Inspirationsgemeinden

[937] Inspirationsgemeinden, die durch Anregung der Neuen Propheten der Camisarden in den Cevennen aus Separatisten zu Anfang des 18. Jahrh. entstandnen Secten, welche ihren Namen von der Anerkennung einer neben der Heiligen Schrift noch fortwährend bestehenden unmittelbaren göttlichen Inspiration einzelner Gläubiger, sogenannter Werkzeuge, tragen. Nach dem unglücklichen Ausgange des Religionskampfes in den Cevennen kamen 1704 viele Anführer u. außerordentliche Propheten der Reformirten, die unter krankhaften Leibeszuständen besondere göttliche Inspirationen hatten, bes. Elle Marion, Durande Fage, Jean Cavalier u. Jean Allut, nach England u. Schottland u. predigten gegen Frankreich u. das Papstthum als den Antichrist. Indeß wurden sie schon im folgenden Jahre, weil sie sich bei einer versuchten Todtenerweckung compromittirten, von der bischöflichen anglikanischen Kirchengemeinschaft ausgeschlossen. Sie waren dadurch genöthigt, eine besondere Secte zu bilden, u. Allut u. Marion wandten sich mit ihren Anhängern zu den französisch reformirten Gemeinden in den Niederlanden, wo sie aber nur wenig Einfluß ausüben konnten. Desto größer wurde ihr Ansehen bei den Pietisten u. Separatisten in Nord- u. Westdeutschland, namentlich in Halle (1713) u. Berlin (1714), wo sie besondere Gemeinden bildeten. Von Halle aus verpflanzte sich dieses Inspirationswesen durch die Gebrüder Pott, welche auch die Gabe der Inspiration besaßen, in die Wetterau, wo eine bedeutende von zumeist aus Schwaben u. Franken eingewanderten Separatisten bestehende Secte entstand, deren Häupter E. L. Gruber in Himbach bei Hanau (geb. 1665, st. 1728), A. Groß in Frankfurt, der Sattler I. F. Rox (s.d.) in Himbach u. der Einsiedler E. Chr. Hochmann in Schwarzenau bei Berleburg (geb. 1670, st. 1721) waren. So entstanden in der Wetterau seit 1714 aus zusammengetretenen Separatisten neue Gebetsgemeinschaften, welche sich eine bestimmte Verfassung gaben u. sich seit 1716 die wahren I. nannten. Vgl. I. W. Winkel, Casimir, regierender Graf zu Sayn-Wittgenstein, Bieles. 1850. Ihre Gemeindeordnung bestand in den sogenannten 24 Regeln der wahren Gottseligkeit u. des heiligen Wandels, deren Grundlage eine Aussprache Joh. Ad. Grubers vom J. 1716 bildete. Die Gabe der Inspiration erlangten unter ihnen bis 1719 acht Mitglieder; diese durchzogen, um neue Mitglieder zu gewinnen, die ganze Wetterau u. das Wittgenstein'sche, die Schweiz u. ganz Westdeutschland, bes. Württemberg, die Pfalz, das Elsaß, auch Ost- u. Norddeutschland bis nach Sachsen u. Böhmen. So entstanden Gemeinden in Schwarzenau, Homrighausen bei Berleburg, Himbach mit Bergheim, Ronneburg, Düdelsheim, Büdingen, Birstein in der Wetterau, in Anwetler in der Pfalz, in Göppingen, Calw, Stuttgart, Heilbronn, Ulm, Memmingen in Württemberg, in Schaffhausen, Zürich, Bern, Dießbach, Amsoldingen in der Schweiz. Indeß schwand doch allmälig die Begeisterung, die meisten Werkzeuge wurden lau od. fielen ganz ab, u. seit 1719 war Rox das einzige Werkzeug, stand auch bis an seinen Tod (1749) an der Spitze der Gemeinden. Von dieser Zeit an begann der Verfall der I. Seit 1725 waren viele ehemalige Werkzeuge, wie Gruber, Gleim, Mackinet, mit andern Separatisten nach Germantown in Pennsylvanien ausgewandert, u. als 1730 die herrnhutischen Gemeinden entstanden, gerieth Rox mit Zinzendorf, mit dem er zuvor vertraut gelebt hatte, in Zwist, welcher der Sache der I. viel schadete. Auch zwischen Rox u. dem mystischen Separatisten Joh. Kaiser, welcher 1710 in Stuttgart eine philadelphische Gemeinde u. 1717 eine I. gestiftet hatte, entspann sich ein langer Streit 1740–48, u. 1745–50 verfielen die Gemeinden in der Wetterau u. in Herrnhaag in Schwärmerei Dennoch kamen in dieser Zeit des Verfalls auch neue Mitglieder zu der Gemeinde, namentlich der frühere Hofprediger Kämpf in Bruhl im Elsaß welcher bis an seinen Tod (1753) der Sache treu blieb; auch Ötinger u. Tersteegen neigten sich eine Zeit lang zur Inspiration. Seit 1816 lebte der Inspirationsgeist wieder auf, die alten Gemeinden in der Wetterau, der Pfalz u. im Elsaß reorganisirten sich, wanderten aber in Folge des Druckes der hessischen u. preußischen Obrigkeit, etwa 800 Seelen stark, 1841 nach Ebenezer bei Buffalo in New York aus, wo sie eine Gemeinde errichteten, die sich mit Ackerbau u. Tuchfabrikation beschäftigt, in theilweiser Gütergemeinschaft lebt, von dem Werkzeug Christ. Metz geleitet wird u. gegen 2000 Seelen beträgt. Auch nach Canada haben sie Colonien ausgesendet u. sich seit 1854 nach dem Staate Jowa gewendet.

Die I. haben die Separatisten zu Vorgängern u. die Herrnhuter zu Nachfolgern. Ihre Lehre stimmte mit der Evangelischen Kirche im Wesentlichen überein, nur verwarfen sie diese Kirche selbst mit der Taufe u. dem Abendmahl. Sie betrachteten sich als Streiter Christi, welche ein Leben voll Entbehrung u. Verläugnung führen müßten; in der Praxis folgten sie den Mystikern Schwenkfeld, I. Böhm, Weigel u. A.; die Ehe duldeten sie nur Der Inspiration, welche nur einzelne Begnadigte, die sogenannten Werkzeuge, empfingen, gingen verschiedene körperliche Empfindungen u. Bewegungen voraus, wie Brennen in der Brust, Beengung des Athmens, convulsivische Bewegungen der Arme, Beine, des Kopfes, Mundes etc., worauf in dem bewußtlosen somnambulen Zustande die sogenannte Einsprache u. sogleich auf diese die sogenannte [937] Aussprache, bestehend entweder nur in convulsivischen Bewegungen od. in kurzen abgebrochenen Worten, erfolgte; der Inhalt dieser Worte war meist eine Aufforderung zur Buße u. Besserung, oft auch die Enthüllung des Innern einer gegenwärtigen od. abwesenden Person. Ein Vorsteher u. zwei Mitälteste bildeten den Vorstand jeder Gemeinde u. hielten von Zeit zu Zeit Conferenzen unter einander. Ein besonderes Lehramt gab es nicht, sondern jeder Erwachsene, auch die aus dem weiblichen Geschlechte, mußten durch lautes Gebet zur Erbauung in den Versammlungen beitragen, außerdem sprach ein Werkzeug, wenn ein solches gegenwärtig war u. eine Aussprache hatte. War Letzteres nicht der Fall, so wurde aus der Heiligen Schrift od. aus der Sammlung der Aussprachen von Werkzeugen vorgelesen; auch hatten sie ein besonderes Gesangbuch, das Büding'sche. Die Hauptfesttage waren die Liebesmahle, auch Streitermahl genannt, bei denen in der Regel Aussprachen vorkamen; ihre Feier wurde mehrere Wochen zuvor angekündigt, u. an ihnen durften nur solche Theil nehmen, welche durch die Werkzeuge namentlich berufen worden waren. Eine Woche vorher war großer Fast-, Buß- u. Bettag, u. an dem Tage vor dem Liebesmahle fand noch eine Vorbereitung statt, bestehend in Gebet u. Sündenbekenntniß. Dem Liebesmahle unmittelbar voraus ging nach mehrstündigen Beten, Singen, Weissagen etc. die Fußwaschung, worauf ein Werkzeug das Weihegebet sprach u. der gemeinsame Genuß von Kuchen u. Wein folgte. Vgl. M. Göbel, Geschichte der wahren Inspirationsgemeinden von 1688–1854 (in der Zeitschrift für historische Theologie 1854 f.).

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 8. Altenburg 1859, S. 937-938.
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