Vorbericht

[189] Alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Besserung usw. 2. Tim. 3, 16. Dies ist eben das große Vorrecht und der besondere Charakter der Heiligen Schrift vor allen andern Büchern in der Welt, daß in allem, was Gott darin hat beschreiben lassen, etwas zu unserem Nutzen, zu unserer Lehre usw. aufgeschlossen liegt.

An einigen Orten liegt dies klarer und leuchtet fast einem jeden alsbald in die Augen, an andern Orten tiefer und verborgener in Gleichnissen, Rätseln und Vorbildern. Dem sei aber wie ihm wolle; soll der Ausspruch des Apostels Paulus wahr bleiben und die Schrift mir nicht umsonst geschrieben sein, so muß doch etwas zu meiner Lehre, zu meiner Besserung darin sein, und ich mag ein Gleichnis, eine Geschichte oder sonst einen Spruch, der von Mose oder von den Propheten, von Christus oder von seinen Aposteln geredet oder geschrieben ist, noch so lange wenden und drehen und noch so zierlich[189] und richtig auslegen und applizieren auf die Umstände und Menschen, worauf und zu welchen es gesagt oder geschrieben ist, ich muß doch endlich gern oder ungern solches auf meine Person deuten, oder ich habe keinen Nutzen, keine Lehre, keine Besserung darin, und es würde mir zu meiner Heiligung und Seligkeit ebensowenig helfen, als wenn es nicht in der Bibel stünde. Hieraus folgt

1. daß es eitel, unnütz, ja schädlich sei, derart die Schrift zu lesen und auszulegen, daß man nur immer bei dem Buchstaben, dem Geschichtlichen und den äußern Umständen stehenbleibt und darüber kritisiert und disputiert, ohne in seinen eignen Busen zu sehen, was zu unserm selbsteigenen Nutzen darin zu finden sei;

2. daß es gut und löblich sei, wenn man zwar erst die äußern Umstände und den buchstäblichen Sinn einer Stelle überhaupt einsieht, hernach aber und vornehmlich betrachtet, was uns in unsern besondern Umständen darin zur Lehre und Besserung dienen könne;

3. daß es aber endlich der kürzeste Weg und der allerfruchtbarste und beste Gebrauch der Schrift sei, alsbald alles fein auf sich selbst zu deuten, ein jeder auf seine Person, auf seinen Seelenzustand und auf seine Umstände, alles aber einfältig in der Furcht Gottes und nach Handleitung des Geistes der Wahrheit.

Zwar wendet man ein, es hätten solche Auslegungen der Schrift keine bindende Kraft in sich; aber welche Blindheit![190] Sollte denn das nicht weit kräftiger binden und das Gemüt überzeugen, was der Heilige Geist selber eindrückt, als was auf den leichten Sand der menschlichen Vernunft gegründet ist, da sich doch immer ein noch klügerer Kopf findet, der des andern Gründe und ganzes Gebäude (System) über den Haufen wirft? Oder sollte dabei Betrug und Gefahr sein können, wenn man sich nach des Herrn Jesus Verheißung von seinem Geiste selbst in alle Wahrheit einleiten läßt? Keineswegs!

So deuteten die Apostel stracks alles aufs Inwendige, und ohne Umschweif und weitläufige Beschreibungen vom Osterlamm, Beschneidung, Tempel und dergleichen äußern Dingen zu machen, sagten sie nur: Christus ist unser Osterlamm, 1. Kor. 5, 7; wir sind die Beschneidung, die wir Gott im Geiste dienen, Phil. 3, 3; ihr seid der Tempel des lebendigen Gottes, 2. Kor. 6, 16, usw.

Deshalb ist es, um die Heilige Schrift mit Nutzen zu lesen und zu verstehen, einem Christen nicht gerade nötig, in den Sprachen, der Geschichte, der Textkritik und dergleichen menschlichen Wissenschaften erfahren zu sein; vielmehr erhellt aus dem, was gesagt worden ist, daß eine einfältige, gottbegierige Seele ebenso geschickt, ja noch weit geschickter dazu sei als der gelehrteste und geübteste Kritikus, den seine gelehrten Auffassungen immer von sich selbst ab auf andere und auf die äußere Schale führen, worüber er dann oft so lange zu fragen und zu forschen hat, daß weder Zeit noch Raum übrigbleibt, an seine eigene Erbauung zu denken, während eine lernbegierige, innige Seele, die mit ihrem Hinten ein- und ausgeht, ohne so große Zurüstung zu machen, aller Orten ihre[191] Weide, Leben und Genüge finden kann, ohne sich um die Meinungen und Gründe der gelehrten Welt zu bekümmern.

In diesem Sinn hat man's in diesen wenigen Betrachtungen über einige Sprüche aus den Propheten zu machen getrachtet. Sie sind so kurz gefaßt, daß ein Leser noch vieles dabei weiter nachzusinnen Gelegenheit haben wird. Man will seine besonderen Gedanken niemanden aufdringen, noch weniger den alleinigen Sinn des Geistes in diesem oder jenem Spruch angeben; solches wäre Eigensinn und nicht der Sinn Gottes. Das Gesetz Gottes, sagt David, ist sehr weit, Psalm 119, 96. Wer in Betrachtung der Schrift nur die reine Liebe Gottes und des Nächsten zum Grund und Zweck hat, der hat den eigentlichen Sinn des Geistes getroffen, den Gott im Auge gehabt hat, als er die Bibel schreiben ließ, und darf sich weiter keinen Skrupel machen, wie ja auch der Herr Jesus sagt, daß dies der ganze Inhalt des Gesetzes und der Propheten sei. Mehr hievon zu sagen, läßt der enge Raum nicht zu. Gott wolle alles zum Segen gedeihen lassen!

Quelle:
Gerhard Tersteegen: Geistliches Blumengärtlein. Stuttgart 1956, S. 189-192.
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