[462] Wehrsystem (Wehrverfassung), die Einrichtungen für die Organisation der Streitkräfte eines Landes, charakterisiert vor allem durch die Art der Aufbringung des Ersatzes und der Bereithaltung der Truppen im Frieden. Bei noch nicht völlig seßhaften Völkern kann von einem eigentlichen W. noch kaum die Rede sein. Wo ein Teil des Volkes auf die Dauer den Kriegsdienst als seine Aufgabe übernimmt, während die übrigen sich den andern Kulturaufgaben widmen (Kastenwesen), treten Kriegerkasten auf, wie im alten Indien, Ägypten, Sparta, ähnlich noch in den türkischen Janitscharen und russischen Strelitzen, Hier ist das Waffenwesen ständiger und ausschließlicher Lebensberuf, die Wehrmacht steht somit dem Volke fremd gegenüber. Im alten Griechenland war großenteils der Kriegsdienst eng verknüpft mit dem Landbesitz, ebenso in Rom, dessen Bürgerheer sich in den kritischen Zeiten den Söldnerheeren seiner Gegner (Karthago) gegenüber siegreich behauptete. Erst Marius führte ein W. ein, bei dem sich das Heer durch Konskription und freie Werbung ergänzte. Das Söldnerwesen hat dann in Rom mehr und mehr Fuß gefaßt. In Frankreich entwickelte sich der Heerbann, die Dienstpflicht aller Freien, die aber in der Praxis der Kosten wegen auf die Ausübung der Wehrpflicht durch die leistungsfähigen Grundbesitzer hinauskam, woraus sich dann der Kriegsdienst der Lehensträger entwickelte, die Lehensreiterheere der Ritterschaft, die ihrer Exklusivität wegen nun auch wieder wie eine Kriegerkaste dasteht. Demgegenüber entwickelte sich in den Städten und in den deutschen Hochlanden (Schweiz) ein W., das eigentlich auf allgemeiner Wehrpflicht beruhte: ausgehobene Mannschaft war stets unter Waffen, während bei unmittelbarer Gefahr der Landsturm aller waffenfähigen Männer aufgeboten wurde. Die Tüchtigkeit dieser zu Fuß fechtenden Truppen und die Notwendigkeit, gegen die Macht der Vasallen ein Gegengewicht zu schaffen, führte zur Ausstellung von zu Fuß fechtenden geworbenen Soldtruppen durch die Fürsten, erst nur für den Kriegsfall, später als stehende Heere. Das Söldnerwesen, durch Werbung (Anwerbung) ergänzte Heere, finden wir zu allen Zeiten, in ausgedehntestem Maße in Handels- und Seestaaten (Karthago, Venedig, Großbritannien, Niederlande). Viele Söldner lieferte die Schweiz, in Deutschland wurde das Werbesystem bei Errichtung der Landsknechte[462] zum erstenmal im großen angewendet. Auch Preußen ergänzte sein Heer seit dem Großen Kurfürsten durch Werbung, zum Teil auch noch nach Einführung des Kantonsystems zur Schonung der heimischen Volkswirtschaft. Die Werbung geschieht durch Werbeoffiziere, die mit Werbepatenten und Werbegeldern ausgerüstet an gewissen Werbeplätzen ihr Geschäft betreiben. Dies geschah früher auch geheim und selbst mit Gewalt und sonstigen unlautern Mitteln, weshalb auch die Werber zuzeiten direkt gefürchtet waren. Werbedepois sind zur Aufnahme und Ausbildung der neuen Rekruten bestimmt. Außer England und Nordamerika ist die Werbung jetzt fast überall durch die allgemeine Wehrpflicht ersetzt: grundsätzlich ist jeder Taugliche zum Waffendienst verpflichtet, wobei jedoch in manchen Staaten Stellvertretung (s. d.) oder Loskauf (s. d.) gestattet war, seltener noch gestattet ist. Über die allgemeine Wehrpflicht vgl. das Heerwesen der einzelnen Länder. Da ihre vollkommene Durchführung ohne Befreiungen und Ausnahmen fast nirgends möglich ist (ohne Befreiungen durchgeführt nur in Frankreich 1906), ist in manchen Staaten für die nicht dienenden die Wehrsteuer (s. d.) eingeführt. Wehrpflichtverletzungen sind nach dem deutschen Reichsstrafgesetzbuch: unerlaubte Auswanderung (§ 140 u. 360), Selbstverstümmelung (§ 142), Anwendung auf Täuschung berechneter Mittel, um sich der Wehrpflicht zu entziehen (§ 143), Fahnenflucht oder Desertion (s. d.). Die Art der Bereithaltung der Truppen im Frieden ist entweder das Cadre- (Rahmen) system, das stets stehende Truppenteile mit berufsmäßig gebildetem Ausbildungspersonal in derartiger Stärke hält, daß in jeder Hinsicht und in jeder Jahreszeit kriegsgemäße Ausbildung möglich ist, während im Kriegsfalle die Kriegsstärke durch Einziehung von früher ausgebildeten Leuten erreicht wird; oder es ist das Milizsystem (Sch weiz; die britische Miliz ist, da daneben ein stehendes Heer besteht, nicht ohne weiteres zu vergleichen), bei dem fast gar keine Cadres vorhanden sind und nur alljährliche Übungen der Tauglichen stattfinden. Beim reinen Werbesystem, wie bei den Söldnerheeren des Mittelalters, wo es keine Reserven für den Kriegsfall gibt, sind Kriegs- und Friedensstärke gleich, ähnlich bei den Bürgerheeren des Altertums und den Kriegerkasten. Vgl. Jähns, Heeresverfassungen und Völkerleben (Berl. 1885) und Über Krieg, Frieden und Kultur (das. 1893); E. v. Schmid, Die Militärversorgungsgesetze, der Reichsinvalidenfonds und die Wehrsteuer als Mittel zur ausreichenden Versorgung der Invaliden (Leipz. 1897), und Literatur bei Artikel »Wehrsteuer«.