Ohrenkrankheiten

[4] Ohrenkrankheiten, die Erkrankungen des Gehörorgans und seiner Nebenorgane. Die wissenschaftliche Entwickelung der Ohrenheilkunde datiert erst vom Beginn der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, nachdem durch die pathologisch-anatomischen Forschungen Toynbees, durch die Verbesserungen der Untersuchungsmethoden von Tröltsch in Würzburg und durch die Erfindung einer neuen Heilmethode durch Politzer in Wien die Grundlagen für die Erkenntnis und rationelle Behandlung der O. geschaffen worden waren. Gegenwärtig kann die Ohrenheilkunde (Otiatrik) den andern Spezialzweigen der Medizin als ebenbürtig angereiht werden. Zur Untersuchung des äußern Gehörganges und des Trommelfelles benutzt man verschieden weite Trichter aus Metall oder Hartgummi, die man unter Geradestreckung des häutigen Gehörganges durch Abziehen der Ohrmuschel in den Eingang des äußern Gehörganges vorschiebt. Hierauf wird mittels eines in der Mitte durchlöcherten Hohlspiegels Tageslicht oder künstliches Licht in den Gehörgang geworfen und das beleuchtete Trommelfell durch die Öffnung im Spiegel besichtigt (Ohrenspiegel, Otoskop). Sehr wichtig ist die Untersuchung der Ohrtrompete, jener Röhre, welche die Rachenhöhle mit der Paukenhöhle verbindet. Hierzu dient unter anderm der Valsalvasche Versuch, der darin besteht, daß man bei geschlossenem Mund und Nase durch eine kräftige Ausatmungsbewegung die Luft durch die Ohrtrompete in die Paukenhöhle preßt, wobei der Arzt durch den sein Ohr mit dem des Kranken verbindenden Auskultationsschlauch das Anschlagen der Luft am Trommelfell wahrnimmt. Mißlingt dieser Versuch wegen starker Widerstände in der Ohrtrompete, so benutzt man den Ohrkatheter, eine gekrümmte Röhre aus Metall oder Hartgummi, die durch die Nase in die Ohrtrompete eingeführt wird, und durch die Luft, Dämpfe und medikamentöse Flüssigkeiten in das Mittelohr eingebracht werden können. Bei Verstopfung der Ohrtrompete, z. B. durch Schleim, benutzt man auch das Politzersche Verfahren, das darin besteht, daß man, während der Kranke eine[4] Schluckbewegung macht, die Luft im Nasen-Rachenraum mittels eines Ballons verdichtet und in das Mittelohr preßt, wobei man das Instrument nur in das eine Nasenloch einführt, während das andre zugehalten wird. Zur Prüfung der Hörfähigkeit bedient man sich des Tickens einer Taschenuhr (selbstverständlich muß man vor Beginn der Prüfung feststellen, auf welche Entfernung ein normal Hörender das Ticken noch wahrnimmt) oder des von Politzer erfundenen Hörmessers sowie der Flüstersprache und der Stimmgabel, durch die man häufig bestimmen kann, ob die Krankheit im Mittelohr oder im Labyrinth ihren Sitz hat. Jedes Ohr muß für sich untersucht werden. Die O. entstehen direkt im Ohr oder werden von der erkrankten Schleimhaut des Nasen-Rachenraums etc. auf jenes fortgeleitet, auch sind sie oft Folge von Skrofulose, Tuberkulose, Syphilis.

Von den Krankheiten der Ohrmuschel ist hervorzuheben die Ohrblutgeschwulst (Othaematoma), ein durch Mißhandlung, Verletzung etc. bedingter, oft auch infolge eigentümlicher Erweichungsprozesse im Ohrknorpel entstehender Bluterguß in das Gewebe der Ohrmuschel, und zwar in den Knorpel der Ohrmuschel hinein, selten zwischen Knorpel und das diesen überziehende Perichondrium, wird besonders bei Geisteskranken beobachtet und durch Entleerung des Blutes durch einen Einschnitt oder Anlegung eines Druckverbandes oder durch schonende Massage beseitigt. Der äußere Gehörgang wird bisweilen durch eingetrocknetes Ohrenschmalz verstopft, wobei Schwerhörigkeit, Ohrensausen, Kopfschmerzen und Schwindel entstehen können. Durch vorsichtiges, geduldig wiederholtes Einspritzen von lauwarmem Kochsalzwasser wird das Ohrenschmalz erweicht und zutage gefördert. Eine häufige Ursache von lästigem Juckreiz im äußern Gehörgang gibt den Ausschlag, zuweilen verbunden mit Ansiedelung von Pilzen, besonders Schimmelpilzen. Bei der Furunkulose des äußern Gehörganges finden sich kleine schmerzhafte Geschwüre, die leichte Schwerhörigkeit, selbst mäßiges Fieber veranlassen und große Neigung zu Rückfällen besitzen. Im Furunkeleiter fand man Mikrokokken, und man behandelt die Furunkulose deshalb antiseptisch durch Bepinseln mit Karbolglyzerin (0,5:15,0), Einträufeln von lauwarmem Borsäurespiritus (1:20), oder man schneidet den Furunkel mit einem Messerchen ein. Gleichfalls antiseptische Behandlung erfordert die diffuse Entzündung des äußern Gehörganges, bei der dieser in seinem ganzen Verlauf geschwollen und gerötet ist und unter heftigen bohrenden Schmerzen und Schwerhörigkeit ein schleimiger, schließlich eiteriger Ohrenfluß eintritt. Auch die Syphilis kann sich im äußern Gehörgang lokalisieren und bedarf einer Lokalbehandlung, verbunden mit einer Allgemeinkur. Ohrpolypen treten besonders nach langdauernden Ohrenflüssen auf und werden durch Operation beseitigt. Einer sachkundigen Behandlung bedürfen ins Ohr geratene Fremdkörper, da sie bei längerm Verweilen schwere Schädigungen des Gehörorgans nach sich ziehen können. Die Entzündung des Trommelfelles (Myringitis) verursacht heftige reißende Schmerzen, Schwerhörigkeit, Ohrensausen und führt zur Durchbohrung des Trommelfelles und eiteriger Entzündung der Paukenhöhle oder zu schwieliger Verdickung des Trommelfelles. Durch Kanonenschuß, Schlag aus Ohr oder durch Bohren mit spitzen Gegenständen kann eine mechanische Zerstörung des Trommelfelles herbeigeführt werden, bei der Spülungen peinlich zu vermeiden sind und das Ohr durch Einführen eines Wattepfropfes vor äußern Schädlichkeiten zu schützen ist. Eins der häufigsten Ohrenleiden ist die Entzündung oder der Katarrh des Mittelohrs oder der Paukenhöhle (Otitis media). Sie entsteht durch Fortpflanzung katarrhalischer Affektionen des Nasen-Rachenraums, aber auch im Verlauf gewisser Infektionskrankheiten. Bei akutem Mittelohrkatarrh treten plötzlich Schwerhörigkeit, Ohrensausen, heftige Schmerzen ein; wird das Übel chronisch, so nimmt es meist einen sehr langwierigen Verlauf, verursacht Verdickungen und Wulstungen der Paukenhöhlenschleimhaut, Zerstörung des Trommelfelles und der Gehörknöchelchen, übelriechenden Ohrenfluß (Otorrhöe), bisweilen selbst Knochenfraß des Felsenbeins, Affektion der Gehirnhäute und des Gehirns und infolgedessen den Tod. Aus diesem Grund ist jede Mittelohreiterung mit der größten Aufmerksamkeit zu behandeln und jedes Wiederaufflackern der Entzündung nachdrücklich zu bekämpfen. Hier hat nun nach Entdeckungen von massenhaften Mikrokokken im übelriechenden eiterigen Ausfluß das antiseptische Verfahren die günstigsten Erfolge erzielt. Nur selten wendet man noch adstringierende Salzlösungen, wie Zinksulfat oder Ätzungen mit Höllenstein an. Vielmehr sorgt man zunächst für gründliche Beseitigung des eiterigen Sekrets aus dem Mittelohr durch Lufteintreibung mittels des Politzerschen Verfahrens, spritzt dann mit schwachen Lösungen von Borsäure, Salizylsäure, Karbolsäure oder übermangansaurem Kali aus, entfernt etwaige eingedickte Sekretmassen, trocknet dann das Ohr durch entfettete Watte und wendet nun Borsäurepulver, Einträufelungen von Karbolsäurelösung (1:15 Wasser und 15 Alkohol) oder Jodoformpulver an. Bei nicht reichlicher, nicht übelriechender Sekretion hat man auch gute Erfolge mit Trockenbehandlung, d.h. häufigeres Einführen von kleinen, keimfreien Gaze- oder Wattetampons. Häufig sind bei Mittelohreiterung oder nach Ablauf derselben operative Eingriffe erforderlich. Kleine Öffnungen im Trommelfell, die einen genügenden Abfluß des Eiters oder den Austritt käsiger Massen aus der Trommelhöhle nicht ermöglichen, werden durch eine Lanzennadel oder ein schmales Messerchen erweitert, oder es wird zum Zwecke des Abflusses das Trommelfell perforiert (Parazentese des Trommelfelles). Nach Möglichkeit soll man es in letzterm Falle nicht erst zum spontanen Durchbruch des Trommelfelles kommen lassen. Dieselbe Operation ist angezeigt, wenn hinter dem Trommelfell Polypen oder Granulationen wuchern, die nur nach Erweiterung der Perforationsöffnung operativ entfernt werden können. Nach abgelaufenen Mittelohreiterungen bleiben oft narbige Verwachsungen zwischen Trommelfell, Knöchelchen und der innern Trommelhöhlenwand zurück, welche die Schwingbarkeit der Schalleitungsapparate hemmen. Solche Verwachsungen lassen sich bei der Ohrspiegeluntersuchung mit Hilfe der pneumatischen Trichter von Siegle erkennen und können oft mit gutem Erfolg operativ beseitigt werden. Gegen gewisse Folgezustände von Mittelohrentzündungen und Mittelohreiterungen hat man neuerdings sich der sogen. Pneumomassage bedient, d.h. schnell aufeinanderfolgende Verdichtungen und Verdünnungen der Luft des äußern Gehörganges, am besten mittels eines elektrisch betriebenen Motors.

Das Problem, offen gebliebene Lücken im Trommelfell nach abgelaufenen Mittelohreiterungen zum Verschluß zu bringen, wurde zwar versucht, z. B. durch Transplantation von Hautlappen, Eischalenhäutchen[5] etc., ist aber bisher nicht befriedigend gelöst worden. Berthold hat durch die Myringoplastik, d.h. durch Transplantation eines kleinen Hautlappens auf die Ränder der Trommelfellücke, in einem Falle Verschluß der Öffnung erzielt. Außer der eiterigen Form der Mittelohrentzündung gibt es noch eine besondere Form, die sogen. trockne Mittelohrentzündung, auch Sklerose der Trommelhöhle genannt, die sich durch mehr oder weniger rasch zunehmende Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen bei Personen mit ererbter Prädisposition kennzeichnet, sehr häufig zu Taubheit führt und der Behandlung nur wenig zugänglich ist. Bei akuten, schmerzhaften Entzündungen des Warzenfortsatzes leistet der Leitersche Kühlapparat vorzügliche Dienste. Derselbe besteht aus 6–8 aneinander liegenden Windungen einer Bleiröhre, durch die ein konstanter Strom von kaltem Wasser fließt. Eine ähnliche Wirkung übt eine Eisblase aus, während von den heißen Umschlägen und Bähungen mit heißen Dämpfen bei Mittelohrentzündungen nur mit Vorsicht Gebrauch zu machen ist. Glänzende Erfolge werden durch die früher nur selten geübte, von Jasser zuerst an Lebenden ausgeführte operative Eröffnung des Warzenfortsatzes erzielt. Bei Ansammlung von Eiter und verkästen Massen in den Zellen des Warzenfortsatzes, bei Karies des Knochengewebes erscheint die Eröffnung um so dringender indiziert, als bei diesen Prozessen nicht selten ein Durchbruch gegen die Schädelhöhle oder die Hirnblutleiter mit tödlichem Ausgang eintreten kann, wenn nicht vorher dem Eiter und den abgestoßenen Knochenteilen durch eine operative Eröffnung mit Meißel und Hammer (Schwartze) ein Weg nach außen geschaffen wird. Nach solchen Operationen heilen auch langwierige chronische Mittelohreiterungen in kürzerer oder längerer Zeit aus.

Die nervöse Schwerhörigkeit oder nervöse Taubheit beruht auf Erkrankung des innern Ohrs oder Labyrinths oder des Gehörnervs oder seiner Ursprungsstelle im Gehirn und entsteht besonders nach andauernder Überreizung der Gehörnerven, nach heftiger Erschütterung des Ohrs und starken Gemütsbewegungen, bisweilen auch nach schweren, fieberhaften Krankheiten und im Verlauf mancher chronischer Nervenleiden. Man hat bei diesen Leiden den galvanischen Strom mit Vorteil angewandt. Zu den Hörnervenkrankheiten gehören auch die interessanten partiellen Tondefekte. Bei einzelnen Kranken entwickelt sich Taubheit für tiefe Töne (Baßtaubheit), bei andern kommt es zum bleibenden Verlust der Perzeption für hohe Töne. Seltener fallen einzelne Töne in der Skala vollständig aus.

Die Panotitis, bei der das ganze Gehörorgan (Mittelohr und Labyrinth) von der Entzündung mit dem Ausgang in totale, unheilbare Taubheit befallen wird, beobachtet man vorzugsweise bei der skarlatinösen Diphtheritis des Gehörorgans. Bei den mit Schwindelanfällen, Erbrechen, Unsicherheit des Ganges und Ohrensausen verbundenen Erkrankungen des Hörnervenapparats (Menierescher Symptomenkomplex) wurde schwefelsaures Chinin mit gutem Erfolg angewendet. – Die Hörstörung bei der Lokalisation der Syphilis im Labyrinth entwickelt sich meist sehr rasch und erreicht gewöhnlich einen sehr hohen Grad. Die Wahrnehmung des Uhrückens und die Stimmgabelschwingungen durch die Kopfknochen ist verringert oder ganz geschwunden. Diese Erscheinung im Zusammenhalt mit den andern Syphilissymptomen läßt bei rascher Entwickelung der Taubheit auf Labyrinthsyphilis schließen. Heilung ist nur bei frischern Fällen möglich. Die Quecksilberkur (Schmierkur) erweist sich wirksamer als die Jodkur. Die Lähmungen (Paresen und Paralysen) des Hörnervenapparats treten primär oder sekundär bei Erkrankungen des Mittelohrs oder des Zentralnervensystems auf. Die Hörstörung ist bei längerer Krankheitsdauer fast immer unheilbar. Die Behandlung besteht vorzugsweise in der Anwendung des konstanten elektrischen Stromes, indem die Anode mit dem Ohre, die Kathode mit der Handfläche oder dem Nacken in Berührung gebracht wird. Man bedient sich hierbei allmählich ansteigender Ströme bis zum Eintritt von Schmerz und Schwindel, worauf wieder der Strom allmählich abgeschwächt wird.

Vom Gehirn ausgehende Hörstörungen sind keineswegs selten. Am häufigsten wird Taubheit infolge der epidemischen Cerebrospinalmeningitis (Genickkrampf) beobachtet, seltener nach der primären Hirnhautentzündung. Hirnblutungen (Apoplexie), Hirnerweichung, Hydrokephalus und Neubildungen im Gehirn bedingen nicht selten Schwerhörigkeit verschiedenen Grades. Eine eigentümliche Form der Hörstörung, die man als Aphasie (Worttaubheit), bezeichnet, wird bei Erkrankungen der dritten linken Stirnwindung des Großhirns wahrgenommen. Die betreffenden Kranken hören wohl das Gesprochene, sind aber nicht imstande, dasselbe zu verstehen, d.h. das Wort mit der entsprechenden Vorstellung zu verbinden. Vgl. v. Tröltsch, Lehrbuch der Ohrenheilkunde (7. Aufl., Leipz. 1881) und Gesammelte Beiträge zur pathologischen Anatomie des Ohrs (das. 1883); Politzer, Lehrbuch der Ohrenheilkunde (4. Aufl., Stuttg. 1901) und Atlas der Beleuchtungsbilder des Trommelfells im gesunden und kranken Zustand (Wien 1896); Moos, Klinik der O. (das. 1866); Hartmann, Die Krankheiten des Ohrs und deren Behandlung (7. Aufl., Berl. 1902); Schwartze, Die Erkrankungen des Gehörorgans (in Klebs' »Handbuch der pathologischen Anatomie«, Bd. 2, das. 1878), Lehrbuch der chirurgischen Krankheiten des Ohrs (Stuttg. 1885) und Handbuch der Ohrenheilkunde (mit Berthold, Bezold, Bürkner u.a., Leipz. 1892–1893, 2 Bde.); Urbantschitsch, Lehrbuch der Ohrenheilkunde (4. Aufl., Wien 1901); Jacobson und Blau, Lehrbuch der Ohrenheilkunde (3. Aufl., Leipz. 1902); Kirchner, Handbuch der Ohrenheilkunde (7. Aufl., das. 1904); Bezold, Überschau über den gegenwärtigen Stand der Ohrenheilkunde (Wiesbad. 1895); Blau, Enzyklopädie der Ohrenheilkunde (Leipz. 1900); Brühl und Politzer, Atlas und Grundriß der Ohrenheilkunde (Münch. 1901); Friedrich, Rhinologie, Laryngologie und Otologie in ihrer Bedeutung für die Allgemeinmedizin (Leipz. 1899); Körner, Die eiterigen Erkrankungen des Schläfenbeins (Wiesbad. 1899) und Die otitischen Erkrankungen des Hirns, der Hirnhäute und der Blutleiter (3. Aufl., das. 1902); Röpke, Die Berufskrankheiten des Ohrs etc. (das. 1902).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 15. Leipzig 1908, S. 4-6.
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