Gral

[215] Gral (Graal, a. d. altfranz. Wort graal, grëal, prov. grazal, katal. gresal, latinisiert gratalis, gradalis, welches ein schüsselartiges Gefäß bedeutet, entstanden, früher fälschlich als sanguis realis, »das wahre Blut«, erklärt) ist nach dem Glauben des Mittelalters die Schüssel, aus welcher Christus bei dem letzten Abendmahl mit seinen Jüngern aß, und in welcher nachher Joseph von Arimathia das Blut des gekreuzigten Heilands auffing. Mit wunderbaren Kräften ausgestattet, die jedoch nur von den Reinen wahrgenommen werden, wird der G. in einem fernen Lande von einem auserwählten Pfleger und einer würdigen Gemeinde gehütet und verehrt. In dieser Fassung wurde die Legende, die sich im Anschluß an ältere latinisierte QuellenActa Pilati« u. a.) vermutlich in Wales ausgebildet hatte, in einem altfranzösischen Gedicht von Robert de Borron (zwischen 1180 und 1200) erzählt (in »Le roman du S. Graal«, hrsg. von Francisque Michel, Bordeaux 1841) und ausführlicher in dem großen »Livre del St. Graal« (hrsg. von Hucher, Le St. Graal, Par. 1875–78, Bd. 2 und 3), auf dem auch ein altenglisches Gedicht von Lonelich (um 1450): »The Holy Grail«, beruht (hrsg. von Furnivall durch die Early English Text Society, 1874–78, 4 Bde.). Daneben schwanken jedoch die Vorstellungen von dem Wesen des wunderbaren Gefäßes in der reichen mittelalterlichen Gralliteratur außerordentlich. Einerseits wird es auch mit dem Abendmahlskelch vermischt, anderseits werden märchenhafte Vorstellungen von einem unerschöpflich Speise spendenden Wunderdinge damit verbunden, vor denen dann die Beziehungen zu Christi Blut und Abendmahl in den Hintergrund treten. Zugleich vollzieht sich die Verbindung der Gralsage mit der ursprünglich selbständigen keltischen Sage von Perceval (Parzival), die uns zuerst in dem unvollendeten Gedicht des Christian von Troyes: »Le conte del G.« (vor 1190), entgegentritt. In Wolframs von Eschenbach »Parzival« steht die Gralsage in naher Beziehung zu Chrétiens Darstellung, aber anderseits ist sie hier mit ganz neuen Zügen ausgestattet, für die sich Wolfram auf einen provenzalischen Gewährsmann Kyot beruft, dessen Existenz[215] man jedoch mit Grund angezweifelt hat. Bei Wolfram ist der G. ein kostbarer Edelstein, der, einst von Engeln bewahrt, in die Obhut des durch christliche und ritterliche Tugenden gleich ausgezeichneten Ordens der Templeisen und seines Oberhauptes, des Gralkönigs, übergegangen ist. Alljährlich am Karfreitag kommt eine Taube vom Himmel hernieder und erneut durch eine auf den Stein gelegte Oblate dessen Wunderkraft, ewige Jugend und alles, was man an Speise und Trank wünscht, zu verleihen. Inschriften, die Gott auf dem Stein erscheinen läßt, berufen die Auserwählten zum Dienst auf die den menschlichen Blicken sonst entzogene Gralsburg zu Montsalvage (Mons silvaticus = Mont sauvage) und dadurch auch dereinst zur ewigen Seligkeit. Titurel, Frimutel, Amfortas und Parzival, den Wolfram in Verbindung mit dem Haus Anjou bringt, bilden die Reihe der Gralkönige. Im Anschluß an Wolfram behandelte der Dichter des »jüngern Titurel« die Gralsage in weiterer Ausführung. Er brachte noch die Beziehung auf den Priesterkönig Johannes und eine ausführliche Schilderung des Graltempels hinzu. In neuerer Zeit legte die Gralsage R. Wagner seinem Tondrama »Parsifal« zugrunde. – Ein ähnlich aussehendes Gefäß, wie es die Sage beschreibt, kam 1100 nach Genua und von dort 1806 nach Paris, ist aber nicht, wie man glaubte, aus einem Smaragd geschnitten, sondern von grünem Glase. Vgl. Boisserée, Über die Beschreibung des Tempels des heil. G. (Münch. 1834); Zarncke, Der Graltempel (Leipz. 1876); Birch-Hirschfeld, Die Sage vom G. (das. 1877); Martin, Die Gralsage (Straßb. 1880); Nutt, Studies on the legend of the Holy Grail (Lond. 1888); R. Heinzel, über die französischen Gralromane (in den Denkschriften der Wiener Akademie, philosoph.-histor. Klasse, Bd. 40, Wien 1892); W. Hertz, Parzival von Wolfram von Eschenbach, neu bearbeitet, S. 413 f. (2. Aufl., Stuttg. 1898); Ed. Wechßler, Die Sage vom heil. G. in ihrer Entwickelung bis auf Wagners Parsifal (Halle 1898).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 8. Leipzig 1907, S. 215-216.
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