Reich

[658] Reich. Im Allgemeinen bedeutet ein Reich den Inbegriff einer großen Menge unter sich in einer vereinigenden Beziehung stehender Dinge, wie z.B. von einem Thier-, Pflanzen- und Mineralreich, aber auch von einem Naturreiche, sowie von einem Reiche der Wirklichkeit die Rede ist, welche auch die erstern mit einschließen und von einem Reiche der Gedanken, das vollends unbegrenzt ist. In Bezug auf Staatenverhältnisse bezeichnet man umfangreiche und von einem Sultan, Kaiser oder König beherrschte Staaten als Reiche, wie z.B. das osman. und das russ. Reich oder bestimmter Kaiserreich; vorzugsweise das Reich hieß aber sonst das deutsche Reich, von dem endlich wieder ein Theil, nämlich Oberdeutschland, mit Ausschluß von Östreich, im engern Sinne »das Reich« genannt wurde. Von der Entstehung des deutschen Reichs im I. 843, warum es seit dem 10. Jahrh. das h. röm. Reich deutscher Nation genannt worden ist, von seinem Umfange zu verschiedenen Zeiten und seiner Geschichte bis zu seiner Auflösung am 6. Aug. 1806, ist schon unter Deutschland (s.d.), von der Art, Wahl, Krönung und Machtvollkommenheit seiner Oberhäupter im Art. Deutsche Kaiser und Könige (s.d.) im Allgemeinen gehandelt worden, daher nur über einzelne, auch sonst nicht besonders besprochene Theile der deutschen Reichs verfassung noch Manches zu sagen übrig ist. Diese oder die Reichsgrundgesetze, welche die Verhältnisse der Kaiser zu den deutschen Reichsständen, sowie der legten unter sich festsetzten, waren keineswegs Ausflüsse einer monarchischen Gewalt der deutschen Reichsoberhäupter, sondern auf dem Wege öffentlicher Berathung der Kaiser mit dem Reiche, d.h. mit den Reichsständen zu Stande gebracht worden, und bestanden außer dem sogenannten Reichsherkommen, d.h. den durch lange Gewohnheit allmälig zu gesetzlichem Ansehen gelangten Gebräuchen, in der goldenen Bulle (s.d.), dem ewigen Landfrieden (s.d.) von 1795, den auf die Reichsverfassung sich beziehenden Bestimmungen der Reichsabschiede (s. Abschied) und der Reichsschlusse, wie die seit 1663 vom seitdem immerwährenden Reichstage beschlossenen und vom Kaiser bestätigten Reichsgutachten hießen; ferner in den kais. Wahlcapitulationen (s. Capitulation), in dem auf den passauer Vertrag (s. Passau) gegründeten augsburger Religionsfrieden (s.d.) von 1555, welcher den augsburg. Confessionsverwandten freie Religionsübung und gleiche Rechte mit den Katholischen zusicherte, und endlich in den betreffenden Bestimmungen des Westfälischen Friedens (s.d.).

Was die deutschen Reichsstände oder un mittelbaren Glieder des Reichs anlangt, welche das Recht besaßen, auf den Reichstagen zu erscheinen, so waren dieselben theils geistliche (die geistlichen Kurfürsten, die Erzbischöfe, Bischöfe, Prälaten, Äbte und Äbtissinnen, der Hoch- und Deutschmeister und der Johanniterordensmeister), theils weltliche (die weltlichen Kurfürsten, Herzoge, Fürsten, Land- und Pfalzgrafen, Markgrafen, Burggrafen, Grafen und Reichsstädte) und wurden nach dem westfäl. Frieden auch für gewisse Religionsverhältnisse in katholische und protestantische (s. Corpus catholicorum) eingetheilt. Die Reichsunmittelbarkeit besaßen nämlich diejenige sehr ansehnliche Zahl von Personen und Inhaber gewisser Besitzungen, welche blos der vom Kaiser und den gesammten Reichsständen besessenen Reichshoheit oder Reichsstaatsgewalt und nicht zunächst einer Landeshoheit unterworfen waren; das letzte hieß reichsmittelbar. Die Reichsunmittelbarkeit brachte indessen noch nicht die Reichsstandschaft mit sich, welche nur der Besitz eines unmittelbaren Fürstenthums, einer solchen Grafschaft oder andern Herrschaft, die Einwilligung von Kaiser und Reich und die angemessene Beisteuer zu den Reichsunkosten verschaffen konnte, und z.B. die unmittelbare Reichsritterschaft gehörte keineswegs zu den Reichsständen. Sie bestand aus dem in den verschiedenen Kreisen des Reichs angesessenen und in den als Reichsritter von ihnen besessenen Gütern keiner Landeshoheit unterworfenen Edelleuten und war in neuerer Zeit in drei Ritterkreise, den fränk., schwäb. und rheinischen, eingetheilt, von denen jeder in mehre Cantone zerfiel und einen Director, alle drei aber ein Generaldirectorium hatten, welches wechselte. Die Kreise hatten das Recht, Abgeordnete zu ernennen, hielten auf Berufung der Directoren Rittertage und die Streitsachen der Reichsritterschaft jeden Kreises wurden von einem Syndicus und mehren Räthen geschlichtet, Appellationen dagegen aber gingen an die Reichsgerichte. Seit 1803 schon ward jedoch von mehren Fürsten, in deren Gebiete Besitzungen von Reichsrittern lagen, ihre Unmittelbarkeit nicht mehr anerkannt und mit der Auflösung des Reichs ward ihr überall ein Ende gemacht. Zur Handhabung der Reichsjustiz über die Reichsunmittelbaren und in höchster Instanz auch über Mittelbare, [658] wo dem keine Privilegien entgegenstanden, waren zwei höchste Reichsgerichte bestimmt, das Reichskammergericht (s. Kammer) und der Reichshofrath, welcher erst im westfäl. Frieden als ein dem Kammergericht völlig gleichstehendes, oberstes Reichsgericht anerkannt wurde. Jeder Kaiser setzte denselben vom Neuen ein und sein Sitz war immer in der kais. Residenz, also zuletzt in Wien. Zusammengesetzt war er aus einem Präsidenten, einem Vicepräsidenten, zwölf katholischen und sechs protestantischen Räthen, die sich in eine Grafen-, eine Herren- und eine gelehrte Bank theilten. Er war zugleich das einzige oberste Regierungscollegium des Reichs, daher Reichsregierungs- und Lehnssachen, sowie Criminalsachen über Reichsunmittelbare bei ihm allein verhandelt wurden, und hatte als amtlicher Rathgeber der Kaiser oft großen Einfluß auf die Reichsangelegenheiten. Zur Berathung der die Gesammtheit der Reichsstände angehenden Sachen beriefen die Kaiser regelmäßige und außerordentliche Versammlungen oder Reichstage nach der Stadt, wo sie grade Hof hielten. Unter den sächs. Kaisern wurden daher vorzüglich norddeutsche Städte und namentlich Goslar und Merseburg dazu gewählt; später fanden die meisten in Frankfurt a. M., Augsburg und Regensburg statt, denn die Bestimmung der goldenen Bulle, daß jeder Kaiser seinen ersten Reichstag in Nürnberg zu halten habe, ward nicht beachtet. Unterließ der Kaiser die Berufung des Reichstags in einer Zeit, wo die Kurfürsten denselben für nöthig hielten, so konnten sie daran erinnern; seit 1663 ward indeß kein neuer Reichstag mehr ausgeschrieben, weil der damalige fortwährend beisammen blieb. Der Kaiser erschien, gleich den Reichsfürsten, früher meist persönlich beim Reichstage, später aber ließ er sich durch einen sogenannten Principalcommissarius, welcher seit 1663 stets ein geistlicher oder weltlicher Reichsfürst war, vertreten, und die Reichsfürsten schickten ihre Gesandten. Der Reichstag verhandelte über Krieg und Frieden, über die Abschließungen von Bündnissen und Verträgen, über Reichsgesetze und das Reichsjustiz- und Policeiwesen, über die Reichsmatrikeln (s. Matrikel), empfing Gesandte und ordnete welche ab und theilte mit dem Kaiser die Ausübung aller Majestätsrechte mit Ausschluß der kais. Reservate. (S. Deutsche Kaiser und Könige.) Das Directorium unter den Ständen hatte bei der Reichsversammlung der Kurfürst von Mainz als Reichserzkanzler, daher bei ihm alle reichsständischen und auswärtigen Gesandten an das Reich sich ebenso durch Beglaubigungsschreiben ausweisen mußten, wie beim kais. Principalcommissarius, und was an den Reichstag gerichtet war, durch die mainz. Kanzlei zur amtlichen Kenntniß der Andern gebracht wurde. Die Berathungen selbst gingen in drei abgesonderten Reichscollegien vor sich; nämlich: 1) im kurfürstlichen, unter der Leitung von Kurmainz; 2) im fürstlichen, wo die Mitglieder in eine weltliche und eine geistliche Bank getheilt waren und die protestantischen Bischöfe von Lübeck und Osnabrück auf einer Querbank saßen, auch die Reichsprälaten oder solche geistliche Reichsstände, welche nicht Bischöfe waren, in die rheinische und schwäb. Bank getheilt zwei Stimmen, die Reichsgrafen in die schwäb., wetterauische, fränk. und westfäl. Bank getheilt vier Stimmen hatten und wo Östreich und Salzburg abwechselnd das Directorium führten; 3) im reichsstädtischen Collegium, wo die Leitung der Reichsstadt zufiel, in welcher der Reichstag gehalten wurde und jede Stadt eine Stimme besaß. Den Beschlüssen des letztern ward indeß erst nach dem westfäl. Frieden ein wesentlicher Einfluß auf die Entscheidung der Verhandlungen eingeräumt. Alle drei Collegien faßten ihre Beschlüsse besonders, theilten sich dieselben nachher durch ihre Directoren mit, was man die Relation und Correlation nannte und wobei man wo möglich zur Übereinstimmung zu gelangen suchte. War diese erzielt, und hatte auch der Kaiser seine Zustimmung erklärt, so hieß ein solcher Beschluß ein Reichsschluß oder Reichsconclusum, mangelte aber jene Übereinstimmung der drei Reichscollegien, ein Reichsgutachten. Die zusammengefaßten Beschlüsse eines Reichstags wurden Reichsabschied (s. Abschied) und Reichsreceß genannt. Zur Erledigung einzelner bestimmter Geschäfte wurden vom Kaiser und Reiche ordentliche und außerordentliche reichsständische Ausschüsse, sogenannte Reichsdeputationen bestellt, von denen die erstern aus sämmtlichen Kurfürsten, und 15 Reichsfürsten, einem Prälaten, zwei Reichsgrafen und den Abgeordneten von sechs Reichsstädten bestanden, während die außerordentlichen nach den nähern Umständen der ihnen zu übertragenden Geschäfte aus den drei Reichscollegien, jedoch immer halb aus den katholischen und halb aus den protestantischen Ständen gewählt wurden. Während der Reichstage hatten sie über Münz-, Zoll- und Policeiangelegenheiten, weniger wichtige Privatsachen, Ceremonialangelegenheiten u. dgl. zu verhandeln, unter die wichtigsten. Deputationsgeschäfte aber gehörte die Visitation des Reichskammergerichts und die Ausgleichung von Streitigkeiten mit auswärtigen Staaten. Die letzte außerordentliche Reichsdeputation ward am 24. Aug. 1802 zu Regensburg in Folge des von Östreich und dem deutschen Kaiser im Febr. 1801 abgeschlossenen, durch Reichsschluß am 10. März genehmigten luneviller Friedens mit Frankreich niedergesetzt. Sie hatte die damit zusammenhängenden Entschädigungs-und andern Angelegenheiten zu ordnen und erließ ihre unter dem Einflusse der vermittelnden Mächte Frankreich und Rußland gefaßten Entscheidungen in dem Reichsdeputationshauptschlusse vom 25. Febr. 1803, welcher hierauf vom Reiche und Kaiser zum Reichsgesetz erhoben wurde und viele Secularisationen, Besitzveränderungen und Umgestaltungen von Staatsverhältnissen festsetzte und dessen fortwährende Gültigkeit durch die deutsche Bundesacte im 15. Artikel in mehren Punkten ausdrücklich anerkannt ist.

Das vom deutschen Reiche in Kriegsfällen aufgestellte Heer, die vorzugsweise sogenannte Reichsarmee, bestand aus den Contingenten an Mannschaften und Geld der sämmtlichen Reichsstände. Die Zahl und Höhe dieser Beiträge, welche auch Reichshülfe hießen, war in den Reichsmatrikeln bestimmt, die aus der Zeit der Römerzüge herrührten, welche die Kaiser in früherer Zeit unternahmen, um sich in Rom vom Papste krönen zu lassen und dabei von allen Vasallen des Reichs und den Afterlehnsleuten derselben begleitet werden mußten. Die Dauer der dabei zu leistenden Kriegsdienste war auf sechs Wochen bestimmt, welche Römermonate hießen. Das Aufhören der Römerzüge und die Einführung besoldeter Heere, sowie einer veränderten Art der Kriegführung nöthigte indeß zur Veränderung der alten Bestimmungen, was gründlich zuerst auf dem Reichstage [659] zu Worms 1521 geschah, wo die Reichsarmee auf 20.000 M. Fußvolk und 4000 Reiter angesetzt und ausgemacht wurde, welchen Antheil (Contingent) dazu jeder Reichsstand wirklich stellen, oder statt dessen für jeden Reiter zwölf, für jeden Mann zu Fuß vier Gulden monatlich zahlen solle, welche Gelder ebenfalls den Namen von Römermonaten bekamen. Im J. 1681 wurde die Reichsarmee auf 12.000 M. zu Pferd und 28,000 zu Fuß erhöht, und da sie bald wieder zu gering war, verdoppelt und 1793 sogar fünf Mal so stark angesetzt. Befehligt wurde sie von mehren Reichsgeneralfeldmarschällen, bezahlt aus der Reichsoperationskasse, an die noch Foderungen von ungefähr 3 Mill. Fl. Rhein. aus dem Reichskriegen von 1792–1801 vorhanden sind, mit deren Feststellung sich die deutsche Bundesversammlung wiederholt beschäftigt und, ohne eine rechtliche Verbindlichkeit des Bundes zur Bezahlung einzuräumen, doch ausgesprochen hat, daß auf einige Befriedigung der Privatgläubiger der Billigkeit gemäße Rücksicht zu nehmen sei. Die Contingente der größern Reichsstände abgerechnet, hat die Reichsarmee im Ganzen nie ausgezeichnete Thaten verrichtet, woran nicht blos die geringe Stärke, sondern weit mehr die buntscheckige Zusammensetzung derselben Schuld war, welche innere Übereinstimmung ziemlich unmöglich machte. Gar viele von den kleinen Reichsständen hatten wenige Mann, ja manche einen halben Mann abwechselnd mit einem Andern oder auch blos ein Fuhrwerk und keine Leute u.s.w. zu stellen, und es konnte bei dem Unzureichenden der meisten andern auf das Reichsheer bezüglichen Verhältnisse kaum fehlen, daß es das Ziel des allgemeinen Spottes wurde. – Zur Deckung der Bedürfnisse des deutschen Reichs kamen Reichssteuern oder Reich sanlagen auf, deren erste Art der 1427 ausgeschriebene gemeine Pfennig, eine Vermögenssteuer, war. Später gaben die Reichsstände die erfoderlichen Gelder her und vertheilten sie auf ihre Unterthanen. Auch die schon erwähnten Römermonate waren Steuern und nach dem Ansatz von 1521 betrug einer 128,000, in der letzten Zeit wegen der Einwände der mächtigern Reichsstände kaum noch 50,000 rhein. Gulden, der sogenannte Reichsschilling aber war eine Abgabe der Reichsstädte an den Kaiser, welche sich von allen zu Ende des 18. Jahrh. auf nicht mehr wie 10,784 Gulden jährlich belief. Die Einnehmer dieser Steuern in den Legestädten Augsburg, Frankfurt a. M., Nürnberg und Leipzig wurden Reichspfennigmeister genannt. Außer den Reichsstädten (s. Freie Städte) gab es auch Reichsdörfer und Haiden, die reichsunmittelbar und in früher Zeit sehr zahlreich waren, von denen aber zuletzt nur noch Alschhausen und die Leutkirchner Haide in Schwaben, Althausen, Gochsheim und Sennfeldt in Franken, Sulzbach und Soden im ehemaligen oberrhein. Kreise als solche bestanden. – Reichsfürsten waren ursprünglich nur die Mitglieder des zweiten Reichscollegiums mit Sitz und Stimme auf der Reichsfürstenbank, und diese Würde war blos mit dem wirklichen Besitz eines Reichsfürstenamtes, eines Herzogthums, Pfalz-, Land- und Markgrafenamts und mit einigen Burggrafthümern verknüpft. Schon vor dem dreißigjährigen Kriege ward dieselbe von den Kaisern auch ohne Reichsamt, als bloßer Titel, während und nach demselben aber sehr häufig und auch an Ausländer verliehen, daher nun wirkliche Reichsfürsten mit Sitz und Stimme und andere mit dem bloßen Titel unterschieden wurden. – Das deutsche Reichsarchiv ward an vier Orten aufbewahrt, nämlich 1) in Wien das kais. Reichshofarchiv, welches in den östr.-franz. Kriegen 1805 und 1809 zum Theil nach Temesvar geflüchtet, das Zurückgebliebene aber 1809 von Napoleon nach Paris entführt wurde und erst 1814 in Folge des pariser Friedens in 1057 Kisten nach Wien zurückgelangte; 2) in Wetzlar, wohin auch die von Speier, dem Sitze des Reichskammergerichts bis 1693, nach Aschaffenburg geflüchteten 500 Fässer mit Acten 1807 gebracht und später geordnet worden sind und wo davon ein sechs Folianten füllendes Verzeichniß gemacht wurde und dieselben noch von einer, von der deutschen Bundesversammlung und von Preußen angeordneten Commission sorgfältig verwahrt werden; 3) zu Regensburg das Directorialarchiv des Reichstags und 4) das Hauptarchiv des Kurerzkanzlers, bis 1792 zu Mainz, dann zu Aschaffenburg und seit 1818 in mehr als 200 Kisten im ehemaligen, jetzt Östreich zugehörenden Deutschordenshause zu Frankfurt a. M. Von Betheiligten können übrigens noch jetzt aus den verschiedenen Abtheilungen des Reichsarchivs die nöthigen Acten, Documente und Nachrichten erlangt werden.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1839., S. 658-660.
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