[773] Reitkunst (hierzu Tafel »Reitkunst«), im allgemeinen das Verfahren, vermittelst dessen man die Pferde nach bestimmten Grundsätzen, bez. in angemessen kurzer Zeit und ohne ihnen zu schaden, für den praktischen Gebrauch herrichtet oder ihren Dienst verrichten läßt; höhere R., die Vervollkommnung der Pferde in dieser Richtung bis zum höchsten Grad ihrer Veranlagung. Je nach den besondern Zwecken, die der Reiter verfolgt, unterscheidet man Soldaten- oder Kampagne-, Renn- und Jagdreiterei (letztere beide in ihrer jetzigen Form früher unbekannt und erst durch die Entwickelung der Vollblutzucht in diese Bahnen gelenkt), demnächst Schul- und Zirkusreiterei, auf denen die verschiedenen Formen der R. basieren. Diese bestehen darin, daß man das Pferd, je nach dem Zweck, für den es bestimmt ist, auf Grund einer bestimmten, rationellen Methode dafür dressiert, d. h. die Elastizität seiner Muskeln dafür ausbildet. Für jede dieser Formen ist das dazu geeignete Pferdematerial auszuwählen. Die Basis der Dressur bildet das Gleichgewicht, in welches das Pferd zu setzen ist, und dem entsprechend die Haltung des Tieres, unter der man die engere oder weitere Zusammenfügung des Halses und der Rückenwirbelsäule zu verstehen hat. Da nun die Lage des Schwerpunktes durch den Reiter und die Bewegung selbst stets verändert wird, so wird hierdurch die Haltung bestimmt. Die Haltung, bez. Neigung in den Gang des Schulpferdes, des steeplechasers und des Flachrennpferdes geben z. B. ein sehr deutliches Bild der verschiedenen Formen der R., bez. ihrer Unterschiede, denn sowohl das Schulpferd als das Flachrennpferd werden in engster Haltung zur größten Kraftanstrengung herausgefordert, dennoch ist ihre Haltung eine ganz entgegengesetzte. Für jede Reitform hat das Pferd in engster wie in weitester [773] Haltung einen (für die verschiedenen Zwecke) verschieden aufgewölbten Rücken, und demnach unterscheidet man, den drei Hauptformen entsprechend, drei verschiedene Arten der Versammlung, in der das Pferd bereit ist, sofort die zu stellende Leistung auszuführen. Das Flachrennpferd soll sich aus der Neigung in den Gang, bez. der Haltung schon beim ersten Ansprung in der möglichsten Geschwindigkeit befinden (Fig. 1), während das Schulpferd (Fig. 2) derart gestellt sein muß, daß es, ohne Veränderung der Haltung, vom Fleck aus angaloppieren und die Pirouette machen kann. Die Haltung des steeple-chasers würde in der Mitte liegen, da er in gemäßigtem Tempo angeht und auch zum Zweck einer größern Versammlungsfähigkeit weicher erhalten werden muß. Es bilden demnach alle drei Reitformen mit ihren dazwischenliegenden Bindegliedern ein zusammenhängendes Ganze, in dem sich die einzelnen nicht aussondern lassen. Bei der Dressur, d. h. der Art und Weise, in der das Pferd für die von ihm zu leistende Arbeit vorbereitet wird, ist als Hauptgrundsatz festzuhalten, daß die Haupttätigkeit des arbeitenden Pferdes nicht in der Beinarbeit allein, sondern in dem Auf- und Abwölben seiner Rückenmuskeln, bez. in der Mitarbeit an dem Beinapparat liegt, was Holleuffer mit dem Ausdruck »Schwingungen« bezeichnet, ohne die keine Bewegung vollkommen erreicht werden kann.
Nach dieser Theorie teilt man die Pferde in Rückengänger und Schenkelgänger ein. Erstere setzen ihren Beinapparat vom Rücken aus in Bewegung, ihr Gangwerk wird dadurch leicht und entschlossen, elastisch und raumgreifend, für Pferd und Reiter angenehm und muskelstärkend. Bei den letztern, bei denen die Beine ohne Mitwirkung der Rückenmuskeln bewegt werden, sind die Bewegungen hart, gespannt, wenig fördernd, sie struppieren die Beine und ermüden den Reiter. Derartige Pferde sind tot im Maul oder hinter dem Zügel. Die Ausbildung von Rückengängern wäre daher als letztes Ziel der R. zu betrachten, wie denn auch alle hohen Schulen nichts als die Vermehrung der Schwungkraft und der Elastizität nach dieser Richtung hin bezwecken, weil allein darauf die Schnelligkeit und die Gewandtheit beruht. Edle und veredelte Pferde sind zu Rückengängern, gemeine zu Schenkelgängern prädisponiert. Wenn demnach das Ziel der R. darin gesucht werden muß, das Pferd ins Gleichgewicht zu setzen (Kampagnepferde in das natürliche, Schwerpunkt unter dem Sitz des Reiters, Schulpferde in das künstliche, Schwerpunkt zwischen den Hüften des Tieres), so gibt es dafür verschiedene Mittel und Wege, die sich im großen und ganzen in eine Methode durch Zwang (auf Grund verschiedener mechanischer Hilfsmittel, wie Laufzeuge, spanische Reiter, Hilfszügel, Pilaren etc.) und in eine solche ohne Zwang auf natürlicher Basis (Handdressur und Entwickelung der Gänge aus sich selbst unter Zugrundelegung der natürlichen Anlage des Pferdes mit Bezug auf seinen Bau) scheidet. Erstere Methode (die der alten orthodoxen Reitschule) führt zu Erfolgen nur in der Hand sehr geschickter Reiter, letztere wird wenigstens kein Pferd ruinieren. Plinzner empfiehlt als Basis des Gehorsams, zuerst die Erlangung einer unbedingten Beizäumung, aus dieser heraus das Pferd auszurichten, es mittels Schenkel-, bez. auch Sporenhilfen an das Gebiß heranzutreiben, um auf diese Weise die Tätigkeit des Bewegungsapparates und die Biegung der Hanke zu erreichen, während Fillis u. a. mit Ausrichtung beginnen. Über die andre Methode gibt Georg Dürr (»Die Dressur des Reitpferdes auf naturgemäßer Grundlage«, Berl. 1891) ein klares Bild.
Die Schulgänge, auch die hohe Schule genannt, sind aus der Praxis der Neuzeit verschwunden und werden nur noch auf der Hofreitschule zu Wien in der Vollendung geübt (vgl. v. Heydebrand, Die hohe Schule, Leipz. 1892). Sie zerfallen in die Schulen auf und die Schulen über der Erde. Zu den erstern gehören: auf der Stelle: die Piaffe (s. Tafel »Reitkunst«, Fig. 1), Treten mit erhobener Knieaktion; im Schritt: der Schulschritt (Fig. 2); im Trabe: der spanische Schritt oder die Passage (Fig. 3); im Galopp: die Passade (Fig. 4), der Terre à Terre, der Redopp und die Pirouette (Fig. 5). Die Schulen über der Erde bestehen in kunstreichen Sprüngen im künstlichen Gleichgewicht teils auf, teils von der Stelle mit genau vorgeschriebener Bewegung der Beine. Sie heißen: die Levade (Fig. 6), die Pesade (Fig. 7), die Ballotade (Fig. 8), die Kruppade (Fig. 9), die Kurbette (Fig. 10), die Lançade (Fig. 11), der Mezaire und die Kapriole (Fig. 12). In neuester Zeit hat der Schulreiter James Fillis (s. unten, Literatur) durch seine außerordentlichen Erfolge in der Dressur des Pferdes zur hohen Schule, die jedoch mit den Ausführungen der alten hohen Schule nicht konform sind, großes Aufsehen erregt. Im Gegensatz zu der scheinbar ähnlichen Dressurmethode Bauchers, dessen Pferde hauptsächlich nur für Zirkuszwecke geeignet waren, sind die Pferde des Fillis infolge ihrer harmonischen Ausbildung auch im Terrain zu verwenden.
Über das Reiten im Altertum gibt Xenophon in seinem Reitbuch einige Aufschlüsse, aus denen hervorgeht, daß schon damals ähnliche Prinzipien, wie[774] sie später die Schulreiterei und sogar die moderne Rennreiterei beobachten, bei der Ausbildung des Pferdes (z. B. rationelle Ausbildung der Hinterhand) Anwendung fanden. Im Mittelalter gelangte die R. zu hoher Ausbildung durch das Rittertum und die Turniere, mit deren Verfall sie aufhört, Allgemeingut der bevorzugten Stände zu sein. Sie flüchtet sich an die Höfe, an denen ihr eine luxuriöse Pflege zuteil wird. Ter Stallmeister gehört zu den höchsten Hofbeamten, und die Ausbildung in der Reitbahn ist Haupterfordernis für die höfische Erziehung. Quadrille und Karussell, die an die Stelle der Turniere treten, erfordern eine vorzügliche Dressur der Pferde. Die Begründung der modernen R. ist in Italien, speziell in Neapel, zu suchen, wo Federico Griso (um 1532) eine Reitakademie errichtete, die vom Adel fast ganz Europas besucht wurde. Sein Schüler Pignatelli erfand die Kandare, und zwei von dessen Schülern, Antoine de Pluvinel, der Erfinder der Pilaren und des ersten geordneten Dressursystems, später Reitlehrer Ludwigs XIII. (1623), und Salomon de la Broue, begründeten die neue R. in Frankreich, während der Chevalier Saint-Antoine unter Jakob I. der erste Stallmeister in England wurde. Der Herzog von Newcastle, der Erfinder der Lektion: »Vorhand in den Zirkel gestellt«, schrieb 1657. Er blieb bis zur Mitte des 18. Jahrh. maßgebend, obwohl er für den Reiter noch den Spaltsitz mit etwas zurückgeneigtem Oberleib und steif vorgestreckten Schenkeln beibehalten hatte. Zu höchster Vollkommenheit gelangte die R. um die Mitte des 18. Jahrh. durch die Reitschule in Versailles. De la Guérinière, Stallmeister Ludwigs XV. und Erfinder der Schule »Schulterherein«, gab der R. in seiner »École de cavalerie« (1733) eine wissenschaftliche Grundlage, in der sie sich auch in Deutschland weiter entwickelte. Guérinière war ein Gegner des Rennsports und nahm seine Pferde erst mit 68 Jahren in die Dressur; er gab zuerst eine annähernd richtige Beschreibung der Gänge des Pferdes, indem er natürliche und künstliche unterscheidet, und seine Definition eines gut zugerittenen Pferdes gipfelt in der Biegsamkeit, dem Gehorsam und der Genauigkeit der Gänge. In Deutschland schrieben auf Grund der Guérinièreschen Methode gegen das Ende des 18. Jahrh. v. Sind und Prizelius. Hier standen im vorigen Jahrhundert die Reitschulen zu Koburg und Wien in hohem Ansehen. Ayrer begründete den Ruf der Göttinger Schule, der sich unter dem jüngern Ayrer bis in die neuere Zeit erhielt. Hünersdorf, Stallmeister des Kurfürsten von Hessen, schrieb ein klassisches Werk über R., die »Anleitung zu der natürlichsten und leichtesten Art, Pferde abzurichten« (1791), zu dem Baptist Loisset vortreffliche Anmerkungen schrieb, die von Tennecker herausgegeben wurden. Hünersdorfs Werk wurde die Grundlage für die preußische »Reitinstruktion für die Kavallerie«. Den preußischen Reitergeneralen verdankt man die hohe Entwickelung der Kampagnereiterei, die aus der in England begründeten Renn- und Jagdreiterei gewisse Elemente aufgenommen hat und in dem Militärreitinstitut zu Hannover gegenwärtig ihre bedeutendste Vertretung besitzt. Vgl. Jähns, Roß und Reiter in Leben und Geschichte etc. der Deutschen (Leipz. 1872, 2 Bde.); L. v. Heydebrand, Illustrierte Geschichte der R. (Wien 1892); Kästner, Die Regeln der R. (4. Aufl., Leipz. 1892); Monteton, Über die R. (Stendal 187779, 2 Tle.); v. Krane, Anleitung zur Ausbildung der Kavallerieremonten (2. Aufl., Berl. 1879); Seidler, Die Dressur des Pferdes (1. Teil, 5. Aufl., das. 1882; 2. Teil, 2. Aufl., das. 1879); Heinze, Pferd und Reiter, oder die R. in ihrem ganzen Umfang (6. Aufl., Leipz. 1888); Rich. Schoenbeck, Reithandbuch für berittene Offiziere der Fußtruppen (5. Aufl., das. 1902), Reiten und Fahren (4. Aufl., Berl. 1905) und Reit-ABC (2. Aufl., das. 1899); v. Heydebrand, Handbuch des Reitsports (Wien 1882) und Der R. hohe Schule (Leipz. 1898); v. Öttingen, Über die Geschichte und die verschiedenen Formen der R. (Berl. 1885); Steinbrecht, Das Gymnasium des Pferdes (Potsd. 1886); Graf Wrangel, Das Buch vom Pferde (4. Aufl., Stuttg. 1902); Fillis, Grundsätze der Dressur und R. (deutsch, 3. Aufl., das. 1905) und Tagebuch der Dressur (deutsch, das. 1906); v. Tepper-Laski, Rennreiten (Berl. 1897); Sanden, Der Reitsport (Leipz. 1900) und Geländereiten (das. 1901); v. Norman, Im Sattel und im Stall. Die Grundlagen der R. (Berl. 1905). Über R. der Damen vgl. die Schriften von Blanka v. Wobeser (3. Aufl, Berl. 1901), v. Heydebrand (Leipz. 1884), Schlaberg (3. Aufl., Berl. 1906) und Schönbeck (Leipz. 1904).
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