Sankt Gotthard [1]

[561] Sankt Gotthard, ein mächtiger Gebirgsknoten der Lepontinischen Alpen, auf der Grenze der Schweizer Kantone Uri, Wallis, Tessin und Graubünden, bildet ein über 40 km langes Rhomboid zwischen dem Nufenenpaß im SW. und dem Lukmanier im NO., abgegrenzt gegen das Aarmassiv im NW. durch Oberwallis, Furka, Urserental, Oberalp und Vorderrheintal bis Disentis, im Süden durch Val Bedretto und Val Canaria. Die Gruppe kulminiert im Pizzo Notondo (3197 m) und umfaßt außer dem berühmten Gotthardpaß (2114 m) im W. das Winterhorn oder Piz Orsino (2666 m), Pizzo Vinei oder Lucendro (2959 m) und Fibbia (2742 m), im O. den Monte Prosa oder Sasso di San Gottardo (2738 m) und das Tritthorn oder Pizzo Centrale (3002 m). Letzterer, der zentralste Gipfel (bei Dufour irrtümlich Blauberg genannt), gewährt eine ausgezeichnete Zentralansicht der Alpen (Panorama von Heim). Den S. umgeben im O. der Badus (Sir Madun, 2931 m), im SW. Piz Basodino (3276 m), die Monte Leone-Gruppe (3558 m, Ofenhorn 3242 m) u.a. Als Fundort seltener Mineralien (Silikate, Bergkristall e, Eisenglanz etc.) ist der S. berühmt. Das Gebirge besteht aus kristallinen Gesteinen (Protogin, Gneis, Hornblendeschiefer, Glimmerschiefer, Dolomit, Gips, Marmor, letzterer an den Nord- und Südflanken), die fächerartig ausgerichtet sind, so daß sie auf dem Paß vertikal stehen, von da gegen N. südlich, gegen Süden nördlich einfallen. Der ganze Paß ist durch die eiszeitlichen Gletscher rundbuckelig umgeformt und auf der Wasserscheide in zahlreichen Seebecken ausgeschliffen, wovon sieben auf der Paßhöhe selbst liegen. Dem Lucendrosee, etwas abseits westlich von der Paßhöhe, entströmt der Hauptarm der Reuß. Zwei nicht minder große Seen liegen etwa 5 km weiter nach O. im Val Sella; ihnen entspringt der Tessin, der dann überdies die Abflüsse der Seen der Paßhöhe in sich aufnimmt. Diese Hochseen beherbergen keine Fische, nur einige Lurche, und kaum zwei Monate bleibt ihr Wasser eisfrei. Auf der Paßhöhe steht ein aus milden Gaben unterhaltenes, nach dem Bischof Gotthard (s. d.) benanntes Hospiz, wo ein Tessiner »Spittler« den Wirt macht und ein Kaplan den Gottesdienst versieht, und in dem arme Reisende (10–12,000 jährlich) unentgeltlich Unterkunft und Erquickung erhielten. Für die Bedürfnisse der übrigen Passanten, namentlich der Touristen, bestehen noch zwei Gast häuser (darunter seit 1867 das komfortable Hotel della Prosa). – Bis etwa 1225 war der Gebirgsstock des S. (mons Elvelinus genannt) völlig ungangbar; erst damals wurde als örtlicher Verkehrsweg der Paß gangbar gemacht; damit war die Rheinstraße dem internationalen Verkehr eröffnet. Die Vorbedingung für dieses Ereignis war der Bau der »Stiebenden Brücke« über die Schöllenenschlucht, die früheste Eisenkonstruktion. Seit dem 14. Jahrh. heißt der Berg nach dem an der Paßstraße am Nordfuß des Berges angelegten Hospiz, dessen Entstehungszeit unbekannt ist, Dorf Hospenthal. 1629 entstand eine Herberge auf der Paßhöhe, seit 1683 von Kapuzinern besorgt. 1707 wurde der Tunnel des Urner Loches gesprengt, dadurch die »Stiebende Brücke« überflüssig gemacht und der Verkehr erleichtert. Noch aber blieb die Straße bloß ein 3–4 m breiter, mit großen Rollsteinen gepflasterter Saumpfad, und bei gutem Wetter brauchte man von Flüelen bis Bellinzona 4 Tage. Die erste Kutsche (die des englischen Mineralogen Greville) befuhr 25. Juli 1775 den Paß. 1799 kämpften in diesen Gebirgshöhen die Franzosen und Russen (s. Suworow). Die neue Gotthardstraße datiert aus den Jahren 1820–24; sie hat 5,5 m Breite und 5–7 Proz., in der Schöllenen bis 10 Proz. Steigung. Zum Schutz der Reisenden sind auf der Strecke Hospenthal-Airolo vier Kantonieren, je zwei nördlich und südlich vom Hospiz, errichtet. Seit Eröffnung der Gotthardbahn (1882) dient die Straße nur noch dem Lokal- und Touristenverkehr; vorher führte die Post jährlich 65–70,000 Reisende über den Gotthardpaß.

Die Gotthardbefestigung, seit 1885 mit einem Aufwand von über 40 Mill. Fr. ausgeführt, erstreckt sich vom Urnerloch bis Airolo und von der Furka bis Oberalp und schafft mit den Werken von Saint-Maurice (s. d. 2) und Luzisteig eine feste Südfront mit den einzigen stehenden Truppen der Schweiz. Sie besteht aus folgenden Werken: die Fuchsegg-Redoute am Furkapaß beherrscht die Straße aus dem Wallis nach Andermatt, das Oberalpfort die von Andermatt nach Disentis im Vorder-Rhein tal; die Befestigungswerke von Andermatt und am Urnerloch decken die Straße und den Schienenweg des Reußtals und diejenigen von Airolo Straße und Bahnlinie im Tale des Tessin. S. Karte »Schweiz«.

[Gotthardbahn] Der Bau der Bahn hatte nicht nur für die Schweiz, sondern auch für Deutschland und Italien großes Interesse, sie eröffnete dem schweizerischen Handel eine billigere und kürzere Verbindung mit Italien, sicherte der Schweiz den Durchgangsverkehr zwischen Italien und Deutschland und diesen beiden Staaten die Verbindung durch einen neutralen Staat. Der Plan einer Gotthardbahn tauchte zuerst 1851 auf, gewann in den 1860er Jahren festere Gestalt, und 1869 trat in Bern eine Gotthardkonferenz zusammen, an der sich der Norddeutsche Bund, Württemberg, Baden, Italien und die Schweiz beteiligten. Noch in demselben Jahr wurde zwischen der Schweiz und Italien ein Staatsvertrag abgeschlossen, dem 1871 das Deutsche Reich beitrat. Auf Grund dieses Vertrages bildete sich im Dezember 1871 die Gotthardbahngesellschaft (Sitz in Luzern). Das Baukapital, das auf 187 Mill. Frank veranschlagt war, wurde durch Ausgabe von Aktien im Betrage von 34 Mill. Fr. und von Obligationen im Betrage von 68 Mill. Fr. aufgebracht. Dazu kamen die Subventionen von Italien mit 45 Millionen, von der Schweiz und dem Deutschen Reich mit je 20 Mill. Fr. Das Eigentumsnetz der Gotthardbahn umfaßt die Linien von Luzern über Immensee und von (Zürich) Thalwil über Zug nach Goldau, dann weiter über Schwyz, Brunnen, Flüelen, Göschenen, Airolo, Bellinzona, Lugano bis Chiasso (unweit Como) als Grenzstation nebst Abzweigungen von Bellinzona nach Luino und Locarno,[561] beide am Lago Maggiore. Die Gesamtlänge mißt 276 km. Die nördlichen direkten Zufahrtslinien von Luzern und Zürich sind erst zu Ende des 19. Jahrh. gebaut, bis dahin wurden andre Schweizer Bahnen benutzt. Am 1. Okt. 1872 begann der Bau des großen Tunnels zwischen Göschenen und Airolo, dessen Bau Louis Favre (s. d. 4) übernommen hatte. Es waren 8 Jahre Bauzeit vorgesehen, doch erfolgte der Durchschlag nach dem Tode Favres erst Ende Februar 1880 und die Vollendung Ende 1881. Im Mai 1882 wurde der Betrieb eröffnet. Die von Gerwig (s. d.) für das gesamte Unternehmen mit seinen zahllosen Schwierigkeiten (mehr als 50 Tunnel) auf Grund von Aufnahmen in viel zu kleinem Maßstab (1: 2500) ermittelte Bausumme von 187 Mill. Fr. erwies sich in der Folge, namentlich durch die grundlegenden Arbeiten Hellwags (s. d.), der 1876 an die Stelle Gerwigs trat, als zu gering. 1877 trat die Gotthardkonferenz in Luzern zusammen, und es gelang unter nachträglicher Beteiligung der Gotthardstaaten (Deutschland und Italien mit je 10, die Schweiz mit 8 Mill. Fr.) die Bauausführung zu sichern, die nach dem Rücktritt Hellwags von Bridel geleitet wurde. Die Gotthardbahn hat 80 Tunnel und Galerien (Gesamtlänge 46 km) und 324 Brücken mit mehr als 10 m Spannweite. Der Scheiteltunnel ist 14,944 km lang und liegt im Scheitel 1154,55, bei Göschenen 1109, bei Airolo 1145 m ü. M. Er ist mit Ausnahme einer 145 m langen Kurve (mit 300 m Radius), die in der zur Station Airolo führenden Strecke liegt, gerade. Die Baukosten (außer Oberbau, Telegraphen, Signale etc.) betrugen 59,75 Mill. Fr. Von den übrigen Tunnels sind zu nennen:

Tabelle

Dazu kommt auf der 1897 eröffneten Strecke Thalwil-Zug der Albistunnel mit 3358 m Länge. Die größte Steigung der Gotthardbahn beträgt in den höhern Lagen 25 pro Mille, auf den tiefern, klimatisch günstigern Strecken an der Nordseite bis 26, südwärts bis 27 pro Mille (s. auch Gebirgseisenbahnen mit Abbildungen). Vgl. K. v. Fritsch, Das Gotthardgebiet (in den »Beiträgen zur geologischen Karte der Schweiz«, Bern 1874); Spitteler, Der Gotthard (Frauens. 1897); Schulte, Geschichte des mittelalterlichen Handels und Verkehrs zwischen Westdeutschland und Italien (Leipz. 1900, 2 Bde.); Reinhard, Topographisch-historische Studien über die Pässe und Straßen der Walliser etc. Alpen (Luzern 1901); Wanner, Geschichte der Begründung des Gotthardunternehmens (Bern 1880) und Geschichte des Baues der Gotthardbahn (Luzern 1885); Berlepsch, Die Gotthardbahn (Ergänzungsheft 65 zu »Petermanns Mitteilungen«, Gotha 1881); Bechtle, Die Gotthardbahn (Stuttg. 1895); Stapff, Geologische Übersichtskarte der Gotthardbahnstrecke (10 Blätter, 1: 25,000, Berl. 1885).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 17. Leipzig 1909, S. 561-562.
Lizenz:
Faksimiles:
561 | 562
Kategorien:

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Alceste. Ein Singspiel in fünf Aufzügen

Alceste. Ein Singspiel in fünf Aufzügen

Libretto zu der Oper von Anton Schweitzer, die 1773 in Weimar uraufgeführt wurde.

38 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon