Tollwut

[596] Tollwut (Wutkrankheit, Hundswut, Wasserscheu, Lyssa, Rabies canina), eine anscheinend für alle Säugetiere, selbst Vögel, namentlich aber auch für den Menschen gefährliche Infektionskrankheit, die jedoch den Hunden in erster Linie eigentümlich ist und von diesen (nur gelegentlich) auf andre Geschöpfe übertragen wird. Der Ansteckungsstoff ist noch nicht gesehen, aber seine körperliche Natur ist nachgewiesen. Negri hat 1903 eigentümliche körperliche Gebilde entdeckt, die sich bei 95 Proz. aller Tollwutfälle in den Nervenzellen nachweisen lassen und die Diagnose sicherstellen. Ob diese Negrischen Körperchen jedoch Entwickelungsformen des Wutparasiten oder ein Produkt desselben oder die von ihm angegriffenen Zellen sind, ist noch strittig. Jedenfalls aber ist das Wutgift selbst in Gehirn, Rückenmark und Nervenbahnen enthalten, außerdem in gewissen flüssigen Erzeugnissen des Körpers, namentlich auch im Speichel, dagegen nicht im Blut. Es ist auch an diese Substanzen gebunden und kann nur direkt übertragen werden, was durch den mit dem Hundebiß in die Wunde gelangenden Speichel geschieht. Von der Wunde aus wandert das Gift in den Nervenbahnen zum Rückenmark. Außerhalb des Körpers erhält sich das Wutgift nicht lange, immmerhin einige Tage, im vergrabenen Kadaver bis zu 11/2 Monat. Ist ein Hund von einem tollen Hunde gebissen worden, so vergehen in der Regel 3–6 Wochen (ausnahmsweise jedoch nur einige Tage oder bis zu einem Jahr), bevor die T. ausbricht. Schon 2–3 Tage vor dem offenen Ausbruch enthält aber der Speichel das Wutgift. Die T.[596] äußert sich, je nachdem das Wutgift nur im Rückenmark oder auch im Gehirn sich entwickelt hat, als stille oder meistens als rasende Wut und zeigt verschiedene Stadien. In dem vorbereitenden Stadium (1–2 Tage) zeigt der schon ansteckungsgefährliche Hund nur ein verändertes Wesen, er ist mürrisch, hastig, scheu, verkriecht sich und folgt nicht. Er fängt an, das Futter zu verschmähen, dagegen perversen Appetit zu zeigen und Holz, Lappen etc. zu verschlingen. Die früher in den Vordergrund gestellte Wasserscheu (Hydrophobie) ist mindestens keine regelmäßige Erscheinung. Dann stellt sich im zweiten Stadium ein auffälliger Drang zum Entlaufen ein, wobei der Hund mit charakteristisch veränderter, bald höherer, bald tieferer, immer heiserer Stimme ein in Heulen übergehendes Gebell (Bellgeheul) ausstößt. An die Versuche, zu entkommen, die Kette zu zerreißen etc., schließen sich Wut- und Tobsuchtsanfälle (Irritations- oder maniakalisches Stadium), welche die rasende Wut charakterisieren. Nun entwickelt sich die typische und so überaus gefährliche Beißsucht, die der umherschweifende Hund ohne jeden Anlaß an jedem ihm begegnenden Wesen ausläßt, wobei er die von gefunden Hunden respektierten Abwehrmittel keineswegs scheut. Daß man den tollen Hund an verändertem Gang und Benehmen erkennen könnte, trifft mindestens nicht regelmäßig zu. Dieses Wutstadium dauert 3–4 Tage und geht dann in das letzte, das Lähmungsstadium, über, in dem unter Lähmung des Kiefers, des Schluckapparates und schließlich der Extremitäten der Tod erfolgt. Die ganze Krankheit dauert 8, höchstens 11 Tage. Bei der stillen Wut sind die Erscheinungen des zweiten Stadiums unauffälliger, und die Lähmungserscheinungen treten früher ein. Der Obduktionsbefund gibt oft kein klares Bild, sicher aber ist die T. festzustellen durch Impfung von Versuchstieren mit Hirnsubstanz. Dies muß geschehen, wenn ein Mensch gebissen worden ist; der Kopf des Hundes ist in Deutschland an das Institut für Infektionskrankheiten in Berlin zu senden. Die Erscheinungen der T. bei den andern Haustieren sind sehr verschieden, im allgemeinen aber durch verändertes Benehmen, Aufregung, Brüllen, Stoßsucht, Geifern und schließlich Lähmungen charakterisiert. Besonders gefährlich sind natürlich tolle Katzen und Wölfe. In Deutschland ist die T. der Tiere 1880 unter das Viehseuchengesetz (s. d.) gestellt worden. Tolle Hunde werden getötet, desgleichen alle der T. verdächtigen Hunde; als solche können alle herrenlos umherschweifenden gelten. Auf die sofort zu erstattende Anzeige eines Tollwutfalles werden polizeilich auch alle diejenigen Hunde und Katzen getötet, die nachweislich oder möglicherweise gebissen worden sind; ausnahmsweise kann die dreimonatige Beobachtung eines solchen Hundes unter sicherer Absperrung gestattet werden. Ist ein der T. verdächtiger Hund frei umhergelaufen, so sind überhaupt alle Hunde und Katzen in dem gefährdeten Bezirk drei Monate lang einzusperren (Hunde können an der Leine geführt werden). Daneben ist durch Polizeiverordnung verfügt, daß frei umherlaufende Hunde einen Maulkorb tragen müssen. Der Maulkorbzwang, die Vogelfreiheit aller vagabundierenden Hunde und das allgemeine Bestreben, die Zahl der überflüssigen Hunde möglichst einzuschränken, unterstützen die Wirkungen des Gesetzes wesentlich. Der teilweise empfohlenen hohen allgemeinen Hundesteuer, die schablonenhaft der Armut auch den lieben und nützlichen Hausgefährten raubt, kann deshalb aber nicht das Wort geredet. werden. Die T. ist in Deutschland seit 1880 sehr eingeschränkt und im Innern selten geworden. In den preußischen, posenschen, schlesischen, sächsischen, bayrischen (russisch-böhmischen) Grenzkreisen, gelegentlich auch an der französischen Grenze, kommen aber immer wieder zahlreiche Fälle vor. 1902 wurden 516 tolle Hunde ermittelt, davon 445 in Preußen, und zwar 399 in den an Rußland grenzenden Provinzen. 1903 wurden in Preußen 307 Menschen von tollen oder der T. verdächtigen Tieren verletzt.

Beim Menschen entsteht die T. einige Wochen oder Monate nach dem Biß des tollkranken Tieres, jedoch kaum vor dem 30. Tag. Auch beim Menschen tritt die T. als rasende und als stille Wut auf, wie beim Hund. Die erste Form ist weitaus häufiger. Im ersten Stadium sind die Kranken sehr unruhig, ängstlich und niedergeschlagen, sie verlieren den Appetit, klagen über Übelkeit und Gliederschmerzen, und es stellt sich leichtes Fieber mit Durst und Verstopfung ein. Eitert die Wunde noch, so nimmt sie ein häßliches Ansehen an; war sie bereits geheilt, so wird sie wieder schmerzhaft und zeigt Rötung und Schwellung. Bald entsteht Steifigkeit in Hals und Nacken, namentlich beim Schlingen; der Kopf wird eingenommen, das Gesicht blaß, der Blick matt, der Puls beschleunigt, die Atmung unregelmäßig. Allmählich oder plötzlich entwickelt sich nun das zweite Stadium mit immer heftigern und häufigern Anfällen mit krampfhaften Bewegungen, großer Angst, Verzweiflung, Wut und meist nur geringer Störung des Bewußtseins. Die Kranken haben das Bedürfnis zu beißen, und manche laufen unruhig hin und her. Sie haben heftigen Durst, aber Widerwillen gegen jedes Getränk. Mitunter tritt schon beim Anblick des Getränks oder doch nach Genuß von wenig Wasser das Gefühl heftiger Zusammenschnürung im Hals oder ein Wutanfall ein, während feste Speisen noch geschlungen werden können. Ebenso können infolge gesteigerter Reflexerregbarkeit auch andre Sinneseindrücke (Geräusche, Licht, Gerüche) oder Vorstellungen Wutanfälle auslösen. Im dritten Stadium, etwa 1 bis 2 Tage später, tritt Lähmung ein, der Speichel läuft aus dem Mund oder in den Schlund und erregt Erstickungstod, der Atem wird schnell und röchelnd der Puls klein, die Stimme rauh und heiser, und der Tod erfolgt in einem Anfall oder ruhig nach einem solchen. Dies Stadium dauert nur wenige Stunden, und so verläuft die ganze Krankheit in 3 Tagen, oft in 24 Stunden. Die Sektion ergibt wenig Bemerkenswertes, jedoch sind Entzündungs- und Zerfallsherde in den Nervenzentren des Gehirns und Rückenmarks beobachtet worden. Die Prognose der ausgebrochenen T. ist ganz ungünstig, doch sind nicht alle Bisse eines tollen Hundes ansteckend, die Mehrzahl der Gebissenen erkrankt nicht. Gefährlicher sind ausgedehnte zerfleischte Wunden und solche am Kopfe. Die Behandlung muß so schnell wie möglich mit energischem Ausblutenlassen der Wunde durch tiefe Einschnitte und aufgesetzte Schröpfköpfe, Ätzungen der Wunde mit Alkalien und rauchender Salpetersäure beginnen. Kleinere, vielfach zerfleischte Glieder sind zu amputieren. Gegen die Krankheit selbst empfohlene Mittel haben sich als nutzlos erwiesen. Man beschränkt sich auf Darreichung von Chloralhydrat, auf Morphiumeinspritzungen und Chloroformeinatmungen, sucht bei Wutanfällen zu verhindern, daß der Kranke sich oder andern schaden kann, und wendet dabei möglichst geringen Zwang an. Alles, was den Kranken erregen könnte, namentlich auch das Aufdringen von Flüssigkeiten, ist zu vermeiden. Zur Ernährung dienen unter[597] Umständen Nährklistiere. Die lange Inkubationsdauer ermöglicht die Anwendung der Schutzimpfung nach dem Biß, letztere aber bleibt wirkungslos, wenn bereits die ersten Krankheitserscheinungen sich zeigen. Die Patienten müssen so frühzeitig wie möglich nach dem Biß in Behandlung kommen. Diese besteht in der häufig wiederholten Einspritzung von Rückenmarksubstanz wutkranker Tiere (Kaninchen) unter die Haut des gebissenen Menschen. Die Rückenmarksubstanz, an der, wie am gesamten Nervenapparat des Tieres, das Wutgift vorzugsweise haftet, ist in bestimmter Weise durch Austrocknen vorbehandelt und hierdurch in ihrer Giftigkeit abgeschwächt. Wird sie, in allmählich steigender Menge und Giftigkeit, während 20–30 Tagen täglich eingespritzt, so entsteht durch Bildung von Gegengiften im Körper des behandelten Menschen eine Immunität gegen T. Eine schädliche Wirkung ist bei sachverständigem Vorgehen völlig ausgeschlossen. Im Pasteurschen Institut in Paris sind mit der Impfung gute Resultate erzielt worden, in Deutschland hat die preußische Regierung 1898 eine besondere Abteilung für Schutzimpfungen gegen T. an das königliche Institut für Infektionskrankheiten in Berlin angegliedert, 1905 auch in Breslau ein solches errichtet. Ähnliche Institute gibt es auch in vielen Städten des Auslandes. Vgl. die Monographien von Johnen (Düren 1874), Zürn (Leipz. 1876), Rueff (Stuttg. 1876), Reder (in der »Deutschen Chirurgie«, das. 1879), v. Frisch (Wien 1887); Bönninghaus, Über Hundswut (Leipz. 1893); Högyes, Zoonosen, 2. Abt.: Lyssa (in Nothnagels »Spezieller Pathologie und Therapie«, Wien 1897); Schüder, Die T. in Deutschland und ihre Bekämpfung (Hamb. 1904).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 596-598.
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