Kabbăla

[204] Kabbăla (hebr., genauer Kabāla, d.i. die empfangene Lehre), 1) die Geheimlehre der Juden, welche sich bis zum 12. Jahrh. allmälig zu einer eigenen Schule u. Literatur ausgebildet hatte. Die ersten Elemente derselben zeigen sich schon im Persisch macedonischen Zeitalter; ihre Grundlage aber bildet die orientalische Emanationslehre. Obgleich bei Philo, im Talmud u. den Midraschim einzelne philosophisch-theologische Ausführungen vorkommen, so hat es doch eine eigentliche Literatur der K. bis auf die Zeit der späteren Gaonim (seit 800 n.Chr.) nicht gegeben. Die Geheimlehre selbst erstreckte sich auf die Lehre vom göttlichen Thronwagen u. die Schöpfungslehre; man stellte Erörterungen u. Betrachtungen über das Wesen, die Eigenschaften, Wirkungen (Namen) u. Offenbarungen Gottes u. des himmlischen Hofstaates, Sterne u. Engel, so wie über die erste u. fortwährende Entstehung u. Natur der Geschöpfe an. Hieran knüpften sich einzelne verwandte Stoffe, wie aus dem Gebiete der parsischen Dämonenlehre, Astrologie, Chiromantie, sympathetischen Heilkunde; ebenso Betrachtungen über den verborgenen Grund u. Zweck der Gesetze, welche jedoch ihrer Zeit bei den Strenggläubigen auf Widerstand stießen. Die Literatur der Geheimlehre wird durch das Buch Jezira (d.i. Buch der Schöpfung; hebr. u. deutsch von I. F. v. Meyer, Frankf. 1829) eröffnet, welches aus dem 8. Jahrh. stammt, aber bei der Vorliebe für Pseudepigraphie, welche die ganze Kabbalistische Literatur charakterisirt, dem berühmten R. Akiba zugeschrieben[204] wird. Philosophisch erläuterten dasselbe in Arabischer Sprache Saadja Gaon (st. 942), Isak Israeli (st. 940–50) u. Jakob Ben Nissim in Kairowan; in Hebräischer Sabbatai da Nola (um 946), Jehuda Ben Barsillai in der Provence (um 1130) u. Jehuda Halevi in Spanien (1140). Die vorzüglichsten unter den Schriften der älteren Geheimlehre sind außer einigen Kapiteln der Boraita des R. Elieser, die großen u. kleinen Hechalot, angeblich von R. Ismael, das alte, Salomon beigelegte Rasiel, der Midrasch Konen, das Alphabet des Akiba, so wie die verloren gegangenen Bücher Hajaschar u. Juchasin. Erst in Europa, u. zwar in der Provence u. Italien, wurde die jüdische Geheimlehre zur wirklichen K. gestempelt, die verschiedenen oben erwähnten Themen derselben zu einem systematischen Ganzen verknüpft u. dieses mit einer Art jüdischer Theosophie verwebt. Die K. zog seit Ende des 12. Jahrh. auch Exegese, Moral u. Philosophie in ihr Bereich u. gestaltete sich so zu einer mystischen Religionsphilosophie. Die ungemein reiche Kabbalistische Literatur der folgenden drei Jahrhunderte lehrt den geheimen Sinn der Heiligen Schrift u. ihrer Auslegungen (der Haggadas), die höhere Bedeutung der Gesetze, so wie durch Anwendung göttlicher Namen u. heiliger Sprüche das Wunderthum. Der Subjectivität war der größte Spielraum gelassen; deshalb war die Zahl der Systeme u. Auslegungen fast eben so groß als die der Verfasser. Die Bücher wurden den Ältesten Autoritäten untergeschoben. Als Begründung der neuen mystischen Literatur ist wahrscheinlich der Blinde zu betrachten, welchem das Buch Bahir zugeschrieben wird; ein Zeitgenosse von ihm in Deutschland ist Eleasar aus Worms (1220), welcher viele kabbalistische Schriften verfaßte. Es entstanden verschiedene Schulen, unter denen die Woharische die wichtigste ist. Letztere betrachtet gewissermaßen als ihre Bibel das berühmte Buch Sohar, welches dem Simeon Ben Jochai, einem Schüler des Akiba, zugeschrieben wird, jedenfalls aber dem Ende des 13. Jahrh. angehört u. in Aramäischer Sprache (welche jedoch in den verschiedenen Handschriften mehr od. weniger hebräisch gefärbt ist) wahrscheinlich von Abraham Abulafia (geb. 1240 in Tudela) verfaßt wurde Die Kabbalistische Literatur des 14. u. 15. Jahrh. besteht meist aus Bearbeitungen älterer Schriften; die Hauptthätigkeit gruppirte sich allmälig um den Sohar. Gegner der K. wurden einerseits die Philosophen, andererseits die Talmudisten. Von der Provence, wo die K. gegen Ende des 12. Jahrh. durch den Propheten Elias, einen jüdischen Gelehrten, geoffenbart worden sein soll, verbreitete sich dieselbe zunächst nach Italien u. von hier aus nach Norden u. Osten, auch später zu den Christen. Zu Anfang des 16. Jahrh. war sie bereits bis nach dem Orient u. Polen gedrungen. Namentlich durch die Schule des Isak Luria Asihkenasi in Safet (1534–70) trat die kabbalistische Lehre in ein neues Stadium; sie wurde populär gemacht u. drängte sich in alle Lebens- u. Literaturkreise ein. In Magie u. Buchstabenklauberei ausartend, wurde den Bibelbuchstaben u. Zeichen (Vocalen, Accenten, selbst Verzierungen) u. ihren masorethischen Regeln ein geheimer Sinn, den Gebeten u. Ceremonien eine höhere Intention untergelegt u. der damit verbundenen Ausübung eine höhere Wirkung für Angelegenheiten dieser u. jener Welt zugeschrieben. Dies führte zu den Schwärmereien der Sabbathianer u. der Chassidim (s.d.) in Polen. Die Kabbalistische Literatur erhielt mit dem 16. Jahrh. einen neuen Schwung; sie besteht in Commentaren der Bibel, der Bücher Jezira u. Sohar, in Supercommentaren über die Kabbalisten Nachmanides, Bechai Ben Ascher, Recanate, Ehlkitilla u. andere Ältere, so wie über die Schriften des genannten Luria, des Mose Corduero u. Chajim Vital. Seit Reuchlin beschäftigten sich auch christliche Gelehrte, z.B. Knorr von Rosenroth (Cabbala denudata, Frankf. 1677–84, 2 Bde.), mit der K. Die gründlichsten Kenner der K. unter den deutschen Juden sind gegenwärtig Zunz, Rappoport u.a. Jelinek. Vgl. Frank, La Kabbale, Par. 1844 (deutsch von Jelinek, Lpz. 1846). 2) Die Befugniß, welche der jüdische Schlächter (Schochet) nach abgelegter Prüfung u. praktischer Probe von einem Rabbiner erhält, u. ohne welche Niemand schlachten darf. 3) Ein wahrsagerisches Kunststück, wobei durch Berechnung der Buchstaben einer aufgestellten Frage ein Orakel gesucht wird.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 9. Altenburg 1860, S. 204-205.
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