Gallen [1]

[280] Gallen (Cecidien, hierzu Tafel »Gallen«) sind krankhafte, an Pflanzen durch pflanzliche (Phytocecidien) oder tierische (Zoocecidien) Schmarotzer hervorgerufene Bildungsabweichungen. Durch die dauernde oder zeitweilige Anwesenheit des Parasiten unterscheiden sich die G. von ähnlichen durch Verwundung oder andre Ursachen an Pflanzen hervorgerufenen Mißbildungen. Durch einen von dem Schmarotzer ausgehenden Reiz oder durch einen von ihm abgesonderten Stoff (Wuchsenzym) wird das Gewebe an der infizierten Stelle zu abnormer Wucherung veranlaßt, die schließlich zu einer mehr oder minder scharf begrenzten Umgestaltung des betreffenden Pflanzenteils führt. G. können sich demnach nur an jugendlichen, noch in der Entwickelung begriffenen Pflanzen, wie in zarten Knospen, an jungen Wurzeln, Stengeln und Blättern bilden. Unter den pflanzlichen Parasiten treten hauptsächlich Schmarotzerpilze als Gallenbildner auf. Bekannt sind die durch Taphrina pruni verursachten Narrentaschen der Pflaumen, die von Aecidium elatinum an der Tanne, von verschiedenen Taphrina-Arten an Kirschbäumen, Hainbuchen, Birken etc. erzeugten Hexenbesen. Derartige Bildungen liefern einen Übergang zu den eigentlichen Pilzgallen (Mykocecidien), wie sie z. B. von Synchytrium-Arten als kleine, meist auffällig gefärbte Wärzchen auf Blättern von Succisa, Taraxacum u. a. hervorgerufen werden. Unter den gallenbildenden Tieren sind die Insekten am wichtigsten und zwar die Gallwespen (Cynipiden), manche Blattwespen, Gallmücken (Cecidomyiden), Blattläuse (Aphiden), Springläuse (Psylloden), ferner einige Rüsselkäfer, Schmetterlingslarven u. a. Unter den Arachniden sind die Gallmilben (Phytoptus) Gallenbildner; endlich kennt man ein Krebstier (Ruderfüßer), einige Fadenwürmer (Nematoden) und ein Rädertier (Notommota Werneckii Ehrh. an der Alge Vaucheria) als Erzeuger von G. Auf ein und derselben Pflanze entstehen durch verschiedene Tierarten auch verschiedene G., dagegen verursacht ein und derselbe Gallenbildner auf verschiedenen Pflanzen in den meisten Fällen gleiche oder nur wenig voneinander abweichende Cecidienformen. Der Umstand, daß Form und Ausbildung der G. den besondern Lebensbedürfnissen des Schmarotzers entsprechen, wird als ein Fall symbiotischer Anpassung zwischen Gallenträger und Gallenbildner aufgefaßt (s. Symbiose). Eine Anzahl charakteristischer Gallenformen sind auf der Tafel abgebildet und besprochen.

Die G. werden nach ihren Erzeugern als Akarocecidien, Dipterocecidien, Nematocecidien, Phytoptocecidien etc. bezeichnet. Nach ihrem Auftreten an verschiedenen Pflanzenteilen unterscheidet man Wurzel-, Stengel-, Blatt-, Knospen-, Fruchtgallen etc., nach dem morphologischen Ort ihrer Entstehung gipfelständige und seitenständige G. (Akro- und Pleurocecidien). Der äußere Habitus der G. ist ein sehr wechselnder. Bald treten sie nur als unbestimmt begrenzte geringe Deformationen eines Pflanzenteils auf, bald stellen sie eine rings geschlossene Neubildung dar, wie bei den Galläpfeln. Von der Deformation kann entweder nur ein einzelnes Organ: die Wurzel, der Stengel, das Blatt, der Fruchtknoten etc. (einfache G.), oder ein zusammengesetztes Organ, wie eine Knospe, eine Triebspitze, ein Blütenstand, eine Blüte etc. (zusammengesetzte G.), betroffen werden. Die Deformationen einfacher Organe bestehen z. B. in Haarfilzwucherungen (bei den sogen. Erineum-Bildungen oder Filzgallen, die früher für Pilze gehalten wurden und von Gallmilben bewohnt werden), in Anschwellungen der jungen Wurzelspitze bei den durch die Reblaus (s.d.) erzeugten G., in knollenförmigen Stengelanschwellungen, in Verkrümmungen und Gestaltveränderung der Blattfläche, in Formveränderung des Fruchtknotens, wie bei den als Gicht- oder Radenkörnern bekannten G. der zu den Fadenwürmern gehörigen Anguillula tritici Roffr. Nach der Lebensweise der Gallenbewohner unterscheidet man unter den einfachen G. Mantel- und Markgallen. Bei erstern leben die Schmarotzer nur an der Außenseite des von ihnen besiedelten Pflanzenteils, der im Umkreis der Insassen eine mehr oder weniger geschlossene Höhlung hervorbringt. Hierher gehören die durch ungleiches Wachstum der beiden Blattseiten bedingten Rollgallen (z. B. von Rhododendron), die als Schwielen auftretenden Faltengallen (z. B. an Blättern der Hainbuche), die von Schizoneura ulmi erzeugten Runzelgallen (Tafel, Fig. 1) auf den Blättern der Ulme, die in Form taschen- oder sackförmiger Höhlungen auftretenden Beutelgallen, z. B. an Ulmenblättern (Fig. 2) mit Tetraneura ulmi, u. a. In andern Fällen wird die Höhlung nicht durch Ausstülpung, sondern durch Gewebewucherungen hervorgebracht, die schließlich die Ansiedelungsstelle der Tiere rings umwölben (Umwallungsgallen), z. B. bei den hülsenähnlichen Terpentingalläpfeln (Carobe di Giuda), die an Pistacia-Arten durch Blattläuse hervorgerufen werden, oder bei den Auftreibungen am Blattstiel der Pappeln (mit den Blattläusen Pemphigus bursarius und P. spirothecae, Fig. 3). In die Markgallen (Fig. 5 u. 6) gelangen die Bewohner im Eizustand[280] und werden als Larven (Fig. 6 b) vom innern Zellgewebe der Galle ernährt. Hierher gehören z. B. die ringsgeschlossenen Galläpfel, die häufig eine auffallende Ähnlichkeit mit Früchten zeigen und meist verschiedene Schichten, eine Rinden-, Hart- und Mark- oder Nährschicht, ausbilden; manche Formen zeigen auch eine Sonderung in eine Außen- und Innengalle. Sie kommen ferner einkammerig, wie bei kugeligen, der Blattunterseite von Eichenblättern aufsitzenden, durch Dryophanta scutellaris Ol. verursachten Eichengalläpfel, oder mehrkammerig vor, wie bei den bekannten moosartig behaarten Rosenschlafäpfeln oder Bedeguaren (Fig. 4). Letztere enthalten zahlreiche, von Rhodites Rosae L. und verwandten Arten bewohnte Larvenkammern. Einige Markgallen, z. B. die von einer Gallmücke (Hormomyia Reaumuriana) bewohnten G. an Lindenblättern (Fig. 13 u. 14), besitzen Öffnungseinrichtungen, durch die ein Deckel abgeworfen und dadurch dem Bewohner der Austritt erleichtert wird. Unter den zusammengesetzten G. unterscheidet man Knoppergallen, die durch Anschwellung mehrerer dichtgedrängter Sproßglieder, z. B. in Form beblätterter Zapfen (mit Aphilothrix- und Cynips-Arten, Fig. 16, 17 u. 19), an verschiedenen Eichenarten entstehen, Kuckucksgallen, die wie die ananasähnliche Galle der Fichtenblattlaus (Chermes abietis) nur am Grunde der Sprosse auftreten, während deren Spitze weiterwächst, und endlich Klunkergallen, für die eine Häufung von Blattgebilden zu Knäueln oder Schöpfen charakteristisch ist; für letztere bilden die zapfenähnlichen Kiekbeeren am Wacholder (mit Hormomyia juniperina, Fig. 15), die durch Gallmücken (Cecidomyia rosaria) veranlaßten Weidenrosen mit dichtgedrängten Blattrosetten, die Blattquasten an Simsen (mit dem Blattfloh Livia juncorum) u. a. häufig vorkommende Beispiele. Auch die Blütenregion, z. B. bei Arten von Teucrium, Lotus, Verbascum, oder die Triebspitzen, z. B. von Thymian (Fig. 20), Veronica u. a., werden durch Gallmücken zu zwiebel- oder knopfförmigen Klunkergallen umgestaltet. Die Zahl der beschriebenen Gallenformen beträgt mehr als 4000. Am meisten sind die Eichenarten der Gallenerzeugung, und zwar auf der Rinde (mit Aphilothrix Sieboldi, Fig. 8), der Achse (mit Cynips Kollarii, Fig. 7), den Blättern (mit verschiedenen Arten von Neuroterus und Spathegaster, Fig. 9,10,11 u. 12), den Knospen (mit Cynips polycera, Fig. 17) und den Früchten (mit Cynips caput medusae, Fig. 18) ausgesetzt, da von ihnen über 200 verschiedene Cecidien, darunter auch die in den Handel gebrachten orientalischen (mit Cynips tinctoria Htg. auf Quercus infectoria Oliv.). ungarischen (mit Cynips lignicola Htg. und C. hungarica Htg. auf Stiel- und Steineiche), italienischen etc. Galläpfel, die Knoppern an den Fruchtnäpfchen der Eichel (mit Cynips calicis Burgsd.) u. a., bekannt. Auch Gallen von Tamarix und Rhus kommen aus China und Japan sowie solche von Pistacia aus Kleinasien und Nordafrika in den Handel. Von besonderer Bedeutung für die Unterscheidung der G. ist das Verhalten ihrer Bewohner. In vielen Fällen bleiben dieselben zeitlebens an der Außenseite der gallentragenden Pflanzenteile und dringen niemals in das innere Gewebe derselben ein, wie die meisten Gallmilben und Halbflügler. Andernfalls dringt das gallerzeugende Insekt entweder als Larve durch die Epidermis in das innere Pflanzengewebe, wie bei vielen Gallmücken, Fliegen und Käfern, oder es gelangt durch besondere Bohrvorrichtungen der Imagoform schon im Eizustand in das Pslanzeninnere, wie bei den Blatt- und Gallwespen. Hieraus ergibt sich die Unterscheidung von äußern und innern G. sowie von Larven- und Imagogallen; letztere beiden Formen werden auch als Skoläo- und Oocecidien bezeichnet. Endlich kommt in Betracht, ob die Bewohner einer Galle sich in derselben fortpflanzen und also ungleiche Generationen nebeneinander vorhanden sind, oder ob die Bewohner nur ein und derselben Generation angehören, die außerhalb der Galle zur Fortpflanzung schreitet; ersteres geschieht in vielen G. von Halbflüglern, Milben und Würmern, letzteres ist bei den Cecidien der Dipteren, Käfer, Schmetterlinge und Hautflügler der gewöhnliche Fall. – Springende G., s. Bohnen, springende.

Vgl. Malpighi, De gallis (in den »Opera«, Bd. 1, Lond. 1687); Mayr, Mitteleuropäische Eichengallen (Wien 1871); Thomas, Über Phytoptocecidien etc. (»Zeitschrift für die gesamten Naturwissenschaften«, 1869ff.); Bergestamm und F. Löw, Synopsis ecidomyidarum (Wien 1876); Mayr, Die europäischen Arten der gallenbewohnenden Cynipiden (das. 1882); Fr. Löw, Revision der paläarktischen Psylloden (das. 1882); R. v. Schlechtendal, Die Gallbildungen der deutschen Gefäßpflanzen (Zwickau 1891); Hieronymus, Beiträge zur Kenntnis der europäischen Zoocecidien (Ergänzungsheft zum 68. Jahresbericht der Schles. Gesellschaft s. vaterländ. Kultur, 1890); Riedel, G. und Gallwespen (Stuttg. 1896); Frank, Die Krankheiten der Pflanzen, Bd. 3 (2. Aufl., Bresl. 1896); Darboux u. Houard, Catalogue systematique des Zoocécidies de l'Europe (Par. 1901) und Hilfsbuch für das Sammeln der Zoocecidien (Berl. 1902, in latein. Sprache); Kieffer, Synopsis des Zoocécidies d'Europe (»Annales de la Société entomologique de France«, Bd. 70, Par. 1902); Roß, Die Gallenbildungen (Cecidien) der Pflanzen (Stuttg. 1904); Eckstein, Pflanzengallen und Gallentiere (Leipz. 1891).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 280-281.
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