriftsteller vor ihm neben unsern kanonisch gewordenen ganz unbefangen auch solche Evangelien gebrauchen, welche die Kirche später als apokryphisch und häretisch verworfen hat, steht die Vierzahl der neutestamentlichen Evangelien bereits bei Irenäus (s.d.) fest, der sie auch nicht mehr als »Denkwürdigkeiten der Apostel« von menschlicher Entstehungsweise und relativ zufälligem Inhalt, sondern als inspiriertes und unfehlbares Gotteswort betrachtet.
Über die Entstehungsweise der Evangelien läßt sich nur Allgemeines mit einer gewissen Sicherheit feststellen. Jesus selbst hat den Seinigen keinen Buchstaben hinterlassen, und diese großartige Sorglosigkeit um das Geschick seiner neuen Reichspredigt hat ihn nicht betrogen. Offenbar waren es zunächst »Reden des Herrn«, die sich fortpflanzten: Aussprüche von so tendenziöser Kürze, von so schlagendem Ausdruck, von so populärer Klarheit, wie namentlich die Bergpredigt sie perlenartig aneinander gereiht hat. Schon in den Briefen des Paulus blickt an mehr als einem Orte die Bekanntschaft mit diesem ältesten Inhalt aller Überlieferung durch, während er von Tatsachen des Lebens Jesu bloß die Abendmahlsstiftung, den Kreuzestod und die Auferstehung erwähnt. Ja, auch diese wenigen Tatsachen kommen nicht insofern zur Sprache, als sie etwa für den geschichtlichen Forschersinn, sondern bloß, sofern sie für den Glauben von Belang sind. Erst allmählich erwachte am religiösen Interesse auch das geschichtliche, und von der Leidensgeschichte, die sich dem Gedächtnis der ersten Gemeinden am tiefsten und treuesten eingeprägt hatte, rückwärts gehend, bildete sich allmählich eine zusammenhängendere Anschauung von der galiläischen Wirksamkeit des Messias. Abgerissene Einzelbilder sammelten sich zuerst nur gruppenweise, gliederten sich aber allmählich einem großen und in der Hauptsache in sich abgeschlossenen Zusammenhang von Lebens- und Sterbensschicksalen Jesu ein. Aber zu einer feststehenden Vorstellung von dem Verlauf der sogen. evangelischen Geschichte konnte es erst kommen, als von den Aposteln und unmittelbaren Jüngern Jesu einer nach dem andern die Bahn des Todes wandelte und bald keiner mehr da war, der, alle schriftstellerischen[196] Bemühungen überglüssig machend, aus eigner Anschauung hätte berichten können über »die ganze Zeit, die der Herr Jesus unter uns ist aus- und eingegangen« (Apostelgesch. 1,21). Jetzt erst setzte sich die schwankende mündliche Überlieferung immer durchgängiger in eine schriftliche um, wobei naturgemäß die schon sagenhaft angehauchte Erinnerung eine willkommene Ergänzung durch je länger, desto bewußter auftretende Kunstbildung fand. Diese Schriftsteller wollten in erster Linie nicht erzählen, sondern erbauen und belehren, und es ist in zahlreichen Fällen fast unmöglich, zu unterscheiden, was eigentliche Geschichtserzählung, was naive Legende, was bewußterweise lehrhafte Darstellung sein soll. Jedenfalls entspricht nichts so sehr dem die ganze Bibel durchwehenden Geiste des Morgenlandes als dieser überall bemerkbare und oft in entscheidender Weise durchschlagende Trieb unsrer Evangelien, die Erzählung zum Sinnbild und Träger höherer religiöser und sittlicher Wahrheit umzugestalten. War es zunächst nur unwillkürlich sich geltend machender Einfluß des alttestamentlichen Messiasideals (vgl. namentlich Jes. 29,18f.; 35,5f.; 42,7), was einen duftigen Schleier von mythischer Darstellung über die evangelische Geschichte warf, so wurde daraus mit der Zeit zweckvolle Nachahmung dessen, was die alttestamentlichen Geschichtsbücher, die unsern Evangelisten als Vorbilder ihrer Schriftstellerei vorschwebten, von Moses, Elias, Elisa u. a. zu erzählen hatten. Die Verfasser dieser Berichte standen nun einmal mitten im jüdischen Lebenskreis und lebten und webten in jenen Bildern, Anschauungsformen und Erzählungen, abgesehen davon, daß ihr eigner Glaube die Forderung stellte, daß in dem Messias erfüllt und überboten werde, was das Alte Testament von jenen Gottesmännern zu erzählen wußte. Noch sind die alttestamentlichen Vorbilder, die hier bald buchstäblich wiederholt, bald gesteigert werden, mit Fingern nachweisbar. So ist bei der ganzen urchristlichen Schriftstellerei der praktische Gesichtspunkt des Glaubens und der besondern Glaubensrichtung stets mit beteiligt. Denn das Bild Jesu selbst wurde von verschiedenen Richtungen verschieden aufgefaßt, und für diese letztern ergab sich die Aufgabe, aus dem vorhandenen Stoff eine passende Auswahl zu treffen, zweckentsprechende Zusätze zu machen und je nach Bedürfnis selbständige Umbildungen eintreten zu lassen. So hat der Ultrapauliner Marcion um das Jahr 140 unser drittes E. noch paulinischer gemacht, als es im Unterschied vom Matthäus-E. schon war, während umgekehrt das letztere, anerkanntermaßen judenchristlichen Geist atmende Werk von seiten der Ebioniten (s.d. und Nazarener) eine Umarbeitung erfahren hat, in der sein ursprünglicher Charakter gleichfalls potenziert erschien. Dies das sogen. Hebräer-E. (s.d.). Ähnlich verhält es sich mit den meisten derjenigen alten Werke, die von unserm neutestamentlichen Kanon ausgeschlassen wurden, und von denen uns auch heute nur noch Bruchstücke zu Gebote stehen, als da sind das Ägypter-E., das Petrus-E., das E. der zwölf Apostel. Es sind das lauter Werke, deren Parteizweck über den Spielraum, den der christliche Gedanke in der werdenden Kirche noch offen zu lassen schien, hinausging.
Doch besteht auch in dieser Beziehung wieder ein sehr erkennbarer Unterschied zwischen dem vierten E., das seinen Weg für sich geht und ein ganz eigenartiges Gepräge aufweist, und den drei ersten, die eine gemeinsame Betrachtungsweise verlangen und schon schriftstellerisch die Voraussetzung für jenes bilden. Man nennt diese drei um der Möglichkeit einer »Zusammenschau« ihrer einzelnen Abschnitte willen Synoptiker. Unter ihnen ist Lukas (s.d.) wahrscheinlich der jüngste, wie er auch selbst »viele« Vorgänger kennt (1,1), während die Kritiker sich über den zeitlichen Vortritt des Matthäus (s.d.) vor Markus oder des Markus (s.d.) vor Matthäus lange stritten. Heutzutage gilt fast allgemein Markus oder ein Ur-Markus als die älteste Evangelienschrift. Bei ihm und den beiden genannten Nachfolgern bildet das geschichtliche Bild des Menschen Jesus noch den Grund, worauf das eigentümliche Kolorit der Darstellung aufgetragen ist, während das sogen. E. des Johannes (s.d.) seine ideale Konstruktion vielmehr auf die alexandrinische Lehre vom Logos baut, die es auf den geschichtlichen Christus anwendet. Es gehört wahrscheinlich dem 2. Jahrh. an, während die Synoptiker nach der Zerstörung Jerusalems geschrieben und Quellen benutzt haben, die z. T. noch älter sind als diese Katastrophe. S. Evangelist und Jesus Christus.
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